Düsseldorfer Entscheidungen Nr. 3329
Oberlandesgericht Düsseldorf
Urteil vom 02. November 2022, I-2 U 128/22
Vorinstanz: 4b O 35/22
- A. Die Berufung der Beklagten gegen das am 30.09.2022 verkündete Urteil der 4b Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die durch das Landgericht erfolgte Verurteilung zur Unterlassung aufgrund des zwischenzeitlichen Erlöschens des Klagepatents gegenstandslos ist und der Tenor im Übrigen folgende Fassung erhält:
- I. Die Beklagte wird verurteilt,
- 1. der Klägerin darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie (die Beklagte) in der Zeit vom 04.05.2012 bis zum 07.06.2023
- Waagen mit einer Tragplatte zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse und mit einer elektrischen Schaltvorrichtung zur Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage,
- bei denen die Schaltvorrichtung einen kapazitiven Näherungsschalter mit einer an der Tragplatte angeordneten Elektrode zur Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode aufweist, wobei die Tragplatte aus einem elektrisch nicht leitenden Material besteht und die Elektrode unter der Tragplatte angeordnet ist und die mit der elektrischen Schaltvorrichtung erfolgende Aus- oder Anwahl einer Funktion im Einschalten der Waage besteht,
- in der Bundesrepublik Deutschland angeboten, in Verkehr gebracht, gebraucht oder zu den genannten Zwecken eingeführt oder besessen hat,
- und zwar unter Angabe
- a) der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,
- b) der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,
- c) der Menge der ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden;
- wobei zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Kaufbelege (nämlich Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in Kopie vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;
- 2. der Klägerin darüber Rechnung zu legen, in welchem Umfang sie (die Beklagte) die zu Ziffer I. 1. bezeichneten Handlungen in der Zeit vom 04.05.2012 bis zum 07.06.2023 begangen hat, und zwar unter Angabe
- a) der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie den Namen und Anschriften der Abnehmer,
- b) der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie den Namen und Anschriften der gewerblichen Angebotsempfänger,
- c) der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet,
- d) der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten und des erzielten Gewinns,
- wobei der Beklagten vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften der nichtgewerblichen Abnehmer und der Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von der Klägerin bezeichneten, ihr gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten, in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen vereidigten Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagte dessen Kosten trägt und ihn ermächtigt und verpflichtet, der Klägerin auf konkrete Anfrage mitzuteilen, ob ein bestimmter Abnehmer oder Angebotsempfänger in der Aufstellung enthalten ist;
- 3. die unter Ziffer I. 1. bezeichneten Erzeugnisse, die sich spätestens seit dem 07.06.2023 in ihrem unmittelbaren oder mittelbaren Besitz oder in ihrem Eigentum befinden, auf ihre Kosten zu vernichten oder nach ihrer Wahl an einen von der Klägerin zu benennenden Gerichtsvollzieher zum Zwecke der Vernichtung auf ihre (der Beklagten) Kosten herauszugeben;
- 4. die unter Ziffer I. 1. bezeichneten, in der Zeit vom 04.05.2012 bis zum 07.06.2023 in Verkehr gebrachten Erzeugnisse gegenüber den gewerblichen Abnehmern unter Hinweis auf den gerichtlich (Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 30.09.2022 in Verbindung mit dem Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 21.09.2023) festgestellten patentverletzenden Zustand der Sache und mit der verbindlichen Zusage zurückzurufen, etwaige Entgelte zu erstatten sowie notwendige Verpackungs- und Transportkosten sowie mit der Rückgabe verbundene Zoll- und Lagerkosten zu übernehmen und die Erzeugnisse wieder an sich zu nehmen.
- II. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die in Ziffer I. 1. bezeichneten, in der Zeit vom 04.05.2012 bis zum 07.06.2023 begangenen Handlungen entstanden ist und noch entstehen wird.
- B. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
- C. Das Urteil und das Urteil des Landgerichts sind vorläufig vollstreckbar.
- Die Beklagte darf die Zwangsvollstreckung der Klägerin aus dem Tenor zu A. I. gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 150.000,- Euro abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
- Die Zwangsvollstreckung der Klägerin wegen ihrer Kosten darf die Beklagte gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 120 % des aufgrund der Urteile erster und zweiter Instanz vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
- D. Die Revision wird nicht zugelassen.
- E. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 250.000,- Euro festgesetzt.
- Gründe
- I.
- Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen Verletzung des deutschen Teils des europäischen Patents 1 371 XXA B2 (nachfolgend: Klagepatent), dessen eingetragene Inhaberin sie ist, zuletzt noch auf Auskunftserteilung und Rechnungslegung, Vernichtung, Rückruf sowie auf Feststellung der Schadenersatzpflicht dem Grunde nach in Anspruch.
- Das Klagepatent wurde am 07.06.2003 unter Inanspruchnahme der Prioritäten zweier deutscher Anmeldungen vom 14.06.2002 und 27.02.2003 angemeldet. Die Offenlegung der Patentanmeldung erfolgte am 17.12.2003. Der Hinweis auf die Erteilung des Klagepatents wurde am 23.09.2009 veröffentlicht. Das Klagepatent ist mit Ablauf des 07.06.2023 – während des Berufungsrechtszugs – infolge Zeitablaufs erloschen.
- Auf einen gegen das Klagepatent erhobenen Einspruch hielt die Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts das Klagepatent mit Zwischenentscheidung vom 21.06.2011 beschränkt aufrecht (schriftliche Entscheidungsgründe vom 14.07.2011 vorgelegt als Anlage BK 2). Die dagegen gerichteten Beschwerden wies die Technische Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts mit Entscheidung vom 18.01.2013 zurück.
- Das Bundespatentgericht wies eine gegen das Klagepatent erhobene Nichtigkeitsklage mit Urteil vom 09.09.2014 ab. Die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung wies der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 28.03.2017 (Az.: X ZR 17/15, Anlage K 2) zurück.
- Eine weitere das Klagepatent betreffende Nichtigkeitsklage wies das Bundespatentgericht mit Urteil vom 12.04.2022 ab.
- Das Klagepatent trägt die Bezeichnung „Waage“. Sein Patentanspruch 1 ist wie folgt gefasst:
- „Waage (1) mit einer Tragplatte (4) zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse und mit einer elektrischen Schaltvorrichtung (16, 24) zur Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage (1), dadurch gekennzeichnet, dass die Schaltvorrichtung (16, 24) einen kapazitiven Näherungsschalter mit einer an der Tragplatte (4) angeordneten Elektrode (18, 38, 44) zur Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode (18, 38, 44) aufweist, wobei die Tragplatte (4) aus einem elektrisch nicht leitenden Material besteht und die Elektrode (18, 38, 44) unter der Tragplatte (4) angeordnet ist und die mit der elektrischen Schaltvorrichtung (16, 24) erfolgende Aus- oder Anwahl einer Funktion im Einschalten der Waage besteht.“
- Die nachfolgend verkleinert wiedergegebene Fig. 1 der Klagepatentschrift zeigt eine erfindungsgemäße Waage in perspektivischer Ansicht:
- Die Beklagte bietet an und vertreibt – etwa über die Handelsplattform A – in der Bundesrepublik Deutschland digitale Küchenwaagen mit den Modellnummern B (angegriffene Ausführungsform 1; Muster vorgelegt als Anlage K 10) und C (angegriffene Ausführungsform 2; Muster vorgelegt als Anlage K 10a), die sich durch die Gestaltung ihrer Oberfläche voneinander unterscheiden. Abbildungen der angegriffenen Ausführungsformen sind nachfolgend eingeblendet.
- Angegriffene Ausführungsform 1:
- Angegriffene Ausführungsform 2:
- Die Klägerin sieht im Angebot und im Vertrieb der angegriffenen Ausführungsformen in der Bundesrepublik Deutschland eine wortsinngemäße Verletzung des Patentanspruchs 1 des Klagepatents. Die Beklagte hat erstinstanzlich eine Verletzung des Klagepatents durch die angegriffene Ausführungsformen in Abrede gestellt.
- Mit Urteil vom 30.09.2022 hat das Landgericht Düsseldorf eine Verletzung des Klagepatents bejaht und wie folgt erkannt:
- I. Die Beklagte wird verurteilt,
- 1. es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes in Höhe von bis zu 250.000,00 Euro, ersatzweise Ordnungshaft, oder einer Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, wobei die Ordnungshaft an ihrem Geschäftsführer, Herrn D, zu vollziehen ist, zu unterlassen
- Waagen mit einer Tragplatte zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse und mit einer elektrischen Schaltvorrichtung zur Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage,
- in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in den Verkehr zu bringen, zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken einzuführen oder zu besitzen,
- bei denen die Schaltvorrichtung einen kapazitiven Näherungsschalter mit einer an der Tragplatte angeordneten Elektrode zur Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode aufweist, wobei die Tragplatte aus einem elektrisch nicht leitenden Material besteht und die Elektrode unter der Tragplatte angeordnet ist und die mit der elektrischen Schaltvorrichtung erfolgende Aus- oder Anwahl einer Funktion im Einschalten der Waage besteht;
- 2. der Klägerin darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie (die Beklagte) die zu Ziffer I. 1. bezeichneten Handlungen seit dem 04.05.2012 begangen hat, und zwar unter Angabe
- a) der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,
- b) der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,
- c) der Menge der ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden;
- wobei zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Kaufbelege (nämlich Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in Kopie vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;
- 3. der Klägerin darüber Rechnung zu legen, in welchem Umfang sie (die Beklagte) die zu Ziffer I. 1. bezeichneten Handlungen seit dem 04.05.2012 begangen hat, und zwar unter Angabe
- a) der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie den Namen und Anschriften der Abnehmer,
- b) der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie den Namen und Anschriften der gewerblichen Angebotsempfänger,
- c) der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet,
- d) der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten und des erzielten Gewinns,
- wobei der Beklagten vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften der nichtgewerblichen Abnehmer und der Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von der Klägerin bezeichneten, ihr gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten, in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen vereidigten Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagte dessen Kosten trägt und ihn ermächtigt und verpflichtet, der Klägerin auf konkrete Anfrage mitzuteilen, ob ein bestimmter Abnehmer oder Angebotsempfänger in der Aufstellung enthalten ist;
- 4. die in ihrem unmittelbaren oder mittelbaren Besitz oder in ihrem Eigentum befindlichen, unter Ziffer I. 1. bezeichneten Erzeugnisse auf ihre Kosten zu vernichten oder nach ihrer Wahl an einen von der Klägerin zu benennenden Gerichtsvollzieher zum Zwecke der Vernichtung auf ihre – der Beklagten – Kosten herauszugeben;
- 5. die unter Ziffer I. 1. bezeichneten, seit dem 04.05.2012 in Verkehr gebrachten Erzeugnisse gegenüber den gewerblichen Abnehmern unter Hinweis auf den gerichtlich (Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 22.09.2022) festgestellten patentverletzenden Zustand der Sache und mit der verbindlichen Zusage zurückzurufen, etwaige Entgelte zu erstatten sowie notwendige Verpackungs- und Transportkosten sowie mit der Rückgabe verbundene Zoll- und Lagerkosten zu übernehmen und die Erzeugnisse wieder an sich zu nehmen.
- II. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die in Ziffer I. 1. bezeichneten, seit dem 04.05.2012 begangenen Handlungen entstanden ist und noch entstehen wird.
- Zur Begründung hat das Landgericht im Wesentlichen ausgeführt:
- Bei einem kapazitiven Näherungsschalter handele es sich um ein elektronisches Bauteil, das bei einer durch die Annäherung eines Gegenstandes verursachten Änderung der Umgebungskapazität einen Schaltungsvorgang auslöse. Zu diesem Zweck weise der kapazitive Näherungsschalter eine Elektrode auf, die der Überwachung ihrer Umgebungskapazität diene und letztlich aufgrund einer Kapazitätsänderung den Schaltungsvorgang veranlasse. Dass der Einschaltvorgang schon bei der Annäherung eines Gegenstands oder Körperteils an die Tragplatte ausgelöst werde, sei patentgemäß nicht erforderlich; der Klagepatentanspruch schließe es nicht aus, dass zum Einschalten der Waage die Tragplatte berührt werden müsse. Anspruchsgemäß sei es die Elektrode des kapazitiven Näherungsschalters, die ihre Umgebungskapazität überwache und nicht die des gegebenenfalls weiter gefassten Schalters. Da die Elektrode nach der Lehre des Klagepatents unter der Tragplatte angeordnet sei, gehöre die Tragplatte selbst zur Umgebung der Elektrode und stelle ihre Berührung nur eine Annäherung an die Elektrode dar. Die von der Beklagten vertretenen Schaltabstände von ca. 40 mm oder gar ca. 60 bis 80 mm hätten keinen Eingang in den Klagepatentanspruch gefunden und könnten die geschützte Lehre daher nicht beschränken.
- Nach dem unbestrittenen Vortrag der Klägerin seien unterhalb der Tragplatten der angegriffenen Ausführungsformen Elektroden angeordnet. Sie seien zugleich an der jeweiligen Tragplatte angeordnet, da sie flächig an deren Unterseite – gegebenenfalls getrennt durch einen Luftspalt – anlägen. Die Elektroden dienten der Überwachung ihrer Umgebungskapazität und seien damit Bestandteil eines kapazitiven Näherungsschalters, da sich die Waage bereits durch die Berührung der Tragplatte mit einem Körperteil oberhalb oder in der Nähe der Elektroden einschalten lasse. Die Beklagte stelle dies auch nicht grundsätzlich in Abrede, sondern sei lediglich der Auffassung, die durch den Schalter bewirkten Schaltungen erfolgten nicht berührungsfrei. Eine Berührung der Elektroden erfolge bei den angegriffenen Ausführungsformen jedoch nicht. Die Berührung der Tragplatte zum Einschalten der Waage sei von der Lehre des Klagepatents umfasst.
- Die Tragplatte einer erfindungsgemäßen Waage diene nach der Lehre des Klagepatents der Aufnahme einer zu wiegenden Masse; sie trage diese. Dass die Tragplatte anspruchsgemäß aus einem elektrisch nicht leitenden Material bestehe, stelle die Funktionsfähigkeit des kapazitiven Näherungsschalters sicher und ermögliche, dass die Elektrode bei Annäherung von Gegenständen oder Körperteilen mit anderen
dielektrischen Eigenschaften als denjenigen ihrer stationären Umgebung eine Kapazitätsänderung erfahre, die den Schaltungsvorgang auslöse. Eine Beschichtung oder sonstige Ausstattung sei vor diesem Hintergrund unschädlich, wenn sie die Funktion der Elektrode nicht beeinträchtige. Dies könne unter Umständen auch bei einer Beschichtung aus einem elektrisch leitenden Material der Fall sein, wenn nur die Tragplatte als solches aus einem elektrisch nicht leitenden Material gebildet sei. Der Einwand der Beklagten, die Materialeigenschaft der Tragplatte sei im Einspruchsverfahren in den Patentanspruch gelangt, um sich von sogenannten BMI-Waagen abzugrenzen, die zur Messung des BMI gerade darauf angewiesen seien, dass jedenfalls die Oberfläche der Tragplatte elektrisch leitend sei, führe nicht zu einem anderen Verständnis, weil es sich dabei schon nicht um zulässiges Auslegungsmaterial handele und weil sich eine Abgrenzung von BMI-Waagen nicht aus der Klagepatentschrift entnehmen lasse. - Beide angegriffenen Ausführungsformen wiesen eine aus Glas, also einem elektrisch nicht leitenden Material bestehende Tragplatte auf. Dass die angegriffene Ausführungsform 2 darüber hinaus eine metallische Beschichtung in Form einer Folie trage, sei unschädlich und führe nicht aus der Verletzung heraus. Auch wenn die Folie elektrisch leitend sei, bestehe die Tragplatte als solches aus Glas, ohne dass die Folie zur Tragefunktion beitrage und beeinträchtige die Folie die Funktionalität des kapazitiven Näherungsschalters nicht, zumal der Bereich der Elektroden von der metallischen Folie gerade ausgenommen sei und sich die angegriffene Ausführungsform 2 unstreitig mittels Annäherung eines Körperteils an die Elektrode einschalten lasse. Dass die angegriffene Ausführungsform 2 als Küchenwaage aus Edelstahl beworben werde, führe zu keinem anderen Ergebnis, da sich die Werbeaussage nicht eindeutig auf die Tragplatte als solche beziehe und zudem ihre tatsächliche Ausgestaltung die Lehre des Klagepatents verwirkliche, weshalb sich Angebot und Vertrieb auch auf diese Waage bezögen.
- Gegen dieses, ihren Prozessbevollmächtigten am 04.10.2022 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit am selben Tag bei Gericht eingegangenem anwaltlichem Schriftsatz vom 27.10.2022 Berufung eingelegt.
- In der Berufungsinstanz haben die Parteien mit Blick auf das Erlöschen des Klagepatents durch Zeitablauf den Rechtsstreit in der Hauptsache hinsichtlich des Unterlassungsanspruchs übereinstimmend für erledigt erklärt.
- Im Übrigen verfolgt die Beklagte ihr vor dem Landgericht erfolglos gebliebenes Begehren auf Klageabweisung weiter und macht zur Begründung ihrer Berufung unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens insbesondere geltend:
- Ein kapazitiver Näherungsschalter mit einer Elektrode sei bei den angegriffenen Ausführungsformen nicht vorhanden. Das Landgericht habe verkannt, dass das Klagepatent die geforderte Bedienungssicherheit gerade dadurch erreiche, dass es einen Näherungsschalter beanspruche, der ein genaues Treffen und eine Berührung des Schalters – wie bei einem aus dem Stand der Technik bekannten mechanischen Schalter – überflüssig mache. Der anspruchsgemäße kapazitive Näherungsschalter sei somit weiter zu fassen und umfasse zumindest auch den Teil der Tragplatte, welcher in unmittelbarer Nähe des Schalters und der Elektrode darüber liege. Der Schaltabstand des beanspruchten Näherungsschalters liege nach dem Verständnis des Durchschnittsfachmanns im Bereich zwischen 40 mm und 80 mm. Hingegen könne ein Schalter, bei welchem die Schaltung erst bei Berührung der Tragplatte, also bei einer Annäherung von 1 mm oder weniger an die Elektrode/den Schalter erfolge, nicht als anspruchsgemäßer Näherungsschalter angesehen werden. Soweit das Landgericht zwischen Elektrode, Schaltung und der unmittelbar darüber liegenden Tragplatte unterscheide, stehe diese Auslegung im Widerspruch zur Beschreibung, Aufgabe und Lösung der erfindungsgemäßen Lehre des Klagepatents. Festzuhalten sei demnach, dass die Berührung der Tragplatte zum Einschalten der Waage von der Lehre des Klagepatents nicht umfasst sei und somit, ein zutreffendes Verständnis zugrunde gelegt, die durch den Schalter der angegriffenen Ausführungsformen bewirkte Schaltung nicht berührungsfrei erfolge und zudem ein genaues Treffen des Schalters/der Tragplatte genau in dem Bereich über dem Schalter – wie bei einem aus dem Stand der Technik bekannten mechanischen Kontaktschalter – erforderlich sei.
- Die Tragplatte der angegriffenen Ausführungsform 2 bestehe zudem entgegen der Lehre des Patentanspruchs nicht aus einem nicht leitenden Material, sondern aus Edelstahl als einem leitenden Material. Es handele sich nicht um eine „Beschichtung“, vielmehr diene die nahezu vollständig ausgebildete Platte aus Edelstahl der Aufnahme der zu wiegenden Masse und trage diese vorwiegend. Der Durchschnittsfachmann wisse zudem, was die Beklagte erstmals in der Berufungsinstanz geltend macht, dass die metallische, elektrisch leitende Tragplatte die Funktionalität des kapazitiven Näherungsschalters und mithin die Funktionsfähigkeit der anspruchsgemäßen Elektrode störe. Die die angegriffene Ausführungsform 2 betreffende Werbeaussage, wonach es sich um eine Küchenwaage aus Edelstahl handele, beziehe sich eindeutig auf deren Tragplatte und führe entgegen der Auffassung des Landgerichts dazu, dass die angegriffene Ausführungsform 2 keinen Gebrauch von der klagepatentgemäßen Lehre mache. Das Landgericht sei schließlich bei seiner Auslegung zu Unrecht davon ausgegangen, dass Gründe, aus denen im Einspruchsverfahren ein Patentanspruch beschränkt worden sei, nicht zu dessen Auslegung herangezogen werden könnten.
- Die Verurteilung zu Rückruf und Vernichtung sei rechtsfehlerhaft und, was die Beklagte ebenfalls erstmals in der Berufungsinstanz geltend macht, unverhältnismäßig.
- Die Unverhältnismäßigkeit der Vernichtung folge daraus, dass nur der kapazitive Näherungsschalter als winziger Bestandteil einer Küchenwaage dem Patentschutz unterstehe, während alle übrigen Bestandteile aus dem Stand der Technik hinlänglich vorbekannt und gemeinfrei seien. Nachdem der Wert der Waagen mit einem Preis von ca. 20 Euro den Wert des Schalters mit wenigen Cent um ein Vielfaches übersteige, sei von einer Vernichtungsanordnung insgesamt abzusehen. Dies gelte umso mehr als die Schutzdauer des Klagepatents inzwischen abgelaufen sei. Ferner habe sie, die Beklagte, an Exemplaren der angegriffenen Ausführungsformen aus der Zeit vor Schutzrechtsablauf am 07.06.2023 mittlerweile weder Eigentum noch Besitz im Inland mehr. Es handele sich um schnell verkäufliche Ware, die kurzfristig und nach Bedarf im Ausland bestellt werde. Bereits am 27.06.2023 und auch am 11.07.2023 seien, wie aus den Anlagen BK 3 und BK 4 ersichtlich, keine Waagen mehr in ihrem A Store verfügbar/auf Lager gewesen.
- Der Rückruf sei unverhältnismäßig, weil sich die überwiegende Zahl der Waagen aus der Zeit vor Schutzrechtsablauf nicht mehr in den Vertriebswegen befänden. Lediglich auf dem Internetshop „E“ könnten noch vereinzelte aus dieser Zeit stammende Waagen vorhanden sein, würden dort aber zu einem Preis von lediglich 4 Euro statt ursprünglich 20 Euro angeboten. Der Zweck des Rückrufs, den Markt zu bereinigen und damit zugunsten der Klägerin eine Nachfrage zu schaffen, könne aufgrund der deutlich teureren Produkte der Klägerin somit ohnehin nicht erreicht werden. Im Übrigen spreche eine Kosten-Nutzen-Analyse gegen den Rückruf und sei dieser deshalb ausgeschlossen, weil das fragliche Bauteil (Schalter) in die größere Einheit (Waage) fest verbaut sei und deshalb die gesamte Waage zu entsorgen wäre. Sie, die Beklagte, verdanke ihren Kundenstamm bei den Endkunden auch nicht dem patentverletzenden Schalter, ebenso wie der Kunde „E“ nicht aufgrund des Schalters gewonnen worden sei.
- Die Beklagte erhebt erstmals in der Berufungsinstanz die Einrede der Verjährung. Grob fahrlässige Unkenntnis im Sinne der § 141 PatG i.V.m. §§ 195, 199 Abs. 1 BGB liege vor, soweit der Klägerin – wie hier – deshalb die Kenntnis fehle, weil sie die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich grobem Maße verletzt bzw. ganz naheliegende Erkenntnis- oder Informationsquellen wie das Internet (A) nicht genutzt habe. Zudem seien die Ansprüche der Klägerin aufgrund der absoluten Verjährungsfrist nach § 199 Abs. 3 und Abs. 4 BGB spätestens zehn Jahre nach ihrer Entstehung verjährt.
- Die Beklagte beantragt,
- das am 30.09.2022 verkündete angefochtene Urteil des Landgerichts Düsseldorf Az. 4b O 35/22 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
- Die Klägerin beantragt,
- die Berufung der Beklagten gegen das landgerichtliche Urteil zurückzuweisen.
- Sie verteidigt das angefochtene Urteil und tritt den Ausführungen der Beklagten unter Wiederholung und Ergänzung ihres erstinstanzlichen Vorbringens entgegen.
- Das Landgericht habe die in erster Instanz streitigen Merkmale zutreffend ausgelegt und sei zu Recht zu dem Ergebnis einer wortsinngemäßen Verwirklichung gelangt. Das Klagepatent schließe sowohl eine Annäherung und Berührung der Tragplatte als auch eine Schaltung unter Belassung eines Luftspaltes zwischen Tragplatte und sich näherndem Gegenstand ein. Abgesehen davon schalteten die angegriffenen Ausführungsformen auch ohne Kontakt mit der Tragplatte.
- Die Behauptung der Beklagten, die Tragplatte der angegriffenen Ausführungsform 2 bestehe vollflächig aus Edelstahl, sei nicht zutreffend. Diese sei vielmehr mit einer metallischen Folienbeschichtung versehen, die im Bereich der Anzeigevorrichtung und der Schalter eine rechteckige, großflächige Ausnehmung aufweise, weshalb oberhalb der Elektroden keinerlei leitfähige Komponenten vorhanden seien. Das großflächige Fenster oberhalb der Elektroden sorge zudem dafür, dass die dielektrischen Eigenschaften der Beschichtung die Funktionsfähigkeit der Elektrode nicht störten. In diesem Zusammenhang komme es zudem nicht darauf an, ob mit empfindlichen Geräten eine Beeinflussung physikalisch messbar sei, sondern ob die Funktion des kapazitiven Schalters in seiner Grundfunktion behindert werde. Dies sei bei der angegriffenen Ausführungsform 2 ganz offensichtlich nicht gegeben, schließlich ließe sich die Waage anderenfalls nicht einschalten.
- Rückruf- und Vernichtungsanspruch seien auch nicht unverhältnismäßig. Die Beklagte werde einen gewissen Warenbestand besitzen, zumindest müsse aufgrund der Wiederholungsgefahr davon ausgegangen werden. Sie, die Klägerin, habe ein berechtigtes Interesse daran, dass eventuell schon im Herrschaftsbereich von A befindliche Ware zurückgerufen werde, selbst wenn diese nicht zuvor übereignet worden sei, sondern sich noch in ihrem, der Beklagten, Eigentum befinde.
- Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der wechselseitigen Schriftsätze der Parteien und der von ihnen vorgelegten Anlagen sowie auf den Tatbestand und die Entscheidungsgründe der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.
- II.
- Die Berufung der Beklagten ist zulässig, bleibt in der Sache aber ohne Erfolg. Zu Recht hat das Landgericht in dem Angebot und dem Vertrieb der angegriffenen Ausführungsformen in der Bundesrepublik Deutschland eine wortsinngemäße Benutzung des Klagepatents gesehen und die Beklagte wegen unmittelbarer Patentverletzung zur Auskunftserteilung und Rechnungslegung, zur Vernichtung, zum Rückruf sowie zum Schadenersatz verurteilt, wobei nach der übereinstimmenden Erledigungserklärung der Parteien und mit Blick auf das zwischenzeitliche Erlöschen des Klagepatents der Tenor auf Benutzungshandlungen bis zum 07.06.2023 zu beschränken und deklaratorisch auszusprechen war, dass die Verurteilung zur Unterlassung gegenstandslos ist.
- 1.
Das Klagepatent betrifft eine Waage. - Derartige Waagen dienen beispielsweise als elektrische Personenwaagen zum Messen und Anzeigen des Gewichts einer auf der Tragplatte stehenden Person. Im Stand der Technik sind unterschiedliche Konstruktionen, insbesondere zum Aktivieren solcher Waagen, bekannt.
- So sind Waagen bekannt, die mittels einer Schaltvorrichtung ein- und ausgeschaltet werden, womit der Bedarf an elektrischer Energie auf den reinen Mess- und Anzeigevorgang beschränkt werden kann. Der Schaltvorgang wird über einen mit dem Fuß zu betätigenden Kontaktschalter ausgelöst. Nachteilig hieran ist, dass ein solcher Schalter aufwendig zu verkabeln ist und der Benutzer den Schalter genau treffen muss, um die Waage einzuschalten (Abs. [0002]).
- Ferner ist ein Akustikschalter bekannt, der auf Schwingungen durch Antippen der Waage reagiert. Allerdings reagieren Schalter dieses Typs nicht nur auf beabsichtigte Aktionen des Benutzers, sondern unkontrolliert und unerwünscht auch auf Fremdgeräusche (Abs. [0003]).
- Darüber hinaus sind Messsysteme bekannt, die sich ständig in Betrieb befinden und bei denen die Waage durch Gewichtsänderungen auf der Tragplatte aktiviert wird. Nachteilig an solchen Messsystemen sind die ständige Stromaufnahme und der dadurch bedingte hohe Energiebedarf (Abs. [0004]).
- Schließlich würdigt das Klagepatent verschiedene Entgegenhaltungen, aus denen eine elektronische Waage mit Kalibriergewichtsschaltung und einem Näherungssensor (Abs. [0005]), eine Analysewaage mit einem im Wesentlichen mechanisch arbeitenden Bedientableau und einer mit Hilfe von Näherungssensoren oder sprachgesteuerten Sensoren zu aktivierenden Gehäusetür (Abs. [0006]) sowie allgemein eine sprechende Waage, ein mechanischer Schalter und ein Näherungsdetektor (Abs. [0007]) bekannt sind.
- Vor diesem Hintergrund liegt dem Klagepatent die Aufgabe zugrunde, eine Waage zur Verfügung zu stellen, die in ihrer Bedienung einfach und funktionssicher ist und deren Herstellungs- und Betriebskosten niedrig sind (Urteil des BGH, Anlage K 2, S. 4 f.).
- Zur Lösung dieser Problemstellung sieht Patentanspruch 1 eine Kombination der folgenden Merkmale vor:
- 1. Waage (1), die aufweist:
- 1.1 eine Tragplatte (4) und
- 1.2 eine elektrische Schaltvorrichtung (16, 24).
- 2. Die Tragplatte (4)
- 2.1 dient der Aufnahme einer zu wiegenden Masse,
- 2.2 besteht aus einem elektrisch nicht leitenden Material.
- 3. Die elektrische Schaltvorrichtung (16, 24)
- 3.1 dient der Aus- und Anwahl einer Funktion der Waage (1), die im Einschalten der Waage (1) besteht,
- 3.2 weist einen kapazitiven Näherungsschalter auf.
- 4. Der kapazitive Näherungsschalter weist eine Elektrode (18, 38, 44) auf.
- 5. Die Elektrode (18, 38, 44)
- 5.1 dient der Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode (18, 38, 44),
- 5.2 ist an der Tragplatte (4) angeordnet,
- 5.3 ist unter der Tragplatte (4) angeordnet.
- 2.
Im Hinblick auf den Streit der Parteien bedürfen die Begriffe der aus einem elektrisch nicht leitenden Material bestehenden Tragplatte (Merkmal 1.1, Merkmalsgruppe 2) sowie des kapazitiven Näherungsschalters (Merkmale 3.2 und 4) einer näheren Erläuterung. - Das Verständnis des Klagepatents war bereits Gegenstand zweier – den Parteien bekannter – Entscheidungen des Senats aus dem Jahr 2013 (Urt. v. 06.06.2013, Az.: I-2 U 60/11, BeckRS 2013, 12501, vorgelegt als Anlage K 8) und 2022 (Urt. v. 03.02.2022, Az.: I-2 U 20/21, vorgelegt als Anlage K 8a). Auf die dortigen Ausführungen, an denen der Senat auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Beklagten festhält, wird ergänzend Bezug genommen.
- a)
Eine erfindungsgemäße Waage weist zunächst eine Tragplatte auf (Merkmal 1.1). Die Tragplatte dient, wie sich aus Merkmal 2.1 ergibt, der Aufnahme einer zu wiegenden Masse. Sie „trägt“ diese. - Merkmal 2.2 bestimmt, dass die Tragplatte aus einem elektrisch nicht leitenden Material besteht. Als Beispiele eines solchen Materials – eines sogenannten Isolators bzw. Dielektrikums – nennt das Klagepatent Glas, Kunststoff oder Granit (vgl. Abs. [0017]). Zweck dieser Ausgestaltung ist die Funktionsfähigkeit des kapazitiven Näherungsschalters, der auf die Annäherung von Gegenständen mit anderen dielektrischen Eigenschaften als denjenigen seiner stationären Umgebung reagiert (Abs. [0009], Sp. 1 Z. 56 bis Sp. 2 Z. 2). Indem die Tragplatte, die Teil der stationären Umgebung des Näherungsschalters ist, aus einem elektrisch nicht leitenden Material besteht, wird sichergestellt, dass die Reaktion auf die Annäherung von Gegenständen mit anderen dielektrischen Eigenschaften erfolgt, etwa Teilen des menschlichen Körpers (vgl. Abs. [0009] Sp. 2 Z. 2–6).
- Aus der Systematik des Patentanspruchs 1 entnimmt der Fachmann, dass es sich bei der Tragplatte (Merkmal 1.1, Merkmalsgruppe 2) und der Elektrode (Merkmal 4, Merkmalsgruppe 5) um voneinander zu unterscheidende, selbstständige Bauteile einer erfindungsgemäßen Waage handelt. Dies lässt sich insbesondere anhand der Merkmale 5.2 und 5.3 erkennen, die Vorgaben zu der Anordnung der Elektrode gerade im Verhältnis zu der Tragplatte enthalten. Der Patentanspruch schließt jedoch nicht aus, dass die Elektrode mit der Tragplatte unmittelbar verbunden und beispielsweise in Form einer Beschichtung auf diese aufgebracht ist. Nach den Ausführungsbeispielen kann die Elektrode etwa eine unter der Tragplatte aufgebrachte elektrisch leitende Druck- oder Bedampfungsschicht sein bzw. eine solche aufweisen (vgl. Abs. [0018], [0019], Unteranspruch 4). Die Eigenschaft von Elektrode und Tragplatte als selbstständige Bestandteile einer erfindungsgemäßen Waage wird durch eine solche Ausgestaltung nach dem Verständnis des Klagepatents nicht in Frage gestellt.
- Der Patentanspruch schließt ferner nicht aus, dass die Tragplatte einer erfindungsgemäßen Waage auf ihrer Oberfläche – jedenfalls teilweise – mit einer sonstigen Beschichtung oder Ausgestaltung versehen ist. Ebenso wie bei einer die Elektrode bildenden Beschichtung unterhalb der Tragplatte wird auch durch eine Gestaltung ihrer Oberfläche die Eigenschaft der Tragplatte als eigenständiger Bestandteil einer erfindungsgemäßen Waage nicht in Frage gestellt. Etwas anderes gilt auch nicht deshalb, weil die zu wiegende Masse auf der Oberfläche der Waage abgestellt wird und deshalb mit einer etwaigen Beschichtung der Tragplatte zuerst in Kontakt tritt. Entscheidend für den bereits erläuterten Begriff der Tragplatte ist das Tragen der Last und nicht der (Erst-) Kontakt mit dieser. Ausreichend, aber auch erforderlich ist, dass die Waage über eine als gesondertes Bauteil erkennbare, die Tragefunktion ausfüllende Tragplatte aus einem elektrisch nicht leitenden Material verfügt.
- Einschränkungen der möglichen Ausgestaltung einer Oberflächenbeschichtung lassen sich dem Klagepatent nicht entnehmen. Wie der Senat bereits in der erwähnten Entscheidung aus dem Jahr 2022 festgestellt hat, ist allein entscheidend, dass die
dielektrischen Eigenschaften einer auf die Oberfläche aufgebrachten Schicht die Funktion der Elektrode nicht beeinträchtigen. Solches kann auch bei einer zusätzlichen Schicht aus einem elektrisch leitenden Material gegeben sein, solange die Funktionsfähigkeit der Schaltung durch die konkrete Ausgestaltung nicht in Frage gestellt wird. Entscheidend ist dabei nicht, ob sich eine Beeinflussung der Umgebungskapazität der Elektrode durch die Durchführung von Messungen nachweisen ließe. Es kommt vielmehr allein darauf an, ob der kapazitive Näherungsschalter ungeachtet der Beschichtung auf die Annäherung von Gegenständen mit anderen dielektrischen Eigenschaften als denjenigen seiner stationären Umgebung reagiert und die elektrische Schaltvorrichtung somit ihre Funktion, die Waage einzuschalten (Merkmal 3.1), erfüllen kann. - Soweit die Beklagte in der mündlichen Verhandlung erster Instanz eingewandt hat, die Materialeigenschaft der Tragplatte sei nicht in Bezug auf die Funktionsfähigkeit des Näherungsschalters, sondern in Abgrenzung zu den aus dem Stand der Technik bekannten „BMI-Waagen“ von Bedeutung und dahingehend zu verstehen, dass gerade die Oberfläche der Tragplatte nicht elektrisch leitend sein dürfe, führt dies nicht zu einer anderen Betrachtung. Nachdem die Beklagte diese Sichtweise damit begründet hat, dass das Merkmal 2.2 im Einspruchsverfahren in den Patentanspruch gelangt sei, um das Klagepatent von den BMI-Waagen abzugrenzen, bei denen die Tragplatte, jedenfalls aber deren Oberfläche elektrisch leitfähig sein müsse, hat das Landgericht zu Recht darauf abgestellt, dass es sich bei den Gründen, aus denen der Patentinhaber den Anspruch im Einspruchsverfahren nur noch eingeschränkt verteidigt hat, nicht um zulässiges Auslegungsmaterial handelt und dass es auch im Klagepatent selbst keine Hinweise für eine derartige Abgrenzung gibt.
- Dem hält die Beklagte in der Berufungsinstanz entgegen, dass die Entscheidungsgründe der Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung (Anlage BK 2, dort Bl. 12) an die Stelle der ursprünglichen Beschreibung getreten und deshalb bei der Auslegung zu berücksichtigen seien. Zwar trifft es zu, dass bei einem teilweisen Widerruf oder einer teilweisen Vernichtung des Patents die die Abweichungen von der Anspruchsfassung der Patentschrift behandelnden Entscheidungsgründe an die Stelle der ursprünglichen Beschreibung treten und deshalb bei der Auslegung des Patents zu berücksichtigen sind (vgl. BGH, GRUR 2007, 778 Rn. 20 – Ziehmaschinenzugeinheit m.w.N.; Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 15. Aufl., Abschn. A Rn. 121). Die von der Beklagten zitierte Passage der Entscheidungsgründe der Einspruchsentscheidung befasst sich allerdings nicht mit der Abweichung von der Anspruchsfassung, sondern mit der (bejahten) Schutzfähigkeit des Hilfsantrages. Es wird erläutert, warum das Klagepatent in der hilfsweise verteidigten Fassung Bestand und der weitergehende Einspruch keinen Erfolg hat, weshalb kein Bedürfnis besteht, diesen Teil der Entscheidungsgründe an die Stelle der Beschreibung treten zu lassen (vgl. BGH, GRUR 2007, 778 Rn. 20 – Ziehmaschinenzugeinheit). Abgesehen davon lässt sich der zitierten Stelle auch nicht entnehmen, dass sich die Anspruchsfassung gerade mit dem Merkmal 2.2 von BMI-Waagen abgrenzen wollte. Im Stand der Technik bekannte BMI-Waagen wiesen, wie sich aus dem Zitat der Beklagten selbst ergibt („Dies ist nur möglich, indem die Schalter kapazitiv ausgestaltet und unter einer nichtleitenden Tragplatte angeordnet sind. …“) schon keinen kapazitiven Näherungsschalter auf (Anlage BK 2, Bl. 12, Z. 22 f.) und beruhten somit auf einem gänzlich anderen Ansatz.
- b)
Darüber hinaus weist eine erfindungsgemäße Waage eine elektrische Schaltvorrichtung (Merkmale 1.2, Merkmalsgruppe 3) auf, deren Bestandteil nach Merkmal 3.2 ein kapazitiver Näherungsschalter ist. - Das Klagepatent versteht unter einem kapazitiven Näherungsschalter ein Bauteil, das bei einer durch die Annäherung eines Gegenstandes verursachten Änderung der Umgebungskapazität einen Schaltungsvorgang auslöst. Diese Funktionsweise wird nicht nur durch den Begriff „Näherungsschalter“ angedeutet, sondern geht auch aus dem Klagepatentanspruch hervor, demzufolge der kapazitive Näherungsschalter eine Elektrode aufweist, die der Überwachung der Umgebungskapazität dient (Merkmale 4 bis 5.1).
- Soweit die Beklagte meint, nach der Lehre des Klagepatents dürfe der Schaltvorgang nicht erst durch eine Berührung der Waage bewirkt, sondern müsse bereits durch die bloße Annäherung an die Waage ausgelöst werden, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Nach der Lehre des Klagepatents ist es nicht ausgeschlossen, dass der Schaltvorgang erst durch eine Berührung der Waage, insbesondere der Tragplatte, ausgelöst wird. Bereits der Wortlaut des Klagepatentanspruchs gibt einen Hinweis darauf, dass sich ein kapazitiver Näherungsschalter dadurch auszeichnet, dass er auf eine Annäherung an die Elektrode (und nicht an die Waage) reagiert. Denn die Elektrode selbst dient der Überwachung ihrer Umgebungskapazität (Merkmal 5.1). Der Begriff des kapazitiven Näherungsschalters kann daher allenfalls dahingehend verstanden werden, dass der Schaltvorgang bereits vor der Berührung der Elektrode ausgelöst werden soll. Da aber die Elektrode nach Merkmal 5.3 unter der Tragplatte angeordnet ist, ist ihre Berührung erfindungsgemäß von vornherein ausgeschlossen. Der Bereich auf der Tragplatte gehört, wie bereits angesprochen, zur Umgebung der Elektrode, deren Kapazität sie überwachen soll.
- Auch der in der Klagepatentschrift gewürdigte Stand der Technik führt zu keiner anderen Auslegung. Zwar kann die Würdigung der US 4,932,XXB in Abs. [0005] dahingehend verstanden werden, dass der Näherungssensor den Kalibrierungsvorgang bereits dann abbricht, wenn sich eine Person der Waage nähert. In Bezug auf das Klagepatent führt dies aber bereits deshalb nicht zu einem anderen Verständnis, weil es diesem nicht darum geht, mit Hilfe des Näherungsschalters dafür zu sorgen, dass nicht in einen Kalibriervorgang eingegriffen wird. Mit der Schaltvorrichtung soll stattdessen lediglich die Waage selbst eingeschaltet werden können. Für den bloßen Einschaltvorgang ist es jedoch unbeachtlich, ob der Näherungsschalter bereits bei einer bloßen Annäherung des Gegenstandes an die Waage oder erst bei ihrer Berührung auslöst.
- Ferner lässt sich Abs. [0002], wonach die dort gewürdigte Waage einen Kontaktschalter aufweist, der unter anderem deswegen als nachteilig angesehen wird, weil der Benutzer zur Schalterbetätigung auf eine exakt definierte Stelle der Waage zielen muss, nicht entnehmen, dass bei einer erfindungsgemäßen Waage für die Auslösung des Schaltvorgangs ein Kontakt mit der Waage zu vermeiden wäre. Der Begriff „Kontaktschalter“ darf nicht aufgrund des Wortbestandteils „Kontakt-“ in Abgrenzung zu einem Näherungsschalter dahingehend missverstanden werden, dass er eine Berührung der Waage erfordert, während der Näherungsschalter den Schaltvorgang bereits bei einer Annäherung an die Waage auslöst. Der Begriff „Kontaktschalter“ macht vielmehr lediglich deutlich, dass durch den Schalter unmittelbar der elektrische Kontakt hergestellt oder unterbrochen wird, um beispielsweise, wie in dem vom Klagepatent dargestellten Fall, die Waage einzuschalten. Es handelt sich, wie bereits ausgeführt, um einen mechanischen Schalter. Das Klagepatent sieht also nicht die für die Betätigung des Schalters erforderliche Berührung selbst als nachteilig an, sondern dass dafür genau auf den mechanischen Schalter gezielt werden muss. Dieser Nachteil wird durch die Verwendung eines kapazitiven Näherungsschalters beseitigt, weil nicht mehr genau der Schalter getroffen werden muss, um den Schaltvorgang auszulösen (Abs. [0009], Sp. 2 Z. 16–19), sondern eine Annäherung an den Schalter genügt. Insofern ist es unbeachtlich, ob der Schaltvorgang bewirkt werden kann, bevor die Tragplatte berührt wird, oder ob dies nur mit einer Berührung der Tragplatte möglich ist. In beiden Fällen erfolgt der Schaltvorgang, wenn sich der Gegenstand der Umgebung der Elektrode annähert.
- Soweit die Beklagte auf bestimmte Schaltabstände von 40 mm bis 80 mm abstellt, haben diese, wie das Landgericht zu Recht ausgeführt hat, keinen Eingang in den Klagepatentanspruch gefunden und können die beanspruchte Lehre daher nicht beschränken. Ein gewisser Schaltabstand wird nach dem Verständnis des Klagepatents bereits dadurch sichergestellt, dass, wie bereits erwähnt, die Elektrode unter der Tragplatte angeordnet ist (Merkmal 5.3) und somit die Dicke der Tragplatte den Mindestabstand zwischen dem sich nähernden Objekt (Körperteil) und der Elektrode definiert. Für einen darüber hinausgehenden Mindestabstand gibt das Klagepatent keine Hinweise; auch die Beklagte zeigt solche nicht auf.
- 3.
Ausgehend von einem solchen Verständnis ist das Landgericht zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass die angegriffenen Ausführungsformen wortsinngemäß von der technischen Lehre des Patentanspruchs 1 des Klagepatents Gebrauch machen. Sie verfügen über einen kapazitiven Näherungsschalter; zudem besteht die Tragplatte auch der angegriffenen Ausführungsform 2 aus einem elektrisch nicht leitenden Material. Die Verwirklichung der übrigen Merkmale steht zwischen den Parteien zu Recht nicht in Streit, so dass es insoweit keiner weiteren Ausführungen bedarf. - a)
Nach den Feststellungen des Landgerichts weisen beide angegriffenen Ausführungsformen eine aus Glas und damit einem nicht leitenden Material bestehende Tragplatte auf. Diese Feststellungen hat der Senat seiner Entscheidung nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zugrunde zu legen, nachdem diese von der Beklagten nur mit der rechtlichen Erwägung in Frage gestellt werden, die auf die Oberfläche der Waage aufgebrachte Platte bilde selbst die Tragplatte (vgl. Berufungsbegründung vom 03.02.2023, S. 12, Bl. 116 E-Akte OLG). Soweit die Beklagte weiter geltend macht, die angegriffene Ausführungsform 2 weise eine Tragplatte aus Edelstahl auf und die „oben angeordnete Tragplatte“ bestehe „vollständig aus Edelstahl“ (Berufungsbegründung vom 03.02.2023, S. 12 f., Bl. 116 f. E-Akte OLG), erfolgt dies in Anknüpfung an die dargestellte rechtliche Bewertung und ist nicht als Bestreiten des Vorhandenseins einer unterhalb dieser Platte vorhandenen Glasplatte zu verstehen. - Dass die angegriffene Ausführungsform 2 über die soeben erwähnte, auf der Tragplatte – mit Ausnahme des Bereichs der elektrischen Schaltvorrichtung – aufgebrachte Zusatzschicht bzw. Folie (nachfolgend: Schicht) aus einem elektrisch leitenden Material (Edelstahl) verfügt, führt nicht aus der Verletzung heraus. Dass die Schicht die Funktion der elektrischen Schaltvorrichtung der Waage nicht beeinträchtigt, folgt schon daraus, dass die Waage sich unstreitig jedenfalls durch Berühren des auf der Tragplatte angebrachten „On/Off“-Feldes einschalten lässt.
- Weitergehender Untersuchungen bedurfte es vor diesem Hintergrund nicht. Es kann ferner offen bleiben, ob die Beklagte mit ihrem Vorbringen, wonach nach Kenntnis des Fachmanns zwangsläufig jede Beeinflussung des Feldes durch einen leitenden Gegenstand in der Nähe des Schalters zu einer Beeinflussung der verwirklichbaren Schaltabstände und damit zu einer Störung der Funktionsfähigkeit der Elektrode führe, in der Berufungsinstanz gehört werden kann. Jedenfalls führen solche etwaigen Störungen nicht dazu, dass der kapazitive Näherungsschalter (dazu sogleich) der angegriffenen Ausführungsform 2 seine Funktion nicht erfüllen könnte und sind deshalb für die Merkmalsverwirklichung nicht von Bedeutung.
- b)
Die Schaltvorrichtung der angegriffenen Ausführungsformen weist einen kapazitiven Näherungsschalter auf (Merkmale 3.2, 4). - Nach den unangegriffenen Feststellungen des Landgerichts lässt sich, wie bereits erwähnt, die Waage jedenfalls durch die Berührung der Tragplatte mit einem Körperteil oberhalb oder in der Nähe der Elektroden – nämlich im Bereich des „On/Off“-Feldes – einschalten. Ob sich die angegriffenen Ausführungsformen darüber hinaus auch ohne Berührung der Tragplatte allein durch Annäherung an diese einschalten lassen, wie die Klägerin auch bereits erstinstanzlich geltend gemacht hat, kann offen bleiben. Selbst wenn eine Berührung der Tragplatte erforderlich sein sollte, um den Schalter zu betätigen, steht dies nach obiger Auslegung der Merkmalsverwirklichung nicht entgegen.
- 4.
Davon ausgehend hat das Landgericht im Angebot und im Vertrieb der angegriffenen Ausführungsformen in der Bundesrepublik Deutschland zutreffend eine unmittelbare wortsinngemäße Verletzung des Klagepatents i.S.v. § 9 Nr. 1 PatG gesehen. Dass die Beklagte vor diesem Hintergrund zur Auskunftserteilung, Rechnungslegung und zum Schadenersatz verpflichtet ist, hat das Landgericht im angefochtenen Urteil zutreffend dargelegt. Auf die diesbezüglichen Ausführungen, gegen die sich die Beklagte in der Berufungsinstanz auch nicht gesondert wendet, kann zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen werden. - Ebenfalls zutreffend hat das Landgericht angenommen, dass die Beklagte zur Vernichtung und zum Rückruf patentverletzender Gegenstände verpflichtet ist. Dem stehen – abgesehen von der nach der teilweisen Erledigung vorgenommenen Beschränkung beider Ansprüche auf die Zeit der Geltung des Patentschutzes – weder das Erlöschen des Klagepatents noch die weiteren in der Berufungsinstanz angestellten Erwägungen der Beklagten zur Unverhältnismäßigkeit der Ansprüche entgegen. Weil die Einwände der Beklagten jedenfalls nicht durchgreifen, kann offen bleiben, ob und in welchem Umfang sie mit den entsprechenden Ausführungen, soweit diese nicht nur auf rechtlichen Erwägungen beruhen, in der Berufungsinstanz gehört werden kann.
- Soweit im Tenor zu I. 5. des angegriffenen Urteils im Zusammenhang mit dem Inhalt der Rückrufpflicht auf das Urteil des Landgerichts vom 22.09.2022 (statt 30.09.2022) Bezug genommen wird, handelt es sich um ein offensichtliches Schreibversehen, das der Senat mit der Neufassung des Tenors berichtigen konnte.
- a)
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Vernichtung patentverletzender Gegenstände gegen aus Art. 64 EPÜ i.V.m. § 140a Abs. 1 PatG. - aa)
Die Beklagte ist trotz zwischenzeitlichen Ablaufs des Klagepatents weiterhin zur Vernichtung solcher patentverletzender Gegenstände verpflichtet, die sich bis zum 07.06.2023 (Ablauf des Klagepatents) in der Bundesrepublik Deutschland in ihrem Besitz oder Eigentum befunden haben und die sich auch derzeit noch in ihrem inländischen Besitz oder Eigentum befinden. Der Ablauf des Schutzrechts lässt den Vernichtungsanspruch hinsichtlich derjenigen Gegenstände, für die er einmal entstanden ist, nicht ohne Weiteres entfallen (vgl. nur OLG Düsseldorf, Urt. v. 13.01.2011, Az.: I-2 U 56/09, BeckRS 2011, 7499; Urt. v. 23.11.2017 – I-2 U 81/16, BeckRS 2017, 154820 Rn. 67; Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 15. Aufl., Abschn. D Rn. 992 ff.). Etwas anderes gilt nur ausnahmsweise unter besonderen Umständen, für deren Vorliegen die Beklagte nichts dargetan hat. - Vor diesem Hintergrund verfängt auch die Argumentation der Beklagten nicht, die ein Entfallen des Unterlassungsanspruchs nach Ablauf der Schutzdauer mit dessen Unverhältnismäßigkeit gleichsetzt und daraus ableitet, auch der Vernichtungsanspruch müsse – weil Unterlassungs- und Vernichtungsanspruch hinsichtlich der Unverhältnismäßigkeit gleich zu beurteilen seien – bereits aus diesem Grund unverhältnismäßig sein.
- bb)
Die Behauptung der Beklagten, sie habe keine Waagen mehr in Eigentum oder Besitz, die noch aus der Zeit vor Erlöschen des Klagepatents am 07.06.2023 stammten, steht einer Verurteilung ebenfalls nicht entgegen. - Die Zuerkennung des Vernichtungsanspruchs setzt – weil es sich dabei um eine anspruchsbegründende Voraussetzung handelt – voraus, dass der Beklagte patentverletzende Gegenstände im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor Gericht (noch) in seinem Besitz oder Eigentum hat (OLG Düsseldorf, Urt. v. 09.05.2019, Az.: I-2 U 66/18, BeckRS 2019, 10841 Rn. 114; Urt. v. 30.07.2020, Az.: I-2 U 31/19, GRUR-RS 2020, 45854 Rn. 57 – Hebeschlinge; Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 15. Aufl., Abschn. D Rn. 976). Im Allgemeinen genügt die Behauptung, dass der Beklagte zu irgendeinem Zeitpunkt nach Erteilung des Patents im Besitz oder Eigentum schutzrechtsverletzender Gegenstände war, weil bereits damit der Vernichtungsanspruch entstanden ist. Macht der Beklagte jedoch nachvollziehbar geltend oder liegt es sonst auf der Hand, dass der ursprünglich gegebene Besitz nachträglich entfallen und ein Besitz oder Eigentum des Beklagten im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung nicht mehr gegeben ist, scheidet eine Verurteilung zur Vernichtung aus (OLG Düsseldorf, Urt. v. 09.05.2019, Az.: I-2 U 66/18, BeckRS 2019, 10841 Rn. 114; Urt. v. 30.07.2020, Az.: I-2 U 31/19, GRUR-RS 2020, 45854 Rn. 57 – Hebeschlinge; Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 15. Aufl., Abschn. D Rn. 977). Etwas anderes gilt in diesem Fall nur dann, wenn die Klägerin konkrete Tatsachen dartut, um den Beklagtenvortrag zu erschüttern (OLG Düsseldorf, Urt. v. 30.07.2020, Az.: I-2 U 31/19, GRUR-RS 2020, 45854 Rn. 57 – Hebeschlinge).
- Der Vortrag der Beklagten in der Berufungsreplik, die Waagen würden kurzfristig und nach Bedarf im Ausland bestellt und binnen kürzester Zeit nach Lieferung aus dem Ausland abverkauft, ist zur nachvollziehbaren Geltendmachung des vollständig entfallenen Besitzes nicht ausreichend. Hierbei handelt es sich vielmehr nur um eine pauschale Behauptung, die einen Einblick in die Lagerhaltung auf Seiten der Beklagten nicht erlaubt. Dass nach dem Vorbringen der Beklagten am 27.06.2023 die Waagen auf A als „nicht mehr verfügbar“ bezeichnet wurden und eine Suche nach „Waage“ im „Liebfeld Store“ am 11.07.2023 keine Ergebnisse gebracht hat, lässt ebenfalls nicht den über eine bloße Behauptung hinausgehenden Schluss zu, dass im Lagerbestand der Beklagten keine bereits am 07.06.2023 in ihrem Besitz befindlichen Waagen mehr vorhanden sind.
- cc)
Eine Beschränkung des Vernichtungsanspruchs ist auch nicht aufgrund des Einwands der Beklagten gerechtfertigt, nur der kapazitive Näherungsschalter unterliege dem Vernichtungsanspruch, weil der Schutzgegenstand des Patents die äußerste Reichweite des Vernichtungsanspruchs vorgebe und weil alle anderen Bestandteile einer Waage aus dem Stand der Technik hinlänglich vorbekannt gewesen seien. Für die Reichweite des Schutzes ist allein der Patentanspruch maßgeblich; dieser betrifft eine Waage. - Soweit die Beklagte weiter darauf hinweist, dass eine vollständige Vernichtung unverhältnismäßig sein könne, wenn eine Gesamtvorrichtung unter Schutz gestellt ist, welche auch ohne die allein erfindungsrelevante Untereinheit marktfähig ist, so dass eine am Patentgegenstand orientierte Komplettvernichtung dem Verletzer einen außergewöhnlich hohen Schaden zufügen würde, indem er auch um die wirtschaftlich wesentlichen und als solche gemeinfreien Vorrichtungsteile gebracht wird, die er ohne die erfindungsrelevante Untereinheit schutzrechtsfrei mit Aussicht auf Erfolg absetzen könnte (unter Verweis auf Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 15. Aufl., Abschn. D Rn. 985), ist eine solche Fallgestaltung nicht gegeben. Die Beklagte macht selbst nicht geltend, dass der ihrer Auffassung nach allein erfindungsrelevante Teil der Waage – der kapazitive Näherungsschalter – einer Teilvernichtung zugänglich wäre.
- b)
Auch der Anspruch der Klägerin auf Rückruf patentverletzender Gegenstände aus den Vertriebswegen (Art. 64 EPÜ i.V.m. § 140a Abs. 3 PatG) ist weiterhin gegeben. - aa)
Der zwischenzeitliche Ablauf der Schutzdauer des Klagepatents lässt den Rückrufanspruch hinsichtlich derjenigen Gegenstände, für die er einmal entstanden ist, nicht entfallen (OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.01.2011, Az.: I-2 U 18/09, juris Rn. 181 – Faktor VIII-Konzentrat). - bb)
Eine Unverhältnismäßigkeit des Rückrufs hat die Beklagte ebenfalls nicht aufzuzeigen vermocht. - Soweit sie argumentiert, der Zweck des Rückrufs liege darin, den Markt von ihren Produkten zu bereinigen und damit eine Nachfrage zugunsten der Produkte der Klägerin zu schaffen, wobei eben dieser Zweck aufgrund des niedrigen Preises noch in den Vertriebswegen befindlicher angegriffener Ausführungsformen im Vergleich zu den deutlich teureren Waagen der Klägerin nicht erreicht werden könne, lässt dies eine Unverhältnismäßigkeit des Rückrufs nicht erkennen. Zweck des Rückrufanspruchs ist in erster Linie die Folgenbeseitigung, indem patentverletzende Ware, die sich in der nachgeordneten Vertriebskette befindet, wieder zurückgeholt wird (siehe im Einzelnen BeckOK Patentrecht-Fricke, Stand: 15.07.2023, § 140a Rn. 6). Dass die Stärkung der Nachfrage nach Produkten der Klägerin allenfalls ein Reflex dieser Zielsetzung sein kann, liegt schon deshalb auf der Hand, weil eine Patentverletzung eigene „Produkte“ des Patentinhabers nicht erfordert. Vor diesem Hintergrund ist auch die weitere Argumentation der Beklagten, die sich mit einer Abwägung des möglichen Gewinns der Klägerin und den Kosten des Rückrufs befasst, zur Begründung der Unverhältnismäßigkeit ungeeignet.
- Unerheblich ist es auch, dass die Beklagte nach ihrem Vorbringen ihren Kundenstamm bei Endkunden ebenso wie den Kunden „E“ als Restpostenverwerter nicht aufgrund der Ausstattung der Waagen mit dem – aus ihrer Sicht allein entscheidenden –Schalter gewonnen habe und überdies Waagen des Herstellers F ohne Näherungsschalter deutlich teurer angeboten würden. Einen Umstand, der im Zusammenhang mit der Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Rückrufs von Bedeutung sein könnte, zeigt sie hiermit nicht auf.
- 5.
Der Durchsetzbarkeit der Ansprüche der Klägerin steht auch nicht die von der Beklagten in der Berufungsreplik erhobene Einrede der Verjährung (§ 214 Abs. 1 BGB) entgegen. - Die erstmals in der Berufungsinstanz erhobene Verjährungseinrede ist unabhängig von den Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO – für deren Vorliegen nichts ersichtlich ist – zuzulassen, wenn die Erhebung der Verjährungseinrede und die den Verjährungseintritt begründenden tatsächlichen Umstände zwischen den Parteien unstreitig sind (BGH, NJW 2008, 3434 [GSZ]). Ob insbesondere letzteres der Fall ist, bedarf indes keiner weiteren Erörterung, weil auf der Grundlage des Vorbringens der Beklagten ein Eintritt der Verjährung jedenfalls nicht erkennbar ist.
- a)
Soweit sich die Beklagte auf den Ablauf der regelmäßigen Verjährungsfrist beruft, kommt solches ohnehin nur für Ansprüche in Betracht, die vor dem Jahr 2019 entstanden und hinsichtlich welcher der Klägerin bereits zu diesem Zeitpunkt grob fahrlässige Unkenntnis vorzuwerfen ist (§ 199 Abs. 1 BGB), weil nur insoweit eine rechtzeitige Hemmung durch die im Jahr 2022 erfolgte Klageerhebung (§ 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB) nicht vorliegt. Nachdem sich die Beklagte mit diesem Umstand nicht auseinandersetzt und insbesondere zu ihren Aktivitäten auf „A“ vor dem Jahr 2019 und deren Erkennbarkeit nicht vorträgt, lässt sich der (teilweise) Eintritt der Verjährung schon aus diesem Grund nicht feststellen. - Abgesehen davon zeigt die Beklagte mit ihrem bloßen Hinweis auf das Internet (A) als möglicher Erkenntnisquelle eine grob fahrlässige Unkenntnis der Klägerin hinsichtlich des Vertriebs der angegriffenen Ausführungsformen nicht auf. Eine Obliegenheit zur allgemeinen Marktbeobachtung besteht nicht (vgl. BGH, GRUR 2012, 1248 Rn. 25 – Fluch der Karibik; OLG Karlsruhe, Urt. v. 09.11.2016, Az.: 6 U 37/15, GRUR-RS 2016, 21121 Rn. 96 – Advanced System; Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 15. Aufl., Abschn. E Rn. 864).
- b)
Der weitere Verweis der Beklagten auf die absolute Verjährungsfrist (§ 199 Abs. 3, Abs. 4 BGB) greift ebenfalls nicht durch, nachdem die Klägerin ihre Ansprüche schon in der Klageschrift auf einen Zeitraum von zehn Jahren vor Einreichung und der am selben Tag erfolgten Zustellung der Klage, durch welche die Verjährung gehemmt worden ist (§ 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB, § 253 Abs. 1 ZPO), beschränkt hat. - III.
- Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91a Abs. 1 S. 1, 97 Abs. 1 ZPO.
- Soweit die Parteien den Rechtsstreit im Berufungsrechtszug in der Hauptsache betreffend den ursprünglich ferner geltend gemachten Unterlassungsanspruch übereinstimmend für erledigt erklärt haben, entspricht es billigem Ermessen, die hierauf entfallenden Kosten ebenfalls der Beklagten aufzuerlegen. Aufgrund der widerrechtlichen Benutzung des Klagepatents wäre diese ohne das erledigende Ereignis auch insoweit unterlegen. Der Klägerin stand bis zum Erlöschen des Klagepatents durch Zeitablauf ein Unterlassungsanspruch zu, Art. 64 EPÜ i.V.m. § 139 Abs. 1 PatG.
- Die Anordnungen zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeben sich aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
- Für eine Zulassung der Revision bestand keine Veranlassung, weil die in § 543 ZPO aufgestellten Voraussetzungen dafür ersichtlich nicht gegeben sind. Es handelt sich um eine reine Einzelfallentscheidung ohne grundsätzliche Bedeutung, mit der der Bundesgerichtshof auch nicht im Interesse einer Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung befasst werden muss (§ 543 Abs. 2 ZPO).