Düsseldorfer Entscheidungen Nr. 3344
Oberlandesgericht Düsseldorf
Urteil vom 29. Februar 2024, I- 2 U 6/20
Vorinstanz: 4a O 40/19
- I. Auf die Berufung der Beklagten wird das am 28.01.2020 verkündete Urteil der 4a Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf abgeändert. Die Klage wird abgewiesen.
- II. Die Kosten des Rechtsstreits (beider Instanzen) werden der Klägerin auferlegt.
- III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
- Die Klägerin kann die Zwangsvollstreckung der Beklagten wegen ihrer Kosten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Zwangsvollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.
- IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
- V. Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 250.000,00 EUR festgesetzt.
- Gründe:
- I.
- Die Klägerin ist eingetragene Inhaberin des auch mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland erteilten und in englischer Verfahrenssprache veröffentlichten europäischen Patents 2 425 XXA (Klagepatent, Anl. K 1; deutsche Übersetzung Anl. K 1a). Aus diesem Schutzrecht nimmt sie die Beklagten auf Unterlassung, Rechnungslegung, Auskunftserteilung, Vernichtung und Rückruf der als patentverletzend angegriffenen Gegenstände sowie Feststellung ihrer Verpflichtung zum Schadensersatz in Anspruch.
- Die dem Klagepatent zugrunde liegende Anmeldung wurde am 23.04.2010 unter Inanspruchnahme einer finnischen Priorität vom 29.04.2009 eingereicht. Der Hinweis auf die Patenterteilung wurde am 26.12.2018 im Patentblatt bekannt gemacht. Das Klagepatent steht in Kraft. Sein deutscher Teil wird beim Deutschen Patent- und Markenamt unter der Registernummer DE 60 2010 056 XXB.7 geführt (vgl. Anl. K 2).
- Das Klagepatent betrifft eine Vorrichtung und ein Verfahren zur Renovierung eines Rohrsystems.
- Wegen des Wortlauts der erteilten Patentansprüche 1 und 11, die die Klägerin in erster Instanz zuletzt in Kombination geltend gemacht hat, wird auf die Klagepatentschrift (Anl. K 1) verwiesen.
- Auf einen von dritter Seite erhobenen Einspruch hat die Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamtes das Klagepatent – nach Erlass des landgerichtlichen Urteils – durch Entscheidung vom 23.12.2021 eingeschränkt aufrechterhalten (vgl. Anl. K 21; dt. Übersetzung: Anl. K 21a). Gegen diese Entscheidung haben sowohl die Klägerin als auch die Einsprechenden Beschwerde eingelegt. Durch Entscheidung vom 28.09.2023 hat die Technische Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes das Klagepatent gemäß einem Hilfsantrag 2 der Klägerin in eingeschränktem Umfang aufrechterhalten. Der von der Technischen Beschwerdekammer aufrechterhaltene Patentanspruch 1, der zusätzlich die Merkmale der erteilten Unteransprüche 3 und 11 aufweist, lautet in der Verfahrenssprache wie folgt (vgl. Protokoll der Beschwerdekammer v. 28.09.2023, abrufbar über https://register.epo.org/application?tab=doclist&number=EP10769374&lng=de; von der Technischen Beschwerdekammer vorgenommenen Änderungen durch Unterstreichung hervorgehoben):
-
„A machining device (100) for machining the material of a pipe system comprising a joint area between a pipe having a smaller inner diameter and a pipe having a larger inner diameter, characterized in that the devices [sic] comprises:
a. protruding parts (102) adapted to position the device or at least a part of it inside the pipe having smaller diameter of the pipe system, wherein said protruding part (102) comprises a rough sanding surface (106),
b. steerable, actuator operable means (106 and/or 201) for removing material from the joint area of the pipe system,
c. steering device (301) for controlling the direction of the machining device in relation to the longitudinal axis of the pipe having thinner diameter in the pipe system while removing material from the edges of a hole made to the joint area of the pipe system and
d. a bendable torque transmitting member (105).” - Die deutsche Übersetzung dieses Patentanspruchs lautet wie folgt:
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„Bearbeitungsvorrichtung (100) zum maschinellen Bearbeiten eines Rohrsystems, das einen Verbindungsbereich zwischen einem Rohr mit einem kleineren Innendurchmesser und einem Rohr mit einem größeren Innendurchmesser umfasst, dadurch gekennzeichnet, dass die Vorrichtung umfasst:
a) vorstehende Teile (102), die zum Positionieren der Vorrichtung oder zumindest eines Teils davon innerhalb des Rohrs mit kleinerem Innendurchmesser des Rohrsystems geeignet sind, wobei das genannte vorstehende Teil (102) eine raue Schleifoberfläche (106) umfasst,
b) lenkbare, durch Stellglied betreibbare Mittel (106 und/oder 201) zum Abtragen von Material aus dem Verbindungsbereich des Rohrsystems,
c) eine Lenkvorrichtung (301) zum Steuern der Richtung der Bearbeitungsvorrichtung bezüglich der Längsachse des Rohrs mit kleinerem Durchmesser im Rohrsystem während des Abtragens von Material von den Kanten eines Lochs, das im Verbindungsbereich des Rohrsystems hergestellt ist und
d) ein biegbares Momentübertragungsglied (105).“ - Die nachfolgend wiedergegebenen Zeichnungen stammen aus der Klagepatentschrift. Figur 1 zeigt nach den Angaben der Klagepatentschrift eine Bearbeitungsvorrichtung einer Ausführungsform der Erfindung, Figur 3a zeigt eine Bearbeitungsvorrichtung einer weiteren Ausführungsform, die eine Lenkvorrichtung umfasst, und die Figuren 4a bis 4d zeigen ein beispielhaftes Verfahren zur Verwendung der Bearbeitungsvorrichtung einiger Ausführungsformen der Erfindung zu maschinellen Bearbeiten eines Verbindungsbereichs eines Rohrsystems.
- Die in Finnland geschäftsansässige Beklagte zu 1), deren CEO der Beklagte zu 2) ist, stellte auf der Messe B 2019 in C Bearbeitungsvorrichtungen, bestehend aus Spindeln („RSP“) und dazu passenden Schleifbändern („SPB“), aus (angegriffene Ausführungsformen). Die angegriffenen Ausführungsformen bietet die Beklagte zu 1) auch auf ihrer Internetseite an (Anl. K 5). Die Beklagte zu 3), bei der es sich um eine Vertriebspartnerin der Beklagten zu 1) in Deutschland handelt, bietet die angegriffenen Ausführungsformen ebenfalls auf ihrer Internetseite an (Anl. K 6; Anl. K 14, S. 32-35).
- Die Klägerin hat zu den angegriffenen Ausführungsformen u.a. als Anl. K 5 einen Auszug der Website der Beklagten zu 1) samt einem Produktdatenblatt („D“) sowie als Anl. K 11 einen Produktkatalog der Beklagten zu 1. vorgelegt. Als Anl. K 33 hat sie ferner einen Katalog der Beklagten zu 3) („E“) überreicht. Wegen der Einzelheiten dieser Produktunterlagen wird auf die vorbezeichneten Anlagen, insbesondere auf die Seiten 33 bis 35 der Anl. K 5 und die dort aufgeführten „F“ (S. 33) und „G“ (S. 34) sowie „H“ (S. 35) und „I“ (S. 35) verwiesen.
- Die angegriffenen Ausführungsformen bestehen aus einem metallenen Sandpapierhalter, an dem vier Sandpapierblätter befestigt werden und der mittels einer biegbar ausgestalteten Verbindung zu einem Antriebsmittel in Rotation versetzt werden kann. Es existieren verschiedene Sandpapierhalter, die mit verschieden Sandpapiergrößen kombiniert werden können (vgl. im Einzelnen Anl. K 5). Die nachfolgend wiedergegebene Abbildung, die der Anl. K 5 (S. 3) entnommenen ist, zeigt beispielhaft eine angegriffene Ausführungsform:
- Die Klägerin, die ihre Klage zunächst (allein) auf den erteilten Patentanspruch 1 gestützt und u.a. den Unteranspruch 11 nur „insbesondere“ geltend gemacht hat, sieht im Angebot und Vertrieb der angegriffenen Ausführungsformen eine Verletzung des Klagepatents. Sie hat vor dem Landgericht geltend gemacht, dass die angegriffenen Bearbeitungsvorrichtungen sämtliche Merkmale der erteilten Patentansprüche 1 und 11 wortsinngemäß verwirklichen. Insbesondere verfügten diese in Gestalt ihrer Schleifbänder auch über eine klagepatentgemäße „Lenkvorrichtung“.
- Die Beklagten, die erstinstanzlich Klageabweisung und hilfsweise Aussetzung des Rechtsstreits bis zur erstinstanzlichen Entscheidung über den Einspruch gegen das Klagepatent beantragt haben, haben eine Verletzung des Klagepatents in Abrede gestellt. Sie haben geltend gemacht, dass die angegriffenen Ausführungsformen insbesondere keine klagepatentgemäße „Lenkvorrichtung“ aufweisen. Außerdem werde sich das Klagepatent im Einspruchsverfahren als nicht rechtsbeständig erweisen.
- Durch Urteil vom 28.01.2020 (nachfolgend: LGU) hat das Landgericht der Klage nach den zuletzt gestellten Klageanträgen entsprochen, wobei es in der Sache wie folgt erkannt hat:
-
„I.
Die Beklagten werden verurteilt, -
1.
es bei Meldung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung vom Gericht festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu EUR 250.000,- – ersatzweise Ordnungshaft – oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlungen bis zu insgesamt zwei Jahren, wobei die Ordnungshaft für die Beklagten zu 1) und 3) an ihrem jeweiligen gesetzlichen Vertretern zu vollziehen ist, - zu unterlassen,
- Bearbeitungsvorrichtungen zum maschinellen Bearbeiten eines Rohrsystems, das einen Verbindungsbereich zwischen einem Rohr mit einem kleineren Innendurchmesser und einem Rohr mit einem größeren Innendurchmesser umfasst, dadurch gekennzeichnet, dass die Vorrichtung umfasst:
-
a) vorstehende Teile, die zum Positionieren der Vorrichtung oder zumindest eines Teils davon innerhalb des Rohrs mit kleinerem Innendurchmesser des Rohrsystems geeignet sind,
b) lenkbare, durch Stellglied betreibbare Mittel zum Abtragen von Material aus dem Verbindungsbereich des Rohrsystems,
c) eine Lenkvorrichtung zum Steuern der Richtung der Bearbeitungsvorrichtung bezüglich der Längsachse des Rohrs mit kleinerem Durchmesser im Rohrsystem während des Abtragens von Material von den Kanten eines Lochs, das im Verbindungsbereich des Rohrsystems hergestellt ist, und
d) ein biegbares Momentübertragungsglied, - in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken einzuführen oder zu besitzen;
-
2.
der Klägerin darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie (die Beklagten) die unter Ziffer I.1 bezeichneten Handlungen seit dem 26.12.2018 begangen haben, und zwar unter Angabe -
a) der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,
b) der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,
c) der Menge der hergestellten, ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden, - wobei zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Belege (nämlich Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in Kopie vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;
-
3.
der Klägerin darüber Rechnung zu legen, in welchem Umfang sie (die Beklagten) die unter Ziffer I.1 bezeichneten Handlungen seit dem 26.01.2019 begangen haben, und zwar unter Angabe -
a) der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie den Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer,
b) der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie den Namen und Anschriften der gewerblichen Angebotsempfänger,
c) nur die Beklagten zu 1) und 2): der einzelnen Gebrauchshandlungen, aufgeschlüsselt nach Gebrauchsumfang, -zeiten und -preisen und der Namen und Anschriften der Leistungsempfänger,
d) der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet,
e) der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten und des erzielten Gewinns, - wobei die Beklagten zum Nachweis der Angaben zu a) – mit Ausnahme der Lieferzeiten – entsprechende Belege (Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in Kopie vorzulegen haben, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;
- und wobei den Beklagten vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften ihrer nicht-gewerblichen Abnehmer sowie der Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von der Klägerin zu bezeichnenden, ihr gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten, vereidigten Wirtschaftsprüfer mit Sitz in der Bundesrepublik Deutschland mitzuteilen, sofern die Beklagten dessen Kosten tragen und ihn berechtigen und verpflichten, der Klägerin auf konkrete Anfrage mitzuteilen, ob ein bestimmter Abnehmer oder Angebotsempfänger in der Aufstellung enthalten ist;
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4.
nur die Beklagten zu 1) und 3); die unter Ziffer I.1 bezeichneten, seit dem 26.12.2018 in Verkehr gebrachten Erzeugnisse gegenüber den gewerblichen Abnehmern unter Hinweis auf den gerichtlich (Urteil des … vom …) festgestellten patentverletzenden Zustand der Sache und mit der verbindlichen Zusage zurückzurufen, etwaige Entgelte zu erstatten sowie notwendige Verpackungs- und Transportkosten zu übernehmen und die erfolgreich zurückgerufenen Erzeugnisse wieder an sich zu nehmen; -
5.
nur die Beklagten zu 1) und 3): die – auch infolge Rückrufs nach Ziffer I.4 – in ihrem unmittelbaren oder mittelbaren Besitz oder Eigentum in der Bundesrepublik Deutschland befindlichen, in Ziffer I.1 bezeichneten Erzeugnisse an einen von der Klägerin zu benennenden Gerichtsvollzieher zum Zwecke der Vernichtung auf Kosten der Beklagten herauszugeben oder nach ihrer Wahl selbst zu vernichten. -
II.
Es wird festgestellt, dass die Beklagten – die Beklagten zu 1) und 2) als Gesamtschuldner – verpflichtet sind, der Klägerin sämtlichen Schaden zu ersetzen, der dieser durch die Handlungen nach Ziffer I.1 seit dem 26.01.2019 entstanden ist und noch entstehen wird. - Zur Begründung hat das Landgericht im Wesentlichen ausgeführt:
- Die angegriffenen Ausführungsformen machten von der Lehre des Klagepatents wortsinngemäß Gebrauch. Sie verwirklichten sämtliche Merkmale des geltend gemachten Klagepatentanspruchs. Insbesondere stellten die Schleifbänder der angegriffenen Ausführungsformen „Mittel zum Abtragen von Material“ aus dem Rohrsystem dar, da sie geeignet seien, Material von der Innenwand des Rohrsystems abzuschleifen. Die Schleifbänder seien auch „lenkbar“, weil sie durch ihre Anordnung rund um die Spindel in der Lage seien, die angegriffenen Ausführungsformen zentriert im dünneren Rohr zu positionieren und dort zu halten. Die angegriffenen Bearbeitungsvorrichtungen umfassten ferner eine „Lenkvorrichtung“ im Sinne des Klagepatents. Wie sich aus Abs. [0019] der allgemeinen Patentbeschreibung ergebe, liege eine Lenkvorrichtung nicht erst vor, wenn die Vorrichtung geeignet sei, eine Umlenkung der Vorrichtung aus der Längsachse des Rohrs hinaus zu erreichen. Vielmehr genüge die Geeignetheit zum Halten in der Richtung der Längsachse des Rohrs. Unter dem „Halten“ in Zusammenhang mit der Lenkvorrichtung verstehe das Klagepatent zwar ein „Mehr“ im Vergleich zu einer bloßen Positionierung in der Mitte des dünneren Rohrs. Es sei aber nicht notwendig, dass die Lenkvorrichtung in der Lage sei, die Bearbeitungsvorrichtung in sämtlichen denkbaren Verbindungsbereichen mit winkligen Anordnungen jedweder Art zu steuern. Vielmehr überlasse es das Klagepatent dem Fachmann, je nach Ausgestaltung des Verbindungsbereichs eine taugliche Lenkvorrichtung zu konstruieren. Dies folge zunächst unmittelbar aus dem Anspruchswortlaut, der eine bestimmte winklige Ausrichtung der beiden Rohre nicht vorgebe. Außerdem ergebe sich aus der Patentbeschreibung, dass das dünnere Rohr mit dem dickeren Rohr in jedem beliebigen Winkel verbunden werden könne. Je nach Ausgestaltung des Verbindungsbereichs stelle das Klagepatent unterschiedliche Anforderungen an die Lenkvorrichtung, um ein sicheres Halten der Position im Verbindungsbereich zu gewährleisten. Bei einem Winkel von 45°, so wie in der Figurengruppe 4 gezeigt, schlage das Klagepatent eine zusätzliche Umlenkungsvorrichtung vor, um ein unkontrolliertes Drehen der Bearbeitungsvorrichtung zu verhindern. Bei dem in der Figurengruppe 6 gezeigten Ausführungsbeispiel sei eine zusätzliche Umlenkungsvorrichtung für ein zuverlässiges Halten beim Abtragen von Material hingegen nicht notwendig. Dieses Verständnis werde zusätzlich durch den Abs. [0030] der Patentschrift gestützt, aus dem hervorgehe, dass es sich bei der Lenkvorrichtung und den vorstehenden Teilen auch um ein und dasselbe Element handeln könne. Hiervon ausgehend verfügten die angegriffenen Ausführungsformen über eine anspruchsgemäße Lenkvorrichtung. Ihre Schleifbänder seien in der Lage, die angegriffenen Ausführungsformen innerhalb des dünneren Rohrs mittig zu positionieren und entlang der Längsachse des Rohrs zu halten. Sie seien ausweislich des von der Klägerin als Anl. K 10 vorgelegten Videos in der Lage, im Verbindungsbereich eines dickeren und eines dünneren Rohrs Material im Kantenbereich des Lochs abzutragen, jedenfalls, wenn die beiden Rohre in einem nicht zu starken Winkel miteinander verbunden seien. Durch die Ausdehnung der Schleifbänder in der Längsachse der Bearbeitungsvorrichtung sei es möglich, die angegriffene Ausführungsform in den Verbindungsbereich hineinzuschieben, ohne dass es zu einem vom Klagepatent nicht gewünschten Verkippen und unkontrollierten Drehen der Vorrichtung komme.
- Gegen dieses Urteil haben die Beklagten Berufung eingelegt, mit der sie ihr vor dem Landgericht erfolglos gebliebenes Klageabweisungsbegehren weiterverfolgen. Unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens machen sie u.a. geltend:
- Eine anspruchsgemäße Lenkvorrichtung müsse in der Lage sein, sämtliche Bereiche der Kanten eines Lochs anzusteuern, um dort die im Klagepatent kritisierten Rauigkeiten vollständig zu entfernen. Die Lenkvorrichtung müsse daher objektiv geeignet sein, eine Steuerung vorzunehmen, die das Abtragen des gesamten Materials der Kanten des Lochs sicherstelle. Die Eignung der Steuerung zum Abtragen von Material an einer einzigen Stelle genüge nicht, weshalb es erforderlich sei, dass die Bearbeitungsvorrichtung aus der Längsachse des Rohrs herausgesteuert werden könne. Ein bloßes Halten könne schon deshalb nicht ausreichen, da dies bereits Gegenstand der anspruchsgemäßen Positionierung sei. Dieses Verständnis werde durch die Ausführungen in den Abs. [0034] und [0038] der Klagepatentbeschreibung bestätigt. Das Schleifen von Teilbereichen der Ränder werde dort als ungeeignet angesehen, wobei genau dies durch das Vorsehen einer Lenkvorrichtung verbessert werden solle, was insbesondere auch die Figuren 5a und 5b verdeutlichten. Auch die Technische Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes verstehe die Lenkvorrichtung dergestalt, dass eine bloße Positionierung nicht genüge, sondern eine „aktive“ Lenkung notwendig sei. Entgegen der Auffassung des Landgerichts ergebe sich aus den Figuren 1 und 6 nichts Abweichendes. Hinsichtlich der Figur 1 weise die Beschreibung darauf hin, dass dort nur ein Teil der Bearbeitungsvorrichtung gezeigt werde, was erkläre, warum die zwingend erforderliche Lenkvorrichtung dort nicht vorhanden sei. Entsprechendes gelte für die Figuren 2a und 2b, wobei die in Abs. [0030] beschriebene Lenkvorrichtung allein eine Lenkvorrichtung der Scheibe sei, die beim Bohren des Lochs zentriert werden müsse. Figur 6 beschreibe einen Spezialfall einer 180-Grad-Verbindung, bei der eine Lenkvorrichtung im Zweifel nicht benötigt werde; dass die Schleifbänder in diesem Fall eine Lenkvorrichtung darstellten, werde an keiner Stelle beschrieben. Die Auslegung des Landgerichts führe im Ergebnis dazu, dass das Merkmal der Lenkvorrichtung überflüssig werde, da allein eine anspruchsgemäße Positionierung der Bearbeitungsvorrichtung im Rohr genüge, um einen Teil der Kanten des Lochs zu bearbeiten. Da die angegriffene Ausführungsform über keine anspruchsgemäße Lenkvorrichtung im vorgenannten Sinne verfüge, sei sie – was auch die klägerischen Versuchsvideos belegten – nicht für eine patentgemäße, d.h. rückstandsfreie Bearbeitung der Ränder geeignet.
- Die Beklagten beantragen,
- das landgerichtliche Urteil abzuändern („aufzuheben“) und die Klage abzuweisen.
- Die Klägerin beantragt,
- die Berufung mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass der Tenor zu I. 1. des landgerichtlichen Urteils an den Wortlaut des von der Technischen Beschwerdekammer aufrechterhaltenen Patentanspruchs 1 des Klagepatents angepasst werden soll.
- Die Klägerin verteidigt das landgerichtliche Urteil als zutreffend und tritt den Ausführungen der Beklagten unter Wiederholung und Ergänzung ihres erstinstanzlichen Sachvortrages im Einzelnen entgegen, wobei sie u.a. geltend macht:
- Die patentgemäße Lehre verlange nicht, dass ein vollständiges Abschmirgeln der Kanten in jeglicher Variante eines Verbindungsbereichs im Rohrsystem möglich sein müsse. Vielmehr werde eine Vorrichtung zum maschinellen Bearbeiten des Verwendungsbereichs einer Rohranordnung gelehrt, die auf den Einsatz von Roboterbohrer verzichten könne. Es könne zwar zutreffen, dass bei einem bestimmten Winkelverhältnis eine zusätzliche Lenkvorrichtung zum Umlenken der Vorrichtung sinnvoll sein könne. Es sei aber in anderen Rohranordnungen – z.B. bei Winkeln >45 Grad oder bei Rohrsystemen mit einem sich verändernden Durchmesser (Figur 6) – sehr wohl möglich, dass eine Vorrichtung, bei der die Richtung der Bearbeitungsvorrichtung in Bezug auf die Längsachse des dünneren Rohrs bereits durch die „vorstehenden Teile“ gesteuert werde, das Material im Verbindungsbereich in qualitativ ausreichendem Maße abtrage, wobei für ein patentgemäßes Steuern ein Halten der Richtung genüge. Dies sei immer dann der Fall, wenn die Bearbeitungsvorrichtung eine ausreichende axiale Länge aufweise. Keineswegs könne auf der Grundlage des Anspruchswortlauts, der keine Qualitätsvorgabe mache, verlangt werden, dass die Steuerung solange erfolge, bis die Kanten im Öffnungsbereich vollständig eingeebnet seien und über den gesamten Winkelbereich von 45 bis 90 Grad eine vollständige Einebnung stattfinden müsse. Die Doppelfunktion der vorstehenden Teile als Schleifmittel und Lenkvorrichtung werde in der Patentbeschreibung durch den Inhalt des Abs. [0030] – aber auch des Abs. [0020] – eindeutig belegt. Weiterhin sei bereits in den beiden vorherigen Abs. [0028] und [0029] davon die Rede, dass die vorstehenden Teile die Spindel „in Richtung der Längsachse des Rohrs“ bzw. „in der gewünschten Richtung“ hielten. Die fachmännisch besetzte Einspruchsabteilung des Europäischen Patentsamtes sei in ihrer Entscheidung vom 23.12.2021 ebenfalls davon ausgegangen, dass den vorstehenden Teilen auch eine Lenkfunktion zukomme. Gleichermaßen sehe der gerichtliche Sachverständige die vorstehenden Teile als Lenkvorrichtung im Sinne des hier streitigen Merkmals an. Die hiervon abweichende Auffassung der Technischen Beschwerdekammer des Europäischen Patentsamts überzeuge nicht. Weder sei nachvollziehbar begründet, warum die vorstehenden Teile keine – von der Beschwerdekammer aus dem Merkmal Vorrichtung hergeleitete – „tatsächlichen physischen Komponenten“ sein sollten noch könne angesichts der klaren Beschreibung in den Abs. [0028] und [0029] eine über ein Halten hinausgehende „aktive“ Lenkung verlangt werden. Eine solche Auslegung führe dazu, dass die Hälfte der in der Patentschrift als erfindungsgemäß beschriebenen Ausführungsbeispiele nicht unter den Patentanspruch fiele. Die Figuren 1, 2a und 2b zeigten entgegen der Auffassung der Beklagten jeweils ein anspruchsgemäßes Ausführungsbeispiel mit Lenkvorrichtung. Ein gegenteiliger Schluss könne insbesondere nicht allein aus der Tatsache gezogen werden, dass die Lenkvorrichtung in den Figuren 3a und 3b ausdrücklich erwähnt werde. Das Ausführungsbeispiel der Figurengruppe 6 verdeutliche schließlich anschaulich, dass eine von den Beklagten geforderte „besondere“ Lenkvorrichtung nicht zur Verwirklichung der patentgemäßen Lehre notwendig sei und das Halten der Vorrichtung in der Längsachse durch die vorstehenden Teile ein Steuern sei, wodurch eine „Trudelbewegung“ verhindert werde. Entgegen der Auffassung der Beklagten komme dem Merkmal der Lenkvorrichtung auch unter der Zugrundelegung der Auslegung des Landgerichts eine eigenständige Bedeutung zu. So seien Ausgestaltungen denkbar, bei denen die vorstehenden Teile zwar zur Positionierung geeignet seien, aber nicht zum Steuern. Ausgehend von diesem Verständnis liege eine Patentverletzung vor. Die angegriffenen Ausführungsformen seien geeignet, in einem anspruchsgemäßen Rohrsystem in einem Winkelbereich von 30 bis 90 Grad sowie bei einer koaxialen Anordnung die Kanten des Lochs rundherum in ausreichender Qualität abzuschleifen, was sowohl die von ihr vorgenommenen videodokumentierten Versuche als auch die vom gerichtlichen Sachverständigen in seinem Erstgutachten getroffenen Feststellungen belegten.
- Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten nebst Anlagen Bezug genommen.
- Der Senat hat gemäß Beweisbeschluss vom 19.04.2021 (Bl. 497-507 GA) die Einholung des schriftlichen Gutachtens eines Sachverständigen und überdies gemäß Beschlüssen vom 03.11.2022 (Bl. 769 f. GA) und 11.10.2023 (Bl. 906 f. GA) schriftliche Ergänzungen des Gutachtens angeordnet. Außerdem hat er den Sachverständigen auf Antrag der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 15.02.2024 angehört. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das von Professor Dr.-Ing. J, Universität K, Fakultät Maschinenbau, erstattete schriftliche Gutachten vom 25.02.2022 (Anlage zu den Gerichtsakten), das von diesem erstattete schriftliche Ergänzungsgutachten vom 17.02.2023 (1. Ergänzungsgutachten; Anlage zu den Gerichtsakten) und das schriftliche Ergänzungsgutachten vom 17.02.2023 (2. Ergänzungsgutachten; Bl. 996-1010 GA) sowie das Sitzungsprotokoll vom 15.02.2024 verwiesen.
- II.
- Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Die angegriffenen Ausführungsformen machen von der technischen Lehre des Klagepatents keinen Gebrauch, weshalb der Klägerin die geltend gemachten Ansprüche auf Unterlassung, Auskunftserteilung, Rechnungslegung und Schadensersatz sowie – gegenüber den Beklagten zu 1) und 3) – auf Rückruf und Vernichtung nicht zustehen.
-
A.
Das Klagepatent betrifft – mit seinem Patentanspruch 1 – eine Vorrichtung zum maschinellen Bearbeiten eines Rohrsystems. - Wie die Klagepatentschrift in ihrer Einleitung ausführt, werden Rohranordnungen, wie z.B. das Abwassersystem in Gebäuden, üblicherweise renoviert, indem die vorhandenen Rohre vollständig durch neue Rohre ersetzt werden (Anl. K 1a, Abs. [0002]; die nachfolgenden Bezugnahmen betreffen jeweils die deutsche Übersetzung der Klagepatentschrift Anl. K1a). Nachteilig ist hieran, dass dabei in der Regel in die Gebäude-substanz eingegriffen werden muss, um die alten Rohre aus den Wänden des Gebäudes zu entfernen. Das Zerstören und Wiederaufbauen der Wandstrukturen ist kostenaufwändig, zeitaufwändig und verursacht außerdem Schmutz. Aufgrund der durch die Renovierungsarbeiten verursachten Geräusche und des Staubs ist es zudem oft nicht möglich, während der Renovierung in dem betroffenen Gebäude zu wohnen (Abs. [0002]).
- Nach den Angaben der Klagepatentschrift ist es aus der JP 5123XXE bekannt, Rohre durch eine innere Beschichtung zu renovieren (Abs. [0003]). Man bezeichnet dies als Innenverkleidungstechnik. Hierbei wird eine Innenverkleidungshülse in das zu reparierende Abwassersystem geschoben und unter Verwendung eines geeigneten Materials, z.B. Epoxidharz, imprägniert. Nach dem Erhärten des Materials ist ein durchgehendes und dichtes Rohr gebildet. Die Innenverkleidung ist hierbei starr, säureresistent und umweltfreundlich ist. Die Dicke der Hülsenwand beträgt je nach Durchmesser des Rohrs zwischen 2 und 4 mm. Ihre glatte Innenfläche gewährleistet ausgezeichnete Durchflusseigenschaften. Die Beständigkeit, Umweltsicherheit und Lebensdauer des installierten und gehärteten Rohrs sind nach den Angaben der Klagepatentschrift vergleichbar mit den entsprechenden Eigenschaften neuer Rohre (Abs. [0003]).
- Bei der Innenverkleidungstechnik besteht allerdings das Problem, dass dann, wenn die Innenverkleidungshülse beispielsweise in eine dicke vertikale Hauptleitung eines Rohrsystems installiert wurde, alle Verbindungsstellen, die z.B. zu dünneren Rohren führen, die von den Wohnungen eines Wohnhauses kommen, blockiert werden. Aus diesem Grund müssen Löcher in die Verbindungen gebohrt werden, um zu ermöglichen, dass Abwasser aus den dünneren Rohren, die von den Wohnungen zur Hauptleitung führen, herausfließen kann (Abs. [0004]). Nach den Angaben der Klagepatentschrift werden diese Löcher im Stand der Technik von der Hauptleitung aus unter Verwendung eines Roboterbohrers gebohrt. Roboterbohrer sind große, teure und komplexe Vorrichtungen, deren Betrieb spezielle Fachkenntnisse des Benutzers erfordert. Bei falscher Betätigung kann das Loch teilweise oder vollständig an einer falschen Stelle gebohrt werden. Eventuell bleibt auch zumindest der Oberflächenzustand rau. Eine solche Qualität ist nach den Angaben der Klagepatentschrift in der Regel jedoch nicht akzeptabel, da an den rauen Stellen des Abflussrohrs Abfall hängen bleiben kann, der sich im Laufe der Zeit zu einer dickeren Schicht ansammeln und das Abwasser ggf. sogar blockieren kann. Ebenso wenig ist es nach den Angaben der Klagepatentschrift akzeptabel, dass Wasser in den rauen Stellen des Verbindungsbereichs stehen bleibt. Ein weiteres Problem im Zusammenhang mit der Verwendung von Roboterbohrern besteht darin, dass diese nicht für die Verwendung in Hauptleitungen mit Krümmungen geeignet sind. Aufgrund ihrer Größe ist es unter Umständen nicht möglich, den Roboterbohrer in die Hauptleitung zu der Stelle zu bewegen, wo das Loch gebohrt werden soll (Abs. [0005]). Die Klagepatentschrift gibt an, dass sich aufgrund dieser Probleme im Zusammenhang mit den Innenverkleidungstechniken deren Beliebtheit in Rohrsystemrenovierungsprojekten eher in Grenzen hält (Abs. [0005]).
- Das Klagepatent hat es sich vor diesem Hintergrund zur Aufgabe gemacht, eine Vorrichtung zum maschinellen Bearbeiten von Rohranordnungen, beispielsweise Abwasserrohren eines Wohnhauses, vorzuschlagen, durch die die Effizienz von Rohrrenovierung deutlich verbessert wird und die Renovierungskosten gesenkt werden können (Abs. [0005], [0006]).
- Zur Lösung dieser Problemstellung schlägt Patentanspruch 1 des Klagepatents in der Fassung der Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes vom 28.09.2023 eine Vorrichtung mit folgenden Merkmalen vor:
- 1. Bearbeitungsvorrichtung (100) zum maschinellen Bearbeiten eines Rohrsystems.
- 2. Das zu bearbeitende Rohrsystem umfasst einen Verbindungsbereich
-
a) zwischen einem Rohr mit einem kleineren Innendurchmesser
b) und einem Rohr mit einem größeren Innendurchmesser. - 3. Die Bearbeitungsvorrichtung (100) umfasst
- a) vorstehende Teile (102),
- die zum Positionieren der Bearbeitungsvorrichtung (100) oder zumindest eines Teils der Bearbeitungsvorrichtung (100) innerhalb des Rohrs mit kleinerem Innendurchmesser des Rohrsystems geeignet sind,
- wobei das genannte vorstehende Teil (102) eine raue Schleifoberfläche (106) umfasst,
- b) lenkbare und durch ein Stellglied („actuator“) betreibbare Mittel (106 und/oder 201)
- zum Abtragen von Material aus dem Verbindungsbereich des Rohrsystems,
- c) eine Lenkvorrichtung („steering device“; 301)
- zum Steuern („controlling“) der Richtung der Bearbeitungsvorrichtung (100) bezüglich der Längsachse des Rohrs mit kleinerem Durchmesser im Rohrsystem
- während des Abtragens von Material von den Kanten eines Lochs, das im Verbindungsbereich des Rohrsystems hergestellt ist
- und
- d) ein biegbares Momentübertragungsglied (105).
- Zum Verständnis des Patentanspruchs 1 sind im Hinblick auf den Streit der Parteien folgende Bemerkungen veranlasst:
-
1.
Der Patentanspruch beginnt mit der Funktionsangabe, dass es sich bei der unter Schutz gestellten Bearbeitungsvorrichtung um eine solche „zum maschinellen Bearbeiten eines Rohrsystems“ handelt (Merkmal 1), wobei das zu bearbeitende Rohrsystem „einen Verbindungsbereich zwischen einem Rohr mit einem kleineren Innendurchmesser und einem Rohr mit einem größeren Innendurchmesser“ umfasst (Merkmal 2). - Zweck- und Funktionsangaben in einem Sachanspruch beschränken dessen Gegenstand regelmäßig nicht auf den angegebenen Zweck oder die angegebene Funktion. Solche Angaben sind aber gleichwohl nicht bedeutungslos. Sie definieren den durch das Patent geschützten Gegenstand regelmäßig dahin, neben der Erfüllung der weiteren räumlich-körperlichen Merkmale auch so ausgebildet zu sein, dass er für den im Patentanspruch angegebenen Zweck verwendet werden oder die angegebene Funktion erfüllen kann. Er muss mithin objektiv geeignet sein, den angegebenen Zweck oder die angegebene Funktion zu erfüllen (st. Rspr., vgl. nur BGH, GRUR 2018, 1128 Rn. 12 – Gurtstraffer; GRUR 2020, 961 Rn. 31 – FRAND-Einwand; GRUR 2021, 462 Rn. 49 – Fensterflügel; GRUR 2022, 982 Rn. 51 – SRS-Zuordnung).
- Aus der einleitenden Funktionsangabe in Patentanspruch 1 folgt hier demgemäß, dass die Bearbeitungsvorrichtung zum maschinellen Bearbeiten eines Rohrsystems geeignet sein muss, das einen Verbindungsbereich zwischen einem Rohr mit einem kleineren Innendurchmesser und einem Rohr mit einem größeren umfasst. In Bezug auf diese Rohre spricht das Klagepatent in seiner Beschreibung auch von einem „dünneren Rohr“ und einem „dickeren Rohr“, wobei sich die Angaben „dünner“ und „dicker“ auf die Innendurchmesser der Rohre beziehen (Abs. [0010]). Wie der angesprochene Durchschnittsfachmann – ein Diplomingenieur bzw. Master und Bachelor des Maschinenbaus mit mehrjähriger Berufserfahrung in der Industrie auf dem Gebiet der Entwicklung von Bearbeitungsvorrichtungen zum maschinellen Bearbeiten eines Rohrsystems (vgl. Gutachten Prof. J v. 25.02.2022, S. 2) – zum einen der Anspruchsformulierung, nach der das Rohrsystem einen „Verbindungsbereich“ zwischen einem dünneren Rohr und einem dickeren Rohr umfasst, und zum anderen der in der Klagepatentschrift formulierten Aufgabenstellung (Abs. [0006]) sowie der weiteren Patentbeschreibung entnimmt, soll die Bearbeitungsvorrichtung hierbei zur maschinellen Bearbeitung des Verbindungsbereichs zwischen den beiden Rohren (dem dünneren Rohr und dem dickeren Rohr) in der Lage sein. Konkreter geht es um das Abtragen von Material aus dem Verbindungsbereich des Rohrsystems (Merkmal 3 b)) und insbesondere von den Kanten eines Lochs, das in diesem Verbindungsbereich hergestellt ist (Merkmal 3 c)). Nach der Klagepatentbeschreibung kann das dünnere Rohr des Rohrsystems mit dem dickeren Rohr in jedem beliebigen Winkel verbunden werden, wobei es in der Regel jedoch in einem Winkel von 30 bis 60 Grad und „am besten“ in einem Winkel von 45 Grad mit dem dickeren Rohr verbunden wird (Abs. [0010]).
-
2.
Die Bearbeitungsvorrichtung (Merkmalsgruppe 3), bei der es sich bevorzugt um eine drehbare Spindel handelt (Unteranspruch 2; Abs. [0013], [0017], [0022], [0028]), weist „vorstehende Teile“ („protruding parts“) auf (Merkmal 3 a)). - Die vorstehenden Teile dienen einerseits dazu, die Bearbeitungsvorrichtung oder zumindest einen Teil der Bearbeitungsvorrichtung innerhalb des dünneren Rohrs zu positionieren (Merkmal 3 a)). Damit ist gemeint, dass sich die vorstehenden Teile bei der Verwendung der Bearbeitungsvorrichtung in dem Rohr mit kleinerem Innendurchmesser von der Längsachse des Rohrs weg erstrecken, so dass sie mit der Innenfläche des Rohrs in Kontakt kommen (vgl. Technische Beschwerdekammer des EPA [nachfolgend auch: TBK], Mitt. v. 06.04.2023, Anl. B 25, S. 4 Rn. 7.2). Die vorstehenden Teile können z.B. dafür ausgebildet sein, sich auf eine biegbare Weise in Richtung des Rohrs zu neigen, etwa unter Verwendung von elastischer Kraft (Abs. [0018]). Sie umfassen bevorzugt eine Lamelle, die, wenn sie gebogen wird, eine elastische Kraft bewirkt (Unteranspruch 3 [vormals Unteranspruch 4]; Abs. [0018]), und sind bevorzugt symmetrisch um die drehbare Spindel angeordnet (Abs. [0028]).
- Weiterhin umfassen die vorstehenden Teile nach der Fassung, die der Patentanspruch 1 im Beschwerdeverfahren erlangt hat, eine raue Schleifoberfläche (vgl. vormals Unteranspruch 3). Damit dienen die vorstehenden Teile neben der Positionierung der Bearbeitungsvorrichtung auch zum Entfernen von Material aus dem Rohrsystem (Abs. [0017] a.E.), und zwar – wie sich aus den Merkmalen 3 b) und c) ergibt – aus dem Verbindungsbereich des Rohrsystems. Ihnen kommt damit patentgemäß eine Doppelfunktion (Positionierungs- und Schleifmittel) zu.
-
3.
Die Bearbeitungsvorrichtung umfasst anspruchsgemäß „Mittel zum Abtragen von Material aus dem Verbindungsbereich des Rohrsystems“ (Merkmal 3 b)). - Bei diesen Mitteln handelt es sich insbesondere um die raue Schleifoberfläche (106) der vorstehenden Teile (Merkmal 3 a)). Ihre Aufgabe besteht darin, Material aus dem Verbindungssystem des Rohrsystems abzutragen und insbesondere diejenigen Randbereiche materialmäßig zu säubern, die im Übergangsbereich zwischen dem dünneren Abzweigungsrohr und dem dickeren Hauptrohr nach dem Öffnen des Innenverkleidungsrohrs in diesem Bereich stehen geblieben sind (vgl. Figur 4b bis 4d; Bezugszeichen 402). Der Materialabtrag erfolgt hierbei durch Abschleifen bzw. Abschmirgeln der betreffenden Randbereiche (vgl. Abs. [0015], [0017], [0025], [0034], [0035], [0036], [0038], [0039]).
- Der Einsatz derartiger Schleifmittel setzt zwingend voraus, dass im Anschluss an die Einbringung des Innenverkleidungsrohrs in die (dickere) Hauptleitung (vgl. Figur 4a) der Einmündungsbereich zur (dünneren) Abzweigungsleitung geöffnet worden ist, um die Nebenleitung wieder fluidmäßig an das Hauptrohr anzubinden. Die erforderliche Öffnung kann z.B. mit Hilfe einer „Schneidscheibe“ (Scheibe; 201) eingebracht werden, mit welcher die in den Figuren 2a und 2b gezeigte sowie in Abs. [0030] beschriebene Bearbeitungsvorrichtung ausgestattet ist und deren Einsatz aus den Figuren 4a, 4b zu ersehen sowie in Abs. [0034] näher beschrieben ist. Die Scheibe (201) bohrt („punktiert“) ein Loch in das Innenverkleidungsrohr bzw. die Innenverkleidungsfläche (Abs. [0030], S. 8 Z. 4-7; Abs. [0034], S. 9 Z.18-20). Auch sie trägt damit Material aus dem Verbindungsbereich des Rohrsystems ab und wird deshalb durch das Bezugszeichen (201) richtigerweise den „Mitteln zum Abtragen von Material“ gemäß Patentanspruch 1 zugerechnet.
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4.
Die Bearbeitungsvorrichtung umfasst ferner eine Lenkvorrichtung, die zur Steuerung der Bearbeitungsvorrichtung bezüglich der Längsachse des dünneren Rohrs während des Abtragens von Material von den Kanten eines im Verbindungsbereich hergestellten Lochs dient (Merkmal 3 c)). - Der Klagepatentanspruch erwähnt in Bezug auf die patentgemäße Bearbeitungsvorrichtung an zwei Stellen ein „Lenken“.
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a)
„Lenkbar“ sollen zunächst die vorerwähnten Mittel zum Abtragen von Material aus dem Verbindungsbereich des Rohrsystems sein (Merkmal 3 b)). Die besagte Eigenschaftsanforderung erklärt sich für den Fachmann schlüssig und naheliegend aus dem formulierten Anspruch des Klagepatents, in dem mit einem Innenverkleidungsrohr bzw. einer Innenverkleidungsfläche versehenen Verbindungsbereich eines sanierten Rohrsystems keine rauen Stellen zu hinterlassen, an denen im Gebrauch des Rohrleitungssystems Abfall hängen bleiben und sich im Laufe der Zeit zu einer größeren Schmutzschicht ansammeln kann (Abs. [0004], S. 2 Z. 8-13; Gutachten Prof. J v. 25.02.2022, S. 5 und 6). Da das notwendige Ausschneiden oder Ausfräsen einer Fluidöffnung aus dem Innenverkleidungsrohr – z.B. mittels einer Schneidscheibe (201) – unweigerlich raue Ränder hinterlässt, die schleifend nachbearbeitet werden müssen, um unerwünschte raue Oberflächen oder vorstehende Kanten zu vermeiden, schließt sich an den Einsatz einer Schneidscheibe (201) oder ähnlichen Mittels (201) typischerweise der Gebrauch eines nachbearbeitenden Schleifmittels (106) an (vgl. Figuren 4c bis 4d). Mindestens das letztere Abtragungsmittel (106) muss „lenkbar“ sein; fakultativ können aber auch beide Mittel (106, 201) lenkbar sein. Merkmal 3 b) bringt dies durch die Bezugnahme sowohl auf das Bezugszeichen (106) als auch auf Bezugszeichen (201) unmissverständlich zum Ausdruck. -
b)
Im Merkmal 3 c) verlangt der Patentanspruch weiterhin eine „Lenkvorrichtung“ (301), welche in dem maßgeblichen englischsprachigen Patentanspruch als „steering de-vice“ bezeichnet ist. - Während sich also Merkmal 3 b) bloß wirkungsmäßig damit befasst, dass das Materialabtragungsmittel (106) – auf welche Weise auch immer – „lenkbar“ zu sein hat, ist Merkmal 3 c) konstruktiv gefasst, indem es eine „Lenkvorrichtung“ voraussetzt, deren genaue Konstruktion zwar nicht vorgegeben wird, die jedoch durch ein ganz bestimmtes, von ihr zu erfüllendes Leistungs- und Eigenschaftsprofil umschrieben und definiert wird.
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aa)
Die Lenkvorrichtung (301) soll die Bearbeitungsvorrichtung erfindungsgemäß zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt steuern, nämlich nach dem Anspruchswortlaut „während des Abtragens derjenigen Kanten eines Lochs, die nach dem Öffnen des Innenverkleidungsrohrs im Verbindungsbereich des Rohrsystems stehen geblieben sind“ (vgl. auch TBK, Mitt. v. 06.04.2023, Anl. B 25, S. 5 Rn. 7.4). Bereits dieser ausdrückliche Bezug der Lenkvorrichtung und ihrer Wirksamkeit zum Vorgang des Materialabtrags an den Kanten der Öffnung im Innenverkleidungsrohr macht dem Fachmann deutlich, dass die Lenkungseinrichtung nur dann eine patentgemäße sein kann, wenn sie genau das Vorbeschriebene leistet, nämlich die Bearbeitungsvorrichtung (und damit letztlich deren Abtragungsmittel) so steuert („lenkt“), dass die Kanten im Öffnungsbereich des Innenverkleidungsrohrs bearbeitet werden. Wenn Patentanspruch 1 eine Lenkung während des Materialabtrags „von den Kanten eines Lochs, das im Verbindungsbereich des Rohrsystems hergestellt worden ist“, verlangt (Merkmal 3 c)), so ist damit ein Materialabtrag gemeint, der den gesamten Kantenverlauf rund um das Loch im Innenverkleidungsrohr einschließt. Dieses Verständnis legt dem Fachmann nicht nur der Anspruchswortlaut nahe, in dem eben von „den Kanten des Lochs“ und nicht von einem Teil der Lochkanten die Rede ist. Jedes andere Verständnis, nach dem bereits eine partielle Entfernung einer Lochkante genügen würde, wäre auch technisch sinnlos, weil unter solchen Umständen Kantenbereiche stehen blieben, an denen sich Abfall verfangen und zu großflächigeren Schmutzablagerungen im Verbindungsbereich des Rohrsystems führen könnte, was das Klagepatent als in der Regel nicht akzeptabel ansieht (Abs. [0004]). - Dass die Lochkanten des Innenverkleidungsrohrs mittels der Lenkvorrichtung für die Bearbeitungsvorrichtung (= deren Materialabtragungsmittel) beseitigt werden sollen, deckt sich vollständig mit der weiteren Vorgabe des Klagepatents dazu, in welcher Richtung die lenkende Steuerung der Bearbeitungsvorrichtung erfolgen soll. Patentanspruch 1 sieht insoweit vor, dass die Lenkvorrichtung die materialabtragende Bearbeitungsvorrichtung in ihrer Richtung bezüglich der Längsachse des (dünneren) Abzweigungsrohrs steuern soll. Die Lage der Bearbeitungsvorrichtung gegenüber der Längsachse des Abzweigungsrohrs soll also mithilfe der Lenkvorrichtung verändert werden können. Dies ergibt für den Fachmann auch unmittelbar Sinn. Wie die Figuren 4a bis 4e verdeutlichen, muss die Bearbeitungsvorrichtung mit ihrem materialabtragenden Mittel die Ränder des Lochs im Innenverkleidungsrohr auch dann gezielt ansteuern können, wenn die Bearbeitungsvorrichtung bis in das Hauptrohr vorgedrungen ist, wo die Bearbeitungsvorrichtung – zumindest teilweise – ihren Kontakt zur Wand des Abzweigungsrohrs und damit ihren Halt verliert, weshalb sie dazu neigt, sich unkontrolliert zu bewegen (Abs. [0034], S. 9 Z. 24-33).
- Das gezielte Ansteuern der Lochkanten geschieht entweder dadurch, dass die Bearbeitungsvorrichtung aus ihrer bisherigen (z.B. zentrierten) Lage zur Längsachse des dünneren Abzweigungsrohrs in eine davon verschiedene Position umgelenkt wird, wie dies die Figuren 4c (für die untere Lochkante) und 4d (für die obere Lochkante) zeigen. Eine Bewegung nach oben oder unten lässt sich beispielsweise durch ein Gewicht (303) und/oder durch ein Kabel bzw. Seil (302) bewerkstelligen, an dem motorisch oder manuell gezogen werden kann (vgl. Abs. [0032] und [0034] bis [0036]).
- Eine hierzu „alternative Lenkungseinrichtung“ (404) für das gezielte Ansteuern der Lochkanten offenbart die Klagepatentschrift in Figur 4e und die zugehörige Beschreibung in Abs. [0037]. Zu demselben Zweck wird hier die bisherige Lage der Bearbeitungsvorrichtung zur Längsachse des Abzweigungsrohrs bewusst nicht verändert, sondern ganz im Gegenteil beibehalten. Die Lenkungsvorrichtung (404), die eine solche Handhabung ermöglicht und gebietet, befindet sich weit hinter der eigentlichen Bearbeitungsvorrichtung (100) und sorgt deshalb für eine definierte und im Sinne eines Kantenabtrags geeignete Lage der Bearbeitungsvorrichtung auch dann noch, wenn die materialabtragenden Mittel der Bearbeitungsvorrichtung selbst bereits weit in das größer dimensionierte Hauptrohr eingedrungen sind. Eine derart konstruierte Lenkvorrichtung hält die materialabtragenden Mittel gerade dadurch „auf Kurs“ zu den Lochkanten, dass sie die Lage der Bearbeitungsvorrichtung gegenüber der Längsachse des Abzweigungsrohrs unverändert lässt und nicht variiert, so dass es nicht zu dem in Abs. [0034] (S. 9 Z. 24-28) beschriebenen unkontrollierten Drehen kommt.
- Festzuhalten bleibt damit, dass das Klagepatent zum Ansteuern der Lochkanten im Innenverkleidungsrohr anhand seiner Ausführungsbeispiele zwei verschiedene Konzepte lehrt (vgl. auch Prof. J, Gutachten v. 25.02.2022, S.11, 21, 35, 39; 2. Ergänzungsgutachten v. 31.10.2023, S.14). Bei einer Ausgestaltung der Bearbeitungsvorrichtung bedarf es einer Lenkvorrichtung (z.B. Gewicht, Kabel/Seil), die es erlaubt, die Bearbeitungsvorrichtung aus ihrer (zentrierten) Position gegenüber der Längsachse des Rohrs mit geringerem Innendurchmesser umzulenken (Figuren 4c, 4d). In diesem Fall muss die Lenkvorrichtung eine „Umlenkungsvorrichtung“ umfassen bzw. als solche ausgebildet sein. Ist die Bearbeitungsvorrichtung hingegen mit einer „nachlaufenden“ Lenkeinrichtung (404), wie aus Figur 4e ersichtlich, ausgestattet, muss die zentrierte Lage der Bearbeitungsvorrichtung zur Längsachse des dünneren Rohrs ganz im Gegenteil beibehalten werden, um mit den materialabtragenden Mitteln in der beabsichtigten Weise die Lochkanten des Innenverkleidungsrohrs zu erreichen. Ob die Bearbeitungsvorrichtung mittels der Lenkung aus ihrer Lage zur Längsachse des dünneren Rohrs umgelenkt wird oder ihre Lage beibehalten muss, hängt also von der näheren Konstruktion der Bearbeitungsvorrichtung ab, die im Belieben des Fachmanns steht.
- Vor dem geschilderten Hintergrund erklären sich schlüssig auch diejenigen Beschreibungsstellen in der Klagepatentschrift (Abs. [0019], [0025], [0034] a.E.), die sich dazu verhalten, dass die patentgemäße Lenkvorrichtung die Bearbeitungsvorrichtung von der Richtung der Längsachse des dünneren Rohrs umlenken (Figuren 4c, 4d) oder die Bearbeitungsvorrichtung in Richtung der Längsachse des dünneren Rohrs halten kann (Figur 4e). Die letztgenannte Variante ist erfindungsgemäß, wenn die übrige Konstruktion der Bearbeitungsvorrichtung und ihrer Lenkeinrichtung dafür sorgt, dass trotz Beibehaltung der Ausrichtung zur Längsachse des dünneren Rohrs die Lochkanten des Innenverkleidungsrohrs bearbeitet werden können.
-
bb)
Eine patentgemäße Lenkvorrichtung liegt damit nicht nur dann vor, wenn die Bearbeitungsvorrichtung durch eine Komponente/Einrichtung der Bearbeitungsvorrichtung aus ihrer (zentrierten) Position gegenüber der Längsachse des dünneren Rohrs umgelenkt werden kann. Als Lenkvorrichtung im Sinne des Klagepatents kommt vielmehr auch eine Vorrichtung in Betracht, die die Bearbeitungsvorrichtung während des Abtragens von Material von den Kanten eines im Verbindungsbereich des Rohrsystems erzeugten Lochs in der Richtung der Längsachse des dünneren Rohrs hält (vgl. auch Prof. J, Gutachten v. 25.02.2022, S. 14/15, 21, 22, 35, 39; 2. Ergänzungsgutachten v. 31.10.2023, S.14; Sitzungsprotokoll v. 15.02.2024, S. 3). - Jedes andere Verständnis stünde im evidenten Widerspruch zur Patentbeschreibung, in der es in den vorstehend bereits erwähnten Beschreibungsstellen u.a. heißt (Hervorhebungen hinzugefügt):
- „Die Bearbeitungsvorrichtung kann auch eine Lenkvorrichtung zum Steuern der Längs(Dreh-)Achse der Spindel der Bearbeitungsvorrichtung bezüglich der Längsachse des Rohrsystems umfassen, beispielsweise durch Umlenken der Bearbeitungsvorrichtung von der Richtung der Längsachse oder Halten der Bearbeitungsvorrichtung in eine bestimmte Richtung, beispielsweise in die Richtung der Längsachse des Rohrs.“ (Abs. [0019], S. 4 Z. 26-31)
- „… Während des Schleifens der Ränder des Lochs kann die Dreh-(Längs)Achse der Schleifvorrichtung gesteuert werden, beispielsweise unter Verwendung einer Lenkvorrichtung von der Richtung der Längsachse des dünneren Rohrs umgelenkt werden, oder kann die Schleifvorrichtung unter Verwendung einer Lenkvorrichtung in einer bestimmten Richtung, beispielsweise in der Richtung des dünneren Rohrs, gehalten werden. …“ (Abs. [0025], S. 9 Z. 11-16)
- „… Die Steuerung kann beispielsweise das Biegen der Vorrichtung weg von der Abzweigleitung oder das Halten der Drehachse der Spindel in eine bestimmte Richtung, beispielsweise in die Richtung der Längsachse der Abzweigleitung, umfassen.“ (Abs. [0034], S. 9 Z. 33-36).
- Außerdem hätte ein abweichendes Verständnis zu Folge, dass die in Figur 4e gezeigte und in Abs. [0037] beschriebene Bearbeitungsvorrichtung, die nach der Patentbeschreibung (Abs. [0037], S. 9 Z. 12) eine „alternative Lenkvorrichtung (401)“ aufweist, trotz ihrer Lenkvorrichtung nicht unter den Anspruchswortlaut fiele.
- Eine solche Auslegung verbietet sich. Denn der Patentanspruch ist insoweit im Lichte der Beschreibung und der Zeichnungen auszulegen. Die Auslegung eines Patentanspruchs ist stets geboten und darf auch dann nicht unterbleiben, wenn dessen Wortlaut eindeutig zu sein scheint (vgl. BGH, GRUR 2015, 875, 877 Rn. 16 – Rotorelemente, mwN.; GRUR 2016, 361 Rn. 14 – Fugenband; GRUR 2021, 942 Rn. 22 – Anhängerkupplung II). Die Auslegung soll nämlich nicht nur Unklarheiten beseitigen, sondern ist generell angebracht, um die unter Schutz gestellte technische Lehre in ihrem Inhalt und ihrer Reichweite zu erfassen (BGH, GRUR 2015, 875 Rn. 16 – Rotorelemente, mwN). Zur Auslegung des Patentanspruchs sind die Beschreibung und Zeichnungen heranzuziehen. Denn die Beschreibung des Patents kann Begriffe eigenständig definieren und insoweit ein „patenteigenes Lexikon“ darstellen (BGH, GRUR 1999, 909 – Spannschraube; GRUR 2015, 875 Rn. 16 – Rotorelemente; GRUR 2015, 972 Rn. 22 – Kreuzgestänge; GRUR 2016, 361 Rn. 14 – Fugenband; GRUR 2021, 942 Rn. 22 – Anhängerkupplung II). Auch der Grundsatz, dass bei Widersprüchen zwischen Anspruch und Beschreibung der Anspruch Vorrang genießt, weil dieser und nicht die Beschreibung den geschützten Gegenstand definiert und damit auch begrenzt (BGHZ 189, 330 Rn. 23 = GRUR 2011, 701 – Okklusionsvorrichtung), schließt nicht aus, dass sich aus der Beschreibung und den Zeichnungen ein Verständnis des Patentanspruchs ergibt, das von demjenigen abweicht, das der bloße Wortlaut des Anspruchs vermittelt. Funktion der Beschreibung ist es, die geschützte Erfindung zu erläutern (BGH, GRUR 2015, 875 Rn. 16 – Rotorelemente). Im Zweifel ist daher ein Verständnis der Beschreibung und des Anspruchs geboten, das beide Teile der Patentschrift nicht in Widerspruch zueinander bringt, sondern sie als aufeinander bezogene Teile der dem Fachmann mit dem Patent zur Verfügung gestellten technischen Lehre als eines sinnvollen Ganzen versteht. Die Patentschrift ist daher in einem sinnvollen Zusammenhang zu lesen und der Patentanspruch im Zweifel so zu verstehen, dass sich keine Widersprüche zu den Ausführungen in der Beschreibung und den bildlichen Darstellungen in den Zeichnungen ergeben (BGH, GRUR 2015, 875 Rn. 16 – Rotorelemente; GRUR 2015, 972 Rn. 22 – Kreuzgestänge; GRUR 2018, 1128 Rn. 16 – Gurtstraffer; GRUR 2021, 1167 Rn. 21 – Ultraschallwandler). Nur wenn und soweit sich die Lehre des Patentanspruchs nicht mit der Beschreibung und den Zeichnungen in Einklang bringen lässt und ein unauflösbarer Widerspruch verbleibt, dürfen die Bestandteile der Beschreibung, die im Patentanspruch keinen Niederschlag gefunden haben, nicht zur Bestimmung des Gegenstands des Patents herangezogen werden (BGH, GRUR 2011, 701 Rn. 24 – Okklusionsvorrichtung; GRUR 2015, 875 Rn. 16 – Rotorelemente; GRUR 2015, 972 Rn. 22 – Kreuzgestänge; GRUR 2021, 1167 Rn. 21 – Ultraschallwandler). Letzteres ist hier jedoch, was die vorzitierten Beschreibungsstellen sowie die Figur 4e anbelangt, nicht der Fall.
- Für die vorstehend dargetane Auslegung des Patentanspruchs 1 spricht auch, dass es in der Beschreibung heißt: „Die Lenkvorrichtung kann eine geeignete Umlenkungsvorrichtung umfassen …“ (Abs. [0019], S. 4 Z. 26-31). Wenn die Lenkvorrichtung eine Umlenkungseinrichtung, z.B. in Gestalt eines biegbaren Seils oder Kabels, nur umfassen kann, aber nicht notwendig umfassen muss, muss die patentgemäße Lenkvorrichtung auch nicht zwingend zu einer Umlenkung der Richtung der Bearbeitungsvorrichtung von der Richtung der Längsachse des Rohrs mit kleinerem Innendurchmesser geeignet sein. Schutz für eine Bearbeitungsvorrichtung mit einer Lenkvorrichtung, die hierzu in der Lage ist, beanspruchen erst die Unteransprüche 6 und 7 (vormals 7 und 8), nach welchen die Lenkvorrichtung ein Seil oder Kabel zum Ausüben einer Ablenkkraft bzw. ein Gewicht zum Ausüben einer Ablenkkraft umfasst. Der hier geltend gemachte allgemeinere Patentanspruch 1 verlangt eine solche Ausgestaltung jedoch nicht und er setzt auch keine eine Umlenkvorrichtung umfassende Lenkvorrichtung voraus. Dem kann nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, dass es in der Patentbeschreibung (Abs. [0019], S. 4 Z. 26-28) auch heißt, dass die Bearbeitungsvorrichtung eine Lenkvorrichtung umfassen „kann“, wohingegen der Patentanspruch 1 eine solche Vorrichtung zwingend voraussetzt. Für die Umlenkvorrichtung gilt dies nämlich gerade nicht. Denn das entsprechende Merkmal bzw. Teil-Merkmal, wonach die Lenkvorrichtung eine Umlenkvorrichtung umfasst, hat keinen Eingang in den Patentanspruch gefunden.
- Die in der Patentbeschreibung offenbarte Möglichkeit der Steuerung der Bearbeitungsvorrichtung durch ein Halten in eine bestimmte Richtung deckt sich weiterhin ganz offensichtlich mit der der Lenkvorrichtung zugedachten Funktion. Denn auch durch ein (bloßes) Halten der Bearbeitungsvorrichtung, beispielsweise in der Längsachse des dünneren Rohrs, kann prinzipiell ein patentgemäßes Bearbeiten aller Kantenbereiche des Lochs ermöglicht werden. Ein Umlenken ist – wie Figur 4e verdeutlicht – für die Lösung dieser Problemstellung nicht zwingend erforderlich, da auch ein Halten der Bearbeitungsvorrichtung die „Tendenz zum unkontrollierten Drehen“ (Abs. [0034], S. 9 Z. 3) verhindern kann.
-
cc)
Als patentgemäße Lenkvorrichtung kommt damit zwar auch eine Vorrichtung in Betracht, die die Bearbeitungsvorrichtung während des Abtragens von Material von den Kanten eines im Verbindungsbereich des Rohrsystems in Richtung der Längsachse des Rohrs mit kleinerem Innendurchmesser hält. Bei einer solchen Lenkvorrichtung kann es sich aber nicht zugleich um die vorstehenden Teile der Bearbeitungsvorrichtung, sondern es muss sich bei dieser um ein zusätzliches Bauteil bzw. eine zusätzliche Einrichtung handeln. -
(1)
Nach Auffassung der fachkundigen Technischen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes gibt das die Lenkungsvorrichtung betreffende Merkmal 3 c) vor, dass die Bearbeitungsvorrichtung eine tatsächliche physische Komponente aufweist, die zur aktiven Steuerung der Richtung der Bearbeitungsvorrichtung in Bezug auf die Längsachse des Rohrs mit kleinerem Durchmesser im Rohrsystem geeignet ist, wobei die vorstehenden Teile bzw. deren elastische Eigenschaften gerade keine Lenkvorrichtung im Sinne dieses Merkmals darstellen (TBK, Mitt. v. 06.04.2023, Anl. B 25, S. 4/5 Rn. 7.3, S. 5/6 Rn. 8; Niederschrift über die mündliche Verhandlung v. 15.03.2023, Anl. B 24, S. 5; so auch der finnische „Market Court“ („Markkinaoikeus“) zum parallelen finnischen Gebrauchsmuster, vgl. Entscheidung v. 22.12.2020, Anl. B 21, Ziff. 15 f.; a.A.: Einspruchsabteilung des EPA, Entscheidung v. 23.12.2021, Anl. K 21, S. 7/8 Rn. 25, S. 10 Rn. 32; Prof. J, Gutachten v. 25.02.2022, S. 12 und 2. Ergänzungsgutachten v. 31.10.2023, S.12 ff.). -
(2)
An diese Beurteilung ist der Senat zwar nicht gebunden. Denn die Entscheidungsgründe einer das Klagepatent teilweise aufrechterhaltenen Einspruchsentscheidung oder eines teilweise aufrechterhaltenden Nichtigkeitsurteils binden den Verletzungsrichter grundsätzlich nicht, sondern sie dienen ihm lediglich als – wertvolle – Auslegungshilfe (vgl. Senat, Urt. v. 09.12.2021 – I-2 U 9/21, GRUR-RS 2021, 39586 Rn. 59 – Halterahmen III, mwN). Die vorliegende Stellungnahme der Technischen Beschwerdekammer ist jedoch als (gewichtige) sachverständige Äußerung zu würdigen (vgl. BGH, GRUR 1996, 757, 759 – Zahnkranzfräse; GRUR 1998, 895 – Regenbecken; GRUR 2010, 950 Rn. 14 – Walzenformgebungsmaschine). Der erkennende Senat tritt nach eigener Prüfung der Auffassung der Technischen Beschwerdekammer insoweit bei, als die Technische Beschwerdekammer davon ausgeht, dass es sich bei der patentgemäßen Lenkvorrichtung um eine physische Komponente handelt, welche nicht (allein) von den vorstehenden Teilen der Bearbeitungsvorrichtung gebildet werden kann. - Dem Begriff „Lenkvorrichtung“ entnimmt der Fachmann, dass es sich bei diesem Element der Bearbeitungsvorrichtung um eine physische Komponente handelt, die geeignet ist, die Bearbeitungsvorrichtung in Bezug auf die Längsachse des Rohrs mit kleinerem Durchmesser in einer der oben beschriebenen Weisen zu steuern. Außerdem deutet bereits die für das in Rede stehende Vorrichtungselement gewählte Bezeichnung („…vorrichtung“) darauf hin, dass es sich bei diesem Vorrichtungsteil um ein gesondertes Bauteil bzw. eine gesonderte Einrichtung handelt.
- Das ergibt sich auch aus der Patentbeschreibung. Denn nach den den besonderen Beschreibungsteil einleitenden Angaben in der Klagepatentschrift (Abs. [0027], S. 6 Z. 31-32) wird eine Bearbeitungsvorrichtung, „die (Anm.: auch) eine Lenkvorrichtung umfasst“, erstmals in den Figuren 3a und 3b gezeigt. Das dort figürlich dargestellte Ausführungsbeispiel weist eine am vorderen Ende der Bearbeitungsvorrichtung angeordnete, lagermontierte Lenkvorrichtung (301) auf, welche ein Seil oder Kabel (302) umfasst, an welchem ein Gewicht (303) befestigt ist (Abs. [0032]). Der Einsatz einer Bearbeitungsvorrichtung mit einer solchen Lenkvorrichtung (301, 302, 303) ist in der Figur 4c gezeigt und in Abs. [0035] der Patentschrift näher beschrieben. Die betreffende Bearbeitungsvorrichtung (100) verfügt augenscheinlich über eine gesonderte Lenkvorrichtung, die aus einem am vorderen Ende der Bearbeitungsvorrichtung montierten Bauteil (301), einem Kabel/Seil (302) und einem Gewicht (303) besteht. Entsprechendes gilt für die in Figur 4d gezeigte und in Abs. [0036] beschriebene Bearbeitungsvorrichtung (100). Auch diese verfügt über eine gesonderte Lenkvorrichtung, die aus einem am vorderen Ende der Bearbeitungsvorrichtung montierten Bauteil (301) und einem Kabel (302) besteht. Um eine gesonderte Lenkvorrichtung handelt es sich auch bei der „alternativen Lenkvorrichtung“ (404) der in der nachfolgend eingeblendeten Figur 4e gezeigten und in Abs. [0037] beschriebenen Bearbeitungsvorrichtung (100).
- Bei dieser Lenkvorrichtung (404) handelt es sich augenscheinlich um ein zusätzliches, gesondertes Bauteil in Gestalt eines zylindrischen Elements bzw. einer Stange, das sich weit hinter der eigentlichen Bearbeitungsvorrichtung (100) bzw. hinter den vorstehenden Teilen der Bearbeitungsvorrichtung (100) befindet.
- Eine patentgemäße Lenkvorrichtung zeichnet sich nach diesen Ausführungsbeispielen des Klagepatents dadurch aus, dass es sich bei dieser um ein zusätzliches Bauteil bzw. um eine zusätzliche Einrichtung handelt, das/die neben den vorstehenden Teilen vorgesehen ist.
- Diesem Verständnis steht nicht entgegen, dass die Klagepatentschrift hinsichtlich der in Figur 2a gezeigten Bearbeitungsvorrichtung in Abs. [0030] u.a. ausführt, dass dort die federnden vorstehenden Teile (102) als die „Lenkvorrichtung der Scheibe (201)“ dienen, die in dieser Ausführungsformen die Vorrichtung zum Entfernen von Material ist. Danach dienen die vorstehenden Teile (102) bei dieser Ausführungsform zwar auch als „Lenkvorrichtung“, allerdings ausdrücklich als „Lenkvorrichtung der Scheibe“ und nicht der Bearbeitungsvorrichtung während der Kantenbearbeitung gemäß Merkmal 3 c). Die Scheibe (201), welche am vorderen Ende der Spindel (101) befestigt ist, dient zum Durchbohren eines Lochs in das Innenverkleidungsrohr bzw. die Innenverkleidungsfläche (vgl. Abs. [0030], S. 8 Z. 4-7). Wenn mittels der Bearbeitungsvorrichtung zunächst ein solches Loch in die Innenverkleidungsfläche gebohrt wird, ist die Spindel (101) vollständig in dem dünneren Rohr aufgenommen. Die Scheibe (201) wird hierbei zusammen mit der Spindel (101) von den vorstehenden Teilen (102) innerhalb des dünneren Rohrs positioniert und die Längsachse der Spindel (101) sowie der Scheibe (201) werden in der Richtung der Längsachse des dünneren Rohrs gehalten. Mit der Kantenbearbeitung, um die es in Merkmal 3 c) geht, befasst sich die in Rede stehende Beschreibungsstelle gerade nicht. Denn das Klagepatent unterscheidet zwei Stufen der Bearbeitung: Erst wird das Loch hergestellt und in einem zweiten Arbeitsschritt – gemäß Merkmal 3 c) – der verbleibende Kragen an den Kanten des Loches entfernt (vgl. Gutachten Prof. J v. 25.02.2022, S. 5). Auch wenn die Scheibe (201) an der Spindel (101) befestigt ist und die vorstehenden Teile (102) damit während des Bohrens des Lochs insoweit auch als „Lenkeinrichtung“ für die Spindel dient, lässt sich aus dieser Beschreibungspassage daher nicht herleiten, dass es sich bei der angesprochenen „Lenkvorrichtung der Scheibe“ auch um eine Lenkvorrichtung im Sinne des Merkmals 3 c) handelt, nämlich um eine Lenkvorrichtung „zum Steuern der Richtung der Bearbeitungsvorrichtung bezüglich der Längsachse des Rohrs mit kleinerem Durchmesser im Rohrsystem während des Abtragens von Material von den Kanten eines Lochs, das im Verbindungsbereich des Rohrsystems hergestellt ist“.
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In diesem Verständnis sieht sich der Fachmann durch die Tatsache bestätigt, dass sich in den Figuren 2a und 2b kein Bezugszeichen für die in Merkmal 3 c) erwähnte Lenkvorrichtung findet. Die Figuren 2a und 2b verdeutlichen aus seiner Sicht allein den vorgelagerten Arbeitsschritt der Erzeugung eines Lochs im Verbindungsbereich des Rohrsystems, dessen Kanten sodann im nächsten Arbeitsschritt abgeschliffen werden müssen. Dass bei der Erstellung des Lochs eine Lenkung der Scheibe technisch sinnvoll ist, leuchtet dem Fachmann ein, da insbesondere bei Rohranordnungen, die nicht 90 Grad betragen, wegen der schrägen Anordnung der Scheibe gegenüber dem zu durchbrechenden Innenverkleidungsrohr bzw. Innenverkleidungsfläche einseitige Bearbeitungskräfte auftreten (vgl. Gutachten Prof. J v. 25.02.2022, S. 3 ff.).
Der vorstehend dargetanen Auslegung steht auch nicht entgegen, dass die Klagepatentschrift in Bezug auf die in den Figuren 1 sowie den Figuren 2a und 2b gezeigten Ausführungsformen jeweils von einer „Ausführungsform der Erfindung“ spricht (Abs. [0030], S. 6 Z. 28, 29-30). Dem Fachmann ist bei Lektüre der Klagepatentschrift klar, dass diese Figuren den Gegenstand der Erfindung zunächst nur ausschnittsweise zeigen, nämlich ohne Lenkvorrichtung im Sinne des Merkmals 3 c). In dieser Annahme sieht er sich zum einen durch die Tatsache bestätigt, dass sich in diesen Figuren kein Bezugszeichen für die Lenkvorrichtung findet, und zum anderen dadurch, dass es erst in Bezug auf die Figuren 3a und 3b in der einleitenden Figurenbeschreibung ausdrücklich heißt, dass diese Figuren eine Bearbeitungsvorrichtung einer Ausführungsform der Erfindung zeigen, „die eine Lenkvorrichtung umfasst“ (Abs. [0027], S. 6 Z. 31-32). Der Fachmann erkennt, dass die Figuren konsequent in der Reihenfolge der Merkmale des Patentanspruchs aufeinander aufbauen und die Erfindung in dieser Reihenfolge erläutern. Figur 1 zeigt zunächst nur einen „Teil einer Bearbeitungsvorrichtung“ und konzentriert sich hierbei insbesondere auf die „vorstehenden Teile“ (102) und die „Mittel“ (106) im Sinne der Merkmale 3 a) und 3 b). Die Figuren 2a und 2b legen den Fokus auf eine Ausführungsform mit einer zusätzlichen – von Patentanspruch 1 nicht zwingend vorausgesetzten – Scheibe zum Punktieren eines Lochs in die Innenverkleidungsfläche. Die Figuren 3a und 3b zeigen dann erstmals eine Ausführungsform mit einer patentgemäßen Lenkvorrichtung (Merkmal 3 c)) zum Bearbeiten der Kanten des Loches. Dementsprechend wird in dem zugehörigen Abs. [0032] (S. 8 Z. 18-20) einleitend auch gesagt, dass bei dieser Ausführungsform eine (lagermontierte) Lenkvorrichtung an der (Bearbeitungs-)Vorrichtung befestigt wurde. Aus dieser aufeinander aufbauenden Reihenfolge erklärt sich, warum in den Figuren 1 bis 2b keine Lenkvorrichtung im Sinne des Merkmals 3 c) gezeigt ist. Eine solche wird erst im Zusammenhang mit der Figur 3a eingeführt und beschrieben. Dem Durchschnittsfachmann erschließt sich hieraus, dass in den ersten Figuren eine Lenkvorrichtung im Sinne des Merkmals 3 c) bewusst weggelassen wurde, dieses Bauteil dort also fehlt, so dass diese Figuren keine patentgemäße Ausführungsform in ihrer Gesamtheit zeigen.
- Gestützt wird diese Annahme durch die Tatsache, dass es in der besonderen Patentbeschreibung einleitend betreffend die Figur 1 explizit heißt, dass diese (nur) „einen Teil der Bearbeitungsvorrichtung gemäß einer Ausführungsform der Erfindung“ zeigt (Abs. [0028], S. 7 Z. 3-4; vgl. auch Prof. J, Gutachten v. 25.02.2022, S. 8, der zutreffend darauf hinweist, dass der Beschreibungsstelle eindeutig zu entnehmen ist, dass nur ein Teil der Bearbeitungsvorrichtung gezeigt ist). Lediglich einen Teil der patentgemäßen Bearbeitungsvorrichtung zeigt diese Zeichnung nicht nur deshalb, weil ein – im Patentanspruch nicht erwähnter – Motor nicht gezeigt ist (so aber Prof. J, Gutachten v. 25.02.2022, S. 8), sondern vor allem und gerade deshalb, weil in dieser Zeichnung eine Lenkvorrichtung im Sinne des Merkmals 3c) noch nicht figürlich dargestellt ist. Wie der angesprochene Durchschnittsfachmann unschwer erkennt, ist dies bei der in Figur 2a gezeigten Bearbeitungsvorrichtung mit ihrer „Scheibe“ (201) nicht anders, weshalb auch in dieser Zeichnung nur ein Teil der patentgemäßen Bearbeitungsvorrichtung gezeigt ist.
- Dem Aufbau einer stufenweisen Erläuterung der Erfindung folgen auch die Figuren der Figurengruppe 4. Während Figur 4a beispielhaft das Rohrsystem (Merkmal 2) und die Notwendigkeit der Punktierung eines Lochs in die Innenverkleidungshülse (402) erläutert, um die (dünnere) Abzweigungsleitung (403) nach einer Reparatur der (dickeren) Hauptleitung (401) wieder fluidmäßig an das Hauptrohr (401) anzubinden, verdeutlicht Figur 4b das Verbleiben eines Kragens im Verbindungsbereich und die Notwendigkeit des Abschleifens dieses Kragens, um eine zufriedenstellende Endqualität zu erreichen. Im Zusammenhang mit der Figur 4b wird auch die Problematik einer Bearbeitungsvorrichtung ohne Lenkvorrichtung erläutert. Ist die dünnere Abzweigleitung mit der dickeren Hauptleitung z.B. in einem typischen Winkel von 45 Grad verbunden, tendiert eine solche Bearbeitungsvorrichtung, die wegen der möglichen Krümmungen der Abzweigungsleitungen „relativ kurz“ sein muss, bei Eintritt in die Hauptleitung dazu, sich unkontrolliert zu drehen. Um die verbliebenen Kanten, insbesondere den unteren Rand des Lochs, geeignet schleifen zu können, bedarf es daher einer Lenkvorrichtung, durch die die Tendenz zum unkontrollierten Drehen der Bearbeitungsvorrichtung gesteuert wird (Abs. [0034], S. 9 Z. 24-33). Die Lösung für diese in der Figur 4b gezeigte Problematik wird dann in den folgenden Figuren der Figurengruppe 4 verdeutlicht. Diese zeigen die Verwendung einer vorgelagerten Lenkvorrichtung, die eine Umlenkungsvorrichtung zum Umlenken der Bearbeitungsvorrichtung umfasst (Figuren 4c / 4d), bzw. die Verwendung einer der Bearbeitungsvorrichtung nachgelagerten Lenkvorrichtung zum Halten der Bearbeitungsvorrichtung (Figur 4e). Wie bei den Figuren 3a und 3b wird folgerichtig auch hier erstmals bei den Figuren 4c, 4d und 4e ein Bezugszeichen für die Lenkvorrichtung (301 bzw. 404) angegeben, da eine solche bei der in den Figuren 4a und 4b gezeigten Ausführungsform nicht vorhanden ist.
- Dem gefundenen Auslegungsergebnis steht schließlich auch die Figur 6a nicht entgegen (a.A.: Prof. J, Gutachten v. 25.02.2022, S. 35), die nach der Klagepatentschrift „die Verwendung der Vorrichtung einer Ausführungsform der Erfindung zum Honen der Innenfläche und des Verbindungsbereichs eines Rohrsystems“ zeigt (Abs. [0027], S. 7 Z. 1-2). In dem diese Figur – sowie die Figur 6b – betreffenden Abs. [0039] der Klagepatentschrift wird eine mögliche Verwendung der in den Figuren 2a und 2b gezeigten Bearbeitungsvorrichtung bei einem Rohrsystem mit ineinander übergehenden Rohren mit unterschiedlichen Durchmessern (= 180°-Verbindung) beschrieben. Diese Beschreibungsstelle enthält wiederum keinen Hinweis darauf, dass die gezeigte Bearbeitungsvorrichtung (auch) eine Lenkvorrichtung im Sinne des Merkmals 3 c) umfasst, und in Figur 6a findet sich auch kein Bezugszeichen für die Lenkvorrichtung. Wie die Figuren 1, 2a und 2b wird Figur 6 zudem in dem die besondere Patentbeschreibung einleitenden Abs. [0027] lediglich als „Ausführungsform“ bezeichnet, wohingegen die Figuren 3a und 3b ausdrücklich als „Ausführungsform der Erfindung, die eine Lenkvorrichtung umfasst“ beschrieben werden. Der Fachmann geht daher davon aus, dass die Lenkvorrichtung bei der in Figur 6a gezeigten Ausführungsform wie bei der in Figur 2a figürlich dargestellten Ausführungsform weggelassen worden ist.
- Die Figuren 1, 2a und 2b, 4a und 4b sowie 6a und 6b sind vor diesem Hintergrund zwar prinzipiell zur Bestimmung des Gegenstands des Klagepatents heranzuziehen. Das gilt aber nicht für die Auslegung des Merkmals 3 c), weil sie eben jeweils nur einen Teil/Ausschnitt der unter Schutz gestellten Bearbeitungsvorrichtung zeigen, nämlich eine Bearbeitungsvorrichtung ohne Lenkvorrichtung im Sinne des Merkmals 3c). Insoweit steht auch die die Figur 2a betreffende Beschreibungsstelle in Abs. [0030], welche im Einspruchsbeschwerdeverfahren nicht geändert worden ist, weil sich die Technische Beschwerdekammer an einer entsprechenden Änderung aus formellen (verfahrenstechnischen) Gründen gehindert gesehen hat, nur scheinbar im Widerspruch zu der hier vertretenen Auslegung des Patentanspruchs bzw. des Merkmals 3 c).
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(3)
Soweit der gerichtliche Sachverständige annimmt, dass die vorstehenden Teile außer zum Materialabtrag – bei entsprechender Dimensionierung/Gestaltung – zusätzlich auch als Lenkvorrichtung zur Steuerung der Bearbeitungsvorrichtung genutzt werden können (Gutachten v. 25.02.2022, S. 14/15, 22; 2. Ergänzungsgutachten v. 31.10.2023, S. 13 ff.) und es sich deshalb bei der Lenkvorrichtung nicht um ein zusätzliches Bauteil bzw. Element handeln muss (Gutachten v. 25.02.2022, S. 15; 2. Ergänzungsgutachten v. 31.10.2023, S.15), vermag der Senat dem aus den vorstehend angeführten Gründen nicht zu folgen. - Der Sachverständige (Gutachten v. 25.02.2022, S. 14/15) stützt seine Auffassung vor allem auf Abs. [0029] der Klagepatentschrift, in dem es u.a. heißt, dass die vorstehenden Teile die Bearbeitungsvorrichtung bzw. Spindel „auch in der gewünschten Position halten“ (S. 7, Z. 29-30). Diese Positionierung ist allerdings Gegenstand des Merkmals 3 b), weshalb in dieser Beschreibungsstelle allein dieses Merkmal angesprochen ist. Wie bereits ausgeführt, steuert die patentgemäße Lenkvorrichtung ergänzend hierzu die Richtung der Bearbeitungsvorrichtung bezüglich der Längsachse des dünneren Rohrs während des Abtragens von den Kanten des im Verbindungsbereich erzeugten Lochs (Merkmal 3 c)). Von einer – durch die vorstehenden Teile gebildeten – Lenkvorrichtung zum Steuern der Richtung der Bearbeitungsvorrichtung bezüglich der Längsachse des dünneren Rohrs während des Abtragens von Material von den Kanten eines Lochs, das im Verbindungsbereich des Rohrsystems hergestellt worden ist, ist in der betreffenden Beschreibungsstelle indes nicht die Rede. Gleiches gilt für den vom Sachverständigen (2. Ergänzungsgutachten v. 31.10.2023, S.15) ferner in Bezug genommenen Abs. [0028] der Patentbeschreibung. Dort heißt es zwar, dass eine Funktion der vorstehenden Teile darin besteht, beispielsweise durch Zentrierung, die Spindel innerhalb des Rohrs zu positionieren und die Längsachse der Spindel in der Richtung des Rohrs zu halten. Eine Lenkvorrichtung im Sinne des Merkmals 3 c), die während des Abtragens von Material eines im Verbindungsbereich des Rohrsystems hergestellten Lochs wirksam ist und die Längsachse der Bearbeitungsvorrichtung während dieses Materialabtrags in der Richtung des Rohrs hält, ist indes auch dort nicht angesprochen.
- Im Übrigen kommt es unter Zugrundelegung der Auslegung des gerichtlichen Sachverständigen – und der Klägerin – für die Frage, ob die Bearbeitungsvorrichtung im patentgemäßen Sinne gesteuert werden kann, entscheidend auf den Bereich der Bearbeitungsvorrichtung an, der bei der Bearbeitung der Kanten des Lochs im dünneren Rohr verbleibt (sog. Führungslänge). Dies bedeutet, dass ein ausreichend lang dimensionierter Bereich des Werkzeugs hinter dem bearbeitenden Bereich vorhanden sein muss, der als der Bearbeitung nachfolgender Bereich in der Lage ist, das Werkzeug bei der Bearbeitung in die Mittelachse des Rohrs zu lenken (vgl. Prof. J, Gutachten v. 25.02.2022, S. 23). Mit anderen Worten: Die vorstehenden Teile müssen – in axialer Richtung – eine solche Länge aufweisen, dass sie die Bearbeitungsvorrichtung durch Anlehnen an die Wände des dünneren Rohrs in Position halten, während sich ein Teil/Abschnitt der Bearbeitungsvorrichtung bereits im dickeren Hauptrohr befindet. In der Patentbeschreibung (Abs. [0034], S. 9, Z. 28-30) wird der Fachmann allerdings explizit darauf hingewiesen, dass die Bearbeitungsvorrichtung „relativ kurz“ sein muss, um durch die Krümmungen des dünneren Rohrs geschoben werden zu können. Der Fachmann wird vor diesem Hintergrund nicht annehmen, dass die vom Klagepatent vorgeschlagene Lösung für das Problem des unkontrollierten Drehens der Bearbeitungsvorrichtung beim Eintritt in das dickere Rohr (Abs. [0034], S. 9 Z. 3) in einer – in axialer Richtung – ausreichend langen Dimensionierung der vorstehenden Teile liegt. Denn eine solche Lösung, die das Vorhandensein einer patentgemäßen Lenkvorrichtung von der Länge der Bearbeitungsvorrichtung abhängig macht, kollidiert mit dem Ziel einer möglichst kurzen Ausbildung des Bearbeitungswerkzeugs und wird auch an keiner Stelle der Patentschrift als erfindungsgemäß offenbart (vgl. auch TBK, Mitt. v. 06.04.2023, Anl. B 25, S. 5 Rn. 7.3). Dem Klagepatent geht es gerade darum, eine möglichst kurze Bearbeitungsvorrichtung während der Kantenbearbeitung steuern zu können, sei es durch eine vor- oder nachgelagerte Lenkvorrichtung. Bei dieser Lenkvorrichtung handelt es sich patentgemäß gegenüber den vorstehenden Teilen der Bearbeitungsvorrichtung um eine zusätzliche physische Komponente der unter Schutz gestellten Vorrichtung.
- Soweit der gerichtliche Sachverständige schließlich ausgehend von der Figur 4e des Klagepatents Erwägungen in Bezug auf eine „modifizierte“ Ausführungsform ohne eine Lenkvorrichtung in Gestalt eines zylindrischen Elements (404) anstellt, bei der sich die vorstehenden Teile – in axialer Richtung – bis zur Position der in Figur 4e gezeigten Lenkvorrichtung (404) erstrecken und es sich bei den vorstehenden Teilen und der Lenkvorrichtung letztlich um ein einziges Bauteil handelt (2. Ergänzungsgutachten v. 31.10.2023, S. 14/15), enthält die Klagepatentschrift keine entsprechenden Hinweise. Modifizierte Ausführungsformen, wie sie der Sachverständige, in seinem zweiten Ergänzungsgutachten (S. 14, Bild 12, 2. bis 4. Figur von links) dargestellt hat, sind im Klagepatent nicht offenbart.
- An die Auslegung des Patentanspruchs durch den Sachverständigen ist der Senat auch nicht gebunden. Ein erteilter Patentanspruch hat Rechtsnormcharakter (BGH, GRUR 2008, 887 Rn. 13 – Momentanpol II; GRUR 2015, 868 Rn. 25 – Polymerschaum; Senat, Urt. v. 26.11.2015 – I-2 U 74/14, BeckRS 2016, 15016 Rn. 33) und es ist eine Rechtsfrage, wie ein Patent auszulegen ist (st. Rspr.; vgl. nur BVerfG, GRUR-RR 2009, 441, 442; BGH, GRUR 2010, 858 Rn. 15 – Crimpwerkzeug III; GRUR 2015, 868 Rn. 25 – Polymerschaum; GRUR 2015, 972 Rn. 20 – Kreuzgestänge; GRUR 2021, 574 Rn. 32 – Kranarm; Senat, Urt. v. 26.11.2015 – I-2 U 74/14, BeckRS 2016, 15016 Rn. 33 mwN). Die Bestimmung des Sinngehalts eines Patentanspruchs ist demgemäß Rechtserkenntnis und vom Verletzungsgericht eigenverantwortlich vorzunehmen (BGH, GRUR 2015, 972 Rn. 20 – Kreuzgestänge, mwN). Die Aufgabe der Auslegung des Patentanspruchs darf deshalb nicht einem gerichtlichen Sachverständigen überlassen werden (BGH, GRUR 2007, 410 Rn. 18 – Kettenradanordnung; GRUR 2008, 779 Rn. 30 – Mehrgangnabe; GRUR 2021, 574 Rn. 32 – Kranarm). Grundlage der Auslegung eines Patents bildet zwar das fachmännische Verständnis von den im Patentanspruch verwendeten Begriffen und vom Gesamtzusammenhang des Patentanspruchs. In tatsächlicher Hinsicht ist dies jedoch nur insoweit von Bedeutung, als es um die Frage geht, welche objektiven technischen Gegebenheiten, welches Vorverständnis der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Sachkundigen, welche Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen und welche methodische Herangehensweise dieser Fachleute das Verständnis des Patentanspruchs und der in ihm verwendeten Begriffe bestimmen oder jedenfalls beeinflussen können (BGH, GRUR 2006, 131 Rn. 19 – Seitenspiegel; GRUR 2007, 410 Rn. 18 – Kettenradanordnung I; GRUR 2007, 859 Rn. 14 – Informationsübermittlungsverfahren I; GRUR 2007, 1059 Rn. 38 – Zerfallszeitmessgerät; GRUR 2008, 779 Rn. 31 – Mehrgangnabe; GRUR 2008, 887 Rn. 14 – Momentanpol II; GRUR 2010, 314 Rn. 18 – Kettenradanordnung II), was hier alles keine entscheidende Rolle spielt. Das Verständnis des Patentanspruchs selbst durch den Durchschnittsfachmann ist dagegen unmittelbarer tatsächlicher Feststellung regelmäßig entzogen (BGH, GRUR 2006, 131 Rn. 19 – Seitenspiegel; GRUR 2008, 887 Rn. 14 – Momentanpol II).
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B.
Ausgehend von der vorstehenden Auslegung des Patentanspruchs 1 bzw. des Merkmals 3 c) machen die angegriffenen Ausführungsformen – entgegen der Beurteilung des Landgerichts – von der technischen Lehre des Patentanspruchs 1 des Klagepatents keinen Gebrauch. Denn sie verfügen unstreitig über keine gesonderte, von den vorstehenden Teilen in Gestalt der Sandpapierblätter abgrenzbare physische Komponente zum Steuern der Richtung der Bearbeitungsvorrichtung bezüglich der Längsachse des Rohrs mit kleinerem Durchmesser im Rohrsystem, weshalb sie schon aus diesem Grunde keine Lenkvorrichtung im Sinne des Merkmals 3 c) aufweisen. Darauf, ob und ggf. bei welchem Winkel zwischen dem dünneren und dem dickeren Rohr eines Rohrsystems die angegriffenen Ausführungsformen zu einem hinreichenden Abtrag von Material von den Kanten eines im Verbindungsbereich des Rohrsystems hergestellten Lochs geeignet sind, kommt es vor diesem Hintergrund nicht an. Die diesbezüglichen Streitfragen müssen hier nicht entschieden werden, weshalb es keiner weiteren Auseinandersetzung mit dem betreffenden Vorbringen der Parteien und keiner Würdigung der diesbezüglichen Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen bedarf. - III.
- Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.
- Die Anordnungen zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeben sich aus §§ 708 Nr. 10, 711, 108 ZPO.
- Für eine Zulassung der Revision bestand keine Veranlassung, weil die in § 543 ZPO aufgestellten Voraussetzungen dafür ersichtlich nicht gegeben sind. Es handelt sich um eine reine Einzelfallentscheidung ohne grundsätzliche Bedeutung, mit der der Bundesgerichtshof auch nicht im Interesse einer Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung befasst werden muss (§ 543 Abs. 2 ZPO).