4c O 20/23 – Tragwerk mit Taschensystem

Düsseldorfer Entscheidungen Nr. 3377

Landgericht Düsseldorf

Urteil vom 16. Mai 2024, Az. 4c O 20/23

  1.   I. Die Beklagte wird verurteilt,
    es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung vom Gericht festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu EUR 250.000,00, ersatzweise Ordnungshaft, oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, die an dem jeweiligen Geschäftsführer der Beklagten zu vollstrecken ist, zu unterlassen,
    Tragwerke mit einem Taschensystem für das vorübergehende Aufbewahren und Transportieren von Stückgut in flexiblen Taschen eines Taschensystems, bei denen die Taschen aus einem Streifenmaterial konfektioniert sind und das Streifenmaterial ein gestricktes Gewebe umfasst,
    in der Bundesrepublik Deutschland herzustellen, anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen,
    wenn das Streifenmaterial mehrlagig ist, dadurch gekennzeichnet, dass das Streifenmaterial drei verkettete Lagen umfasst, deren Lagen sich auf eine obere Lage, eine mittlere Lage und eine untere Lage beziehen und die obere Lage und die untere Lage ein flachgestricktes Gewebe umfassen.
    II. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
    III. Dieses Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 265.000,00 EUR hinsichtlich Ziffer I. und gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags hinsichtlich der Kosten (Ziffer II.) vorläufig vollstreckbar.
  2. Tatbestand
  3. Die Klägerin verfolgt aus Patentrecht gegen die Beklagte Ansprüche auf Unterlassung, Auskunftserteilung, Rechnungslegung und Vernichtung sowie Feststellung der Schadensersatzverpflichtung.
  4. Die Klägerin ist eingetragene und verfügungsberechtigte Inhaberin des Europäischen Patents EP 2 684 XXA (Anlage TW1, im Folgenden: Klagepatent). Unter Inanspruchnahme einer Priorität vom 10. Juli 2012 (BE 201200477) wurde das Klagepatent am 4. Juli 2013 angemeldet. Die Offenlegung der Anmeldung erfolgte unter dem 15. Januar 2014 und der Hinweis auf die Erteilung wurde am 2. März 2016 bekannt gemacht. Das Klagepatent steht mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Es betrifft ein Tragwerk, Taschensystem und Bahnmaterial zur Lagerung und zum Transport von Stückgut in flexiblen gestrickten Taschen.
  5. Anspruch 1 des Klagepatents lautet in englischer Verfahrenssprache:
  6. „Framework provided with a pouch system (10) for the temporary storage and transport of piece goods in flexible pouches (12) of a pouch system (10), wherein the pouches (12) are confectioned from a strip material (1), wherein the strip material (1) comprises a knitted fabric, wherein said strip material (1) is multi-layered, characterized in that said strip material (1) comprises three interlinked layers, which layers relate to an upper layer (2), a middle layer (3) and a lower layer (4) and that said upper layer (2) and said lower layer (3) comprise a flat knitted fabric.“
  7. In deutscher Übersetzung lautet er:
  8. „Tragwerk mit einem Taschensystem (10) für das vorübergehende Aufbewahren und Transportieren von Stückgut in flexiblen Taschen (12) eines Taschensystems (10), wobei die Taschen (12) aus einem Streifenmaterial (1) konfektioniert sind, wobei das Streifenmaterial (1) ein gestricktes Gewebe umfasst, wobei das Streifenmaterial (1) mehrlagig ist, dadurch gekennzeichnet, dass das Streifenmaterial (1) drei verkettete Lagen umfasst, deren Lagen sich auf eine obere Lage (2), eine mittlere Lage (3) und eine untere Lage (4) beziehen und dass die obere Lage (2) und die untere Lage (3) ein flachgestricktes Gewebe umfassen.“
  9. Wegen der weiteren „insbesondere“ geltend gemachten Ansprüche 2, 3, 4, 5, 6 und 7 des Klagepatents wird auf die Klagepatentschrift verwiesen.
  10. Die Klägerin ist ein in Belgien ansässiges Unternehmen, das auf die Entwicklung maßgeschneiderter, wiederverwendbarer Verpackungslösungen zum Schutz empfindlicher Komponenten spezialisiert ist.
  11. Die Beklagte ist ein in B (Deutschland) ansässiges Unternehmen, das auf die Entwicklung und Herstellung von hochwertigen Verpackungslösungen für die Automobil- und Flugzeugindustrie spezialisiert ist und unter anderem Transportlösungen wie Transport-Gefache anbietet. Sie unterhält die unter der Domain https://www.C.de/verpackung abrufbare Website, auf welcher „komplexe Transportlösungen“ beworben werden.
  12. Für die Herstellung von Mustern und der späteren Lieferung von Transport-Gefachen bedient sich die Beklagte unter anderem bei Konstruktion und Herstellung regelmäßig der Expertise der D sp.z.o.o, E, Polen.
  13. Sowohl im Jahr 2019 als auch im Jahr 2022 unterzog die Klägerin Transportgefache, die von der Beklagten stammen, einer Untersuchung, deren Ergebnis in den Anlagen TW 4, TW 5 und TW 6 fotografisch dargestellt ist (im Folgenden auch: angegriffene Ausführungsform). Untersucht wurden das Taschensystem 1 und das Taschensystem 2. Ersteres ist ein Prototyp aus dem Jahr 2019, letzteres ist jüngeren Datums. Hinsichtlich der weiteren Beschaffenheit der angegriffenen Ausführungsform wird auf die genannten Anlagen verwiesen, denen auch die nachfolgenden Abbildungen entnommen sind (Markierungen und Beschriftungen jeweils durch die Klägerin).
  14. (Anlage TW 4, S. 2 = Bl. 26 d. Anlagenbandes Klägerin)
  15. (Anlage TW 5, S. 2 = Bl. 28 d. Anlagenbandes Klägerin)
  16. (Anlage TW 6, S. 2 = Bl. 30 d. Anlagenbandes Klägerin)
  17. Die Beklagte hat der F GmbH, G, (im Folgenden „F“) die als Taschensystem 2 bezeichnete angegriffene Ausführungsform angeboten und geliefert, welche auch mit einer auf die Beklagte lautenden Etikettierung versehen ist. Ursprünglich hatte die Klägerin auch weitere auf der Webseite der Beklagten dargestellte Transportgefache angegriffen (Anlage TW 7). Diesen Angriff verfolgt die Klägerin nicht weiter.
  18. Sowohl die Klägerin als auch die Beklagte beliefern regelmäßig die F. Diese schreibt regelmäßig Transport-Gefache aus.
  19. Die Klägerin behauptet, sie habe von der Belieferung der F durch die Beklagte mit dem Taschensystem 2 im Rahmen einer weiteren Ausschreibung der F GmbH aus dem Juni 2021 (Ausschreibungsunterlagen siehe Anlage TW 8) Kenntnis erlangt. Das von der F in der Ausschreibung als Muster dargestellte Produkt der Beklagten sei der Klägerin nach telefonischer Rückfrage bei der F GmbH am 17. Februar 2022 übersandt worden.
  20. Die Klägerin ist der Ansicht, ihr stünden die geltend gemachten Ansprüche zu, da die angegriffene Ausführungsform wortsinngemäß unmittelbaren Gebrauch von der Lehre des Klagepatents mache. Der Beklagten stünden aus Ausschreibungen von F keinerlei Nutzungsrechte am Klagepatent zu. Das angerufene Gericht sei auch örtlich zuständig, da die Beklagte die angegriffenen Ausführungsformen bundesweit anbiete. Jedenfalls drohten im gesamten Bundesgebiet Verletzungshandlungen durch die Beklagte, da eine Verletzungshandlung in einem Bundesland eine Begehungsgefahr für ganz Deutschland begründe.
  21. Die Klägerin hat ursprünglich Unterlassung, Auskunft und Rechnungslegung, Vernichtung und Feststellung der Schadensersatzpflicht dem Grunde nach geltend gemacht. Die Kammer hat sich mit Beschluss vom 16. Mai 2024 für die Anträge auf Auskunft und Rechnungslegung, Vernichtung und Feststellung der Schadensersatzpflicht dem Grunde nach für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Landgericht Braunschweig verwiesen.
  22. Die Klägerin beantragt – soweit noch den am hiesigen Gericht anhängigen Streitgegenstand betreffend – ,
  23. I. die Beklagte zu verurteilen,
  24. 1. es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung vom Gericht festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu EUR 250.000,00, ersatzweise Ordnungshaft, oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, die an dem jeweiligen Geschäftsführer der Beklagten zu vollstrecken ist, zu unterlassen,
  25. Tragwerke mit einem Taschensystem für das vorübergehende Aufbewahren und Transportieren von Stückgut in flexiblen Taschen eines Taschensystems, bei denen die Taschen aus einem Streifenmaterial konfektioniert sind und das Streifenmaterial ein gestricktes Gewebe umfasst,
  26. in der Bundesrepublik Deutschland herzustellen, anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen,
    wenn das Streifenmaterial mehrlagig ist, dadurch gekennzeichnet, dass das Streifenmaterial drei verkettete Lagen umfasst, deren Lagen sich auf eine obere Lage, eine mittlere Lage und eine untere Lage beziehen und die obere Lage und die untere Lage ein flachgestricktes Gewebe umfassen;
  27. insbesondere wenn
  28. das gestrickte Gewebe ein gestricktes Polyestergewebe betrifft;
  29. und/oder das gestrickte Gewebe Polyesterfasern aus vollverstrecktem Garn umfasst;
  30. und/oder das gestrickte Gewebe ein rippgestricktes Gewebe betrifft;
  31. und/oder die freie Seite der oberen Lage und die freie Seite der unteren Lage einer Pilling-Aufbereitung unterzogen wurde;
  32. und/oder die mittlere Lage ein Gewebe umfasst;
  33. und/oder sich das Gewebe auf ein Polyestergewebe bezieht;
  34. Die Beklagte beantragt,
  35. die Klage abzuweisen.
  36. Die Beklagte hält das angerufene Gericht für örtlich unzuständig, da keine Lieferungen nach Nordrhein-Westfalen erfolgt seien. Zudem sei die Klage bereits mangels hinreichend substantiierten Vorbringens unschlüssig und damit unbegründet.
  37. Weiter behauptet die Beklagte, die Klägerin habe entsprechende Ausschreibungen der F begleitet und entsprechende Musterbehälter zur Verfügung gestellt. Hinsichtlich der von der Beklagten vorgetragenen Ausgestaltung der Ausschreibungen wird auf die Anlagen B 1 bis B 6 verwiesen. Sie ist der Ansicht, aus der Mitwirkung der Klägerin bei den Ausschreibungen ergebe sich, dass diese aus einer klagepatentgemäßen Ausgestaltung entsprechender Produkte, wie sie in den Ausschreibungen der F verlangt werde, keine Rechte herleiten könne. Die Klägerin habe der F gestattet, derlei Gefache ausschreiben und herstellen zu lassen. Nunmehr patentrechtliche Ansprüche geltend zu machen, sei rechtsmissbräuchlich.
  38. Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 28. Juli 2023 hinsichtlich etwaiger Patentverletzungen aus dem Jahr 2019 die Einrede der Verjährung erhoben sowie der D sp.z.o.o, E, Polen, den Streit verkündet. Letztere hat sich zur Streitverkündung nicht erklärt.
  39. Die Beklagte hat zudem mit nachgelassenem Schriftsatz vom 25. April 2024 zum Klägerschriftsatz vom 09. April 2024 teilweise Stellung genommen. Insbesondere behauptet sie, die Beklagte habe der F kein Tragwerk geliefert. Sie ist zudem der Ansicht, die Abbildung in TW 4 sei nicht unter das Klagepatent zu subsumieren, da kein Tragwerk identifizierbar sei. Der obere Gegenstand sei zudem von den Taschen separiert und letztere hälftig bedeckt.
  40. Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die zur Akte gereichten Schriftstücke nebst Anlagen sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 11. April 2024 Bezug genommen.
  41. Entscheidungsgründe
  42. Die Klage ist – nach Verweisung der nicht die Unterlassung betreffenden Streitgegenstände mit Beschluss vom 16. Mai 2024 – zulässig und begründet.
  43. I.

  44. Die Klage ist zulässig. Das angerufene Landgericht Düsseldorf ist örtlich für den geltend gemachten prozessualen Anspruch auf Unterlassung zuständig.
  45. Die Klägerin hat vorliegend ursprünglich mehrere Streitgegenstände im Wege der objektiven Klagehäufung geltend gemacht. Streitgegenstand ist der vom materiell-rechtlichen Anspruch zu unterscheidende prozessuale Anspruch (Zöller/ G. Vollkommer/Geimer, ZPO, 35. Aufl. 2023, Einl. Rn. 63). Der Streitgegenstand wird zweigliedrig unter Würdigung der gestellten Anträge und des zu ihrer Begründung vorgetragenen Lebenssachverhalts bestimmt (BGH NJW-RR 2012, 872, 873 Rn. 11 – Rohrreinigungsdüse II). Der Streitgegenstand der Patentverletzungsklage wird demgemäß – in Ergänzung zum konkret gestellten Antrag – regelmäßig im Wesentlichen durch die üblicherweise als angegriffene Ausführungsform bezeichnete tatsächliche Ausgestaltung eines bestimmten Produkts im Hinblick auf die Merkmale des geltend gemachten Patentanspruchs bestimmt (BGH NJW-RR 2023, 872, 873 Rn. 19 – Rohrreinigungsdüse II; auch bei Kerngleichheit sind mehrere Streitgegenstände gegeben, BGHZ 166, 253 259 ff.; vgl. MüKoZPO/Gruber, 6. Aufl. 2020, ZPO § 890 Rn. 12; Kühnen, Handbuch d. Patentverletzung, 16. Aufl. 2024, Kap. H Rn. 187 Fn. 361). Dabei ist grundsätzlich jede angegriffene Ausführungsform als eigener Lebenssachverhalt und damit Streitgegenstand anzusehen, wobei maßgeblich ist, ob der Kläger, der mit seiner Klage den Streitgegenstand bestimmt, hinsichtlich der angegriffenen Ausführungsformen einheitlich eine Verletzung geltend macht (dann ein Streitgegenstand), oder ob die Unterschiede zwischen den angegriffenen Ausführungsformen auch in der Verletzungssubsumption des Klägers zum Ausdruck kommen (dann mehrere Streitgegenstände) (vgl. BGH, NJW-RR 2012, 872, 874 Rn. 20-23 – Rohrreinigungsdüse II). Gemessen an diesem Maßstab macht die Klägerin vorliegend sämtliche angegriffenen Ausführungsformen als einheitlichen Lebenssachverhalt geltend, da sie in ihrer Verletzungssubsumption nicht unterscheidet und eine hinsichtlich der Merkmalsverwirklichung identische Beschaffenheit der Ausführungsformen unterstellt. Eine Klagehäufung ergab sich deshalb vorliegend für die jeweils geltend gemachten Anträge, also Unterlassung, Auskunft, Rechnungslegung, Vernichtung sowie Feststellung der Schadensersatzpflicht dem Grunde nach, die bis auf den hier zu entscheidenden Streitgegenstand der Unterlassung mit Beschluss vom 16. Mai 2024 verwiesen sind, nicht jedoch für die angegriffenen Taschensysteme.
  46. Da die Klägerin nunmehr allein die angegriffene Ausführungsform, welche an F versandt worden ist, angreift, ist insoweit nur auf diese, nicht hingegen auf die Bewerbung im Internet (Anlage TW 7) abzustellen.
  47. Die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts ist für jeden Streitgegenstand gesondert zu prüfen, § 260 ZPO.
  48. Das angerufene Gericht ist hinsichtlich des geltend gemachten Unterlassungsantrags nach § 32 ZPO örtlich zuständig. Dabei ist nicht entscheidend, ob eine behauptete vergangene Verletzungshandlung sich in Nordrhein-Westfalen und damit im Bezirk des angerufenen Landgerichts ereignet hat. Maßgeblich für die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts nach § 32 ZPO ist vielmehr, ob im Bezirk des angerufenen Gerichts eine Verletzungshandlung droht. Dies ist nach dem Klägervortrag vorliegend der Fall. Denn bei einem bundesweit agierenden Unternehmen begründen Verletzungshandlungen in einem Bundesland zumindest auch die Gefahr von entsprechenden Handlungen im gesamten Bundesgebiet (LG Düsseldorf, Az. 4a O 277/10, BeckRS 2011, 25648).
  49. II.
  50. Die Klage ist begründet.
  51. 1.
    Das Klagepatent betrifft einen Rahmen, ein Taschensystem und Bahnmaterial zur Lagerung und zum Transport von Stückgut in flexiblen gestrickten Taschen.
  52. Stückgut, so das Klagepatent (Abs. [0002]), werde oftmals in Taschen („pouches“) gelagert und transportiert, welche über ein Taschensystem in einem Gestell aufgehängt oder bereitgestellt werden. Zweck sei, dass das Stückgut schnell und einfach verpackt und aus der Vorrichtung entnommen werden könne. Diese Taschen könnten zudem im unbeladenen Zustand platzsparend gefaltet werden und leisteten hierdurch einen Beitrag zur Senkung der Transportkosten. Sie würden aus einem Streifenmaterial gefertigt und seien daher flexibel. Ein solches Taschensystem zum Einbau in einen Transportbehälter oder Tragwerk („framework“) beschreibe die Druckschrift US2008/073301A1 (Abs. [0003]).
  53. Es bestehe jedoch gegenüber dem Stand der Technik der Bedarf an einem verbesserten Tragwerk, bei welchem das Streifenmaterial weicher, flexibel, leichter, fester, ausreichend preiswert und haltbarer als das bekannte Streifenmaterial für ein Taschensystem in/auf einem Tragwerk zum Lagern und Transportieren von Stückgütern sei (Abs. [0004]).
  54. Das Klagepatent stellt sich daher die Aufgabe, ein verbessertes Tragwerk zur Lösung zumindest eines der vorgenannten Nachteile zum vorbekannten Lagern und Transportieren von Stückgütern in Taschen bereitzustellen.
  55. Zur Lösung dieser Aufgabe schlägt das Klagepatent eine Vorrichtung mit folgenden Merkmalen vor:
  56. 1. Tragwerk mit einem Taschensystem für das vorübergehende Aufbewahren und Transportieren von Stückgut in flexiblen Taschen eines Taschensystems, bei dem Framework provided with a pouch system (10) for the temporary storage and transport of piece goods in flexible pouches (12) of a pouch system (10),
    1.1 die Taschen aus einem Streifenmaterial konfektioniert sind, wherein the pouches (12) are confectioned from a strip material (1),
    1.2 das Streifenmaterial ein gestricktes Gewebe umfasst, wherein the strip material (1) comprises a knitted fabric,
    1.3 das Streifenmaterial mehrlagig ist. wherein said strip material (1) is multi-layered,
    2. Das Streifenmaterial umfasst drei verkettete Lagen. characterized in that said strip material (1) comprises three interlinked layers,
    3. Die Lagen beziehen sich auf eine obere Lage, eine mittlere Lage und eine untere Lage. which layers relate to an upper layer (2), a middle layer (3) and a lower layer (4)
    4. Die obere Lage und die untere Lage umfassen ein flachgestricktes Gewebe. and that said upper layer (2) and said lower layer (3) comprise a flat knitted fabric.

  57. Die Auslegung der Merkmale des geltend gemachten Anspruchs des Klagepatents steht zwischen den Parteien nicht im Streit.
  58. 2.
    Die angegriffene Ausführungsform macht Gebrauch von der Lehre des Klagepatents.
  59. Das Taschensystem 2 verwirklicht alle Merkmale der klagepatentgemäßen Lehre unmittelbar wortsinngemäß.
  60. Taschensystem 2 ist beschaffen wie in den folgenden Abbildungen dargestellt (jeweils den Anlagen TW 4, TW 5 und TW 6 entnommen, Kennzeichnungen jeweils durch die Klägerin):
  61. (TW 4, S. 2)
  62. (TW 5, S. 2)
  63. (TW 6, S. 2)
  64. Die Ausführungsform weist ein Taschensystem mit flexiblen Taschen auf. Damit ist Merkmal 1. verwirklicht. Die Taschen des Taschensystems sind auch aus einem Streifenmaterial konfektioniert, Merkmal 1.1 und 2. Dieses Streifenmaterial umfasst auch drei Lagen, welche als obere, mittlere und untere aufgefasst werden können, Merkmal 1.3 und 3. Schließlich sind die beiden äußeren Lagen des Streifenmaterials als flachgestrickte Gewebe ausgebildet, Merkmal 1.2 und 4.
  65. Soweit die Beklagte vorliegend bestritten hat, dass die abgebildete graue Box, welche Tragwerk im Sinne der klagepatentgemäßen Lehre ist, von ihr stammt, ist dieser Vortrag nicht geeignet, das Vorliegen einer unmittelbaren Patentverletzung zu beseitigen.
  66. Es ist allgemein anerkannt, dass bei einem Kombinationspatent eine Verletzungshandlung im Regelfall nur vorliegt, wenn die Gesamtkombination geliefert wird. Wer nur einzelne Komponenten einer Gesamtvorrichtung liefert und damit nicht alle Anspruchsmerkmale verwirklicht, kann hingegen grundsätzlich nur wegen mittelbarer Patentverletzung haftbar sein, weil andernfalls die gesetzliche Regelung des § 10 PatG umgangen werden würde und weil eine Unterkombination nicht geschützt ist (BGH, GRUR 2007, 1059 – Zerfallszeitmessgerät; OLG Düsseldorf, Urt. v. 13.2.2014 – 2 U 93/12, BeckRS 2014, 05736 – Folientransfermaschine; Kühnen, HdB d. Patentverletzung, 16. Aufl., Kap. A Rn. 158 f., jew. mwN).
  67. Gleichwohl kommt bei einem Kombinationspatent ausnahmsweise eine unmittelbare Patentverletzung in Betracht, wenn erst die Zutat eines Dritten die patentgeschützte Kombination ergibt. Das setzt allerdings voraus, dass bei der Lieferung eines Teils einer Gesamtvorrichtung das angebotene oder gelieferte Teil bereits alle wesentlichen Merkmale des geschützten Erfindungsgedankens aufweist und es zu seiner Vollendung allenfalls noch der Hinzufügung selbstverständlicher Zutaten bedarf, die für die im Patent unter Schutz gestellte technische Lehre unbedeutend sind, weil sich in ihnen die eigentliche Erfindung nicht verkörpert hat (für das PatG 1968: BGH, GRUR 1977, 250 – Kunststoffhohlprofil; BGH, GRUR 1982,  65 – Rigg; für das aktuelle PatG 1981: OLG Düsseldorf, InstGE 13, 78 – Lungenfunktionsmessgerät, mwN auch zur Gegenansicht; OLG Düsseldorf, Urt. v. 13.2.2014 – 2 U 93/12, BeckRS 2014, 05736 – Folientransfermaschine).
  68. Dies ergibt sich bei einer wertenden Betrachtung des Sachverhalts unter Zurechnungsgesichtspunkten: Würde ein Dritter die fehlende Zutat liefern, so läge eine gemeinsam begangene unmittelbare Patentverletzung vor. Damit wertungsgemäß vergleichbar ist es jedoch, wenn sich der Abnehmer bereits im Besitz der fehlenden (Allerwelts)Zutat befindet oder er sich diese im Anschluss an die fragliche Lieferung mit Sicherheit besorgen wird, um sie mit dem gelieferten Gegenstand zur patentgeschützten Gesamtvorrichtung zu kombinieren. Der Handelnde macht sich dann mit seiner Lieferung die Vor- oder Nacharbeit seines Abnehmers bewusst zu Eigen, was es rechtfertigt, ihm diese Vor- oder Nacharbeit so zuzurechnen, als hätte er die Zutat selbst mitgeliefert (OLG Düsseldorf, InstGE 13, 78 – Lungenfunktionsmessgerät). Das gilt ebenso, wenn ein letzter Herstellungsakt zwar vom Abnehmer vollzogen, er dabei aber als Werkzeug von dem Liefernden gesteuert wird, indem er ihm zB entsprechende Anweisungen und Hilfsmittel an die Hand gibt (OLG Düsseldorf, Urt. v. 24.2.2011 – 2 U 102/09, BeckRS 2011, 08368). Aus den vorstehenden Erwägungen ergeben sich gleichzeitig die Grenzen, unter denen dem Liefernden ergänzende Maßnahmen des Abnehmers zur Herstellung einer patentgeschützten Gesamtvorrichtung als unmittelbare Patentverletzung zurechenbar sein können: Es muss sich um eine für den Erfindungsgedanken nebensächliche Zutat handeln und der Abnehmer muss sie der Vorrichtung selbstverständlich und mit Sicherheit hinzufügen.
  69. Entsprechendes kann hier festgestellt werden. Das – jedenfalls – gelieferte Taschensystem ist offenkundig zur Verwendung mit einem entsprechenden Tragwerk bestimmt. Zugleich ist die Ausgestaltung des Tragwerks für die Lehre des Klagepatents, welches ein verbessertes Streifenmaterial für ein Taschensystem lehrt, nebensächlich.
  70. Aus diesem Grund ist es auch unerheblich, dass das auf der Abbildung TW 4 abgebildete Tragwerk nur hälftig zu sehen ist. Der von der Klägerin vorgetragene nähere konstruktive Aufbau ist von der Beklagten zudem nicht substantiiert bestritten worden.
  71. Eine Verletzung des Klagepatents durch die Beklagte kann damit festgestellt werden. Die Beklagte hat zudem die angegriffene Ausführungsform der F angeboten und ein Muster geliefert. Dies hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 25. April 2024 auch nicht bestritten. Sie hat vielmehr lediglich Sachvortrag zur Ausschreibung TW 8 sowie zum Tragwerk geleistet und den Empfang des Taschensystems durch die Klägerin bestritten, nicht aber den im Schriftsatz vom 09. April 2024 erfolgten Klägervortrag, dass die in TW 4 abgebildete abgegriffene Ausführungsform von ihr stammt.
  72. 3.
    Hinsichtlich des Taschensystems 1 können vor diesem Hintergrund weitere Ausführungen unterbleiben, zumal sich die Beklagte gegenüber der Klägerin insoweit auf Verjährung berufen hat und eine Untersuchung des Taschensystems 1 durch die Klägerin bereits im Jahr 2019 erfolgte, §§ §§ 214 Abs. 1, 195, 199, 188 Abs. 2 Alt. 2 BGB.
  73. 4.
    Die Rechte der Klägerin als Inhaberin des Klagepatents sind nicht durch Erschöpfung ausgeschlossen.
  74. Zwar kann das Patentrecht durch Erschöpfung ausgeschlossen sein (BGH GRUR 1997, 116, 117 – Prospekthalter; Benkard PatG/Scharen, 12. Aufl. 2023, PatG § 9 Rn. 16). Das Ausschließlichkeitsrecht aus einem Patent, das ein Erzeugnis betrifft, ist hinsichtlich solcher Exemplare des geschützten Erzeugnisses erschöpft, die vom Patentinhaber oder mit seiner Zustimmung in Verkehr gebracht worden sind. Die rechtmäßigen Erwerber wie auch diesen nachfolgende Dritterwerber sind befugt, diese Exemplare bestimmungsgemäß zu gebrauchen, an Dritte zu veräußern oder zu einem dieser Zwecke Dritten anzubieten (BGH GRUR 2023, 474, 477 Rz. 44 – CQI-Bericht II; GRUR 2023, 47, 50 Rz. 41 – Scheibenbremse II). Die bloße Duldung durch den Patentinhaber reicht nicht (Ann, PatR, 8. Aufl. 2022, § 33 Rn. 288; Leßmann GRUR 2000, 741, 743; Benkard PatG/Scharen, 12. Aufl. 2023, PatG § 9 Rn. 23). Die Erschöpfung ist zudem streng auf das jeweilige Erzeugnis beschränkt, welches in Verkehr gebracht wird (BeckOK PatR/Ensthaler/Gollrad, 31. Ed. 15.7.2023, PatG § 9 Rn. 77).
  75. Gemessen an diesem Maßstab hat die Klägerin durch Begleitung der Ausschreibung durch die Firma F – unterstellt, dies sei so erfolgt wie von der Beklagten vorgetragen – dem Inverkehrbringen von Produkten durch die Beklagte nicht zugestimmt.
  76. Aufgrund der Beschränkung der Wirkungen der Erschöpfung auf das jeweilige Erzeugnis kommt eine Erschöpfung durch das Bereitstellen des Musterexemplars durch die Klägerin nicht in Betracht. Auch aus den von der Beklagten vorgelegten Ausschreibungsunterlagen, exemplarisch Anlagen B1 bis B6, lässt sich keine Zustimmung zur Nutzung der klagepatentgemäßen Lehre entnehmen, selbst wenn die F diese Unterlagen mit der Klägerin abgestimmt haben sollte. Sämtliche vorgelegten Ausschreibungsunterlagen enthalten den Passus, dass die Produkte frei von entsprechenden Schutzrechten zu liefern sind. Auch soweit in den Unterlagen das Material Royal Fabric als Anforderung genannt ist, folgt stets der Zusatz „oder gleichwertig“ (Anlage B 2 S. 9 = Bl. 23 Anlagenband Beklagte, Anlage B 6 S. 9 = Bl. 94 Anlagenband Beklagte). Ob ein bereitgestelltes Muster alle Merkmale der klagepatentgemäßen Lehre erfüllt, ist unerheblich, da es ausweislich der Ausschreibungsunterlagen dem Vertragspartner selbst oblag, die Freiheit von Schutzrechten herzustellen. Vor diesem Hintergrund ist die Annahme der Rechtsmissbräuchlichkeit des klägerischen Vorgehens fernliegend.
  77. 5.
    Da die Beklagte das Klagepatent hinsichtlich der Ausführungsform widerrechtlich benutzt hat, ist sie gemäß Art. 64 Abs. 1 EPÜ, § 139 Abs. 1 PatG zur Unterlassung der Benutzungshandlungen verpflichtet.
  78. III.
  79. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 1, S. 2 ZPO, diejenige über die Kosten aus § 91 ZPO.
  80. Der Streitwert für den vorliegend zu entscheidenden prozessualen Anspruch auf Unterlassung wird auf 265.000,00 EUR festgesetzt, § 51 Abs. 1 GKG.

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