Düsseldorfer Entscheidungen Nr. 3241
Landgericht Düsseldorf
Urteil vom 30. September 2022, Az. 4b O 35/22
- I. Die Beklagte wird verurteilt,
- 1. es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung vom Gericht festzusetzenden Ordnungsgeldes in Höhe von bis zu EUR 250.000,00, ersatzweise Ordnungshaft, oder einer Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, wobei die Ordnungshaft an ihrem Geschäftsführer, Herrn A zu vollziehen ist, zu unterlassen
- Waagen mit einer Tragplatte zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse und mit einer elektrischen Schaltvorrichtung zur Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage,
- in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in den Verkehr zu bringen, zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken einzuführen oder zu besitzen,
- bei denen die Schaltvorrichtung einen kapazitiven Näherungsschalter mit einer an der Tragplatte angeordneten Elektrode zur Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode aufweist, wobei die Tragplatte aus einem elektrisch nicht leitenden Material besteht und die Elektrode unter der Tragplatte angeordnet ist und die mit der elektrischen Schaltvorrichtung erfolgende Aus- oder Anwahl einer Funktion im Einschalten der Waage besteht;
- 2. der Klägerin darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie (die Beklagte) die zu Ziffer I. 1. bezeichneten Handlungen seit dem 04.05.2012 begangen hat, und zwar unter Angabe
- a) der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,
- b) der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,
- c) der Menge der ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden;
- wobei zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Kaufbelege (nämlich Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in Kopie vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;
- 3. der Klägerin darüber Rechnung zu legen, in welchem Umfang sie (die Beklagte) die zu Ziffer I. 1. bezeichneten Handlungen seit dem 04.05.2012 begangen hat, und zwar unter Angabe:
- a) der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie den Namen und Anschriften der Abnehmer,
- b) der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie den Namen und Anschriften der gewerblichen Angebotsempfänger,
- c) der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgem, deren Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet,
- d) der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten und des erzielten Gewinns,
- wobei der Beklagten vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften der nichtgewerblichen Abnehmer und der Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von der Klägerin bezeichneten, ihr gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten, in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen vereidigten Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagte dessen Kosten trägt und ihn ermächtigt und verpflichtet, der Klägerin auf konkrete Anfrage mitzuteilen, ob ein bestimmter Abnehmer oder Angebotsempfänger in der Aufstellung enthalten ist;
- 4. die in ihrem unmittelbaren oder mittelbaren Besitz oder in ihrem Eigentum befindlichen, unter Ziffer I. 1. bezeichneten Erzeugnisse auf ihre Kosten zu vernichten oder nach ihrer Wahl an einen von der Klägerin zu benennenden Gerichtsvollzieher zum Zwecke der Vernichtung auf ihre – der Beklagten – Kosten herausgeben;
- 5. die unter Ziffer I. 1. bezeichneten, seit dem 04.05.2012 in Verkehr gebrachten Erzeugnisse gegenüber den gewerblichen Abnehmern unter Hinweis auf den gerichtlich (Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 22.09.2022) festgestellten patentverletzenden Zustand der Sache und mit der verbindlichen Zusage zurückzurufen, etwaige Entgelte zu erstatten sowie notwendige Verpackungs- und Transportkosten sowie mit der Rückgabe verbundene Zoll- und Lagerkosten zu übernehmen und die Erzeugnisse wieder an sich zu nehmen.
- II. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die zu Ziffer I. 1. bezeichneten, seit dem 04.05.2012 begangenen Handlungen entstanden ist und noch entstehen wird.
- III. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
- IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 250.000,00 EUR.
- Tatbestand
- Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen Verletzung des deutschen Teils des europäischen Patents EP 1 XXX XXX B2 (im Folgenden: Klagepatent) auf Unterlassung, Auskunft und Rechnungslegung, Vernichtung und Rückruf sowie Feststellung der Schadensersatzpflicht in Anspruch.
- Die Klägerin ist eingetragene Inhaberin des Klagepatents, das am 7. Juni 2003 unter Inanspruchnahme der Priorität zweier deutscher Anmeldungen vom 14. Juni 2002 und vom 27. Februar 2003 angemeldet wurde. Die Patentanmeldung wurde am 17. Dezember 2003 veröffentlicht, der Hinweis auf die Erteilung des Klagepatents am 23. September 2009.
- Das Klagepatent war Gegenstand eines Einspruchsverfahrens vor dem Europäischen Patentamt. Mit Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung vom 21. Juni 2011 wurde es beschränkt aufrechterhalten. Die gegen diese Entscheidung gerichteten Beschwerden wurden von der technischen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts mit Entscheidung vom 18. Januar 2013 zurückgewiesen.
- Anschließend wurde gegen das Klagepatent Nichtigkeitsklage vor dem Bundespatentgericht erhoben, die mit Urteil vom 9. September 2014 abgewiesen wurde. Die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung wurde vom Bundesgerichtshof mit Urteil vom 28. März 2017 zurückgewiesen. Eine weitere Nichtigkeitsklage wurde zuletzt mit Urteil des Bundespatentgerichts vom 12. April 2022 abgewiesen.
- Das Klagepatent steht in Kraft.
- Das Klagepatent betrifft eine Waage mit einer Tragplatte zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse und mit einer elektrischen Schaltvorrichtung zur Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage. Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch 1 des Klagepatents lautet:
- Waage (1) mit einer Tragplatte (4) zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse und mit einer elektrischen Schaltvorrichtung (16, 24) zur Aus- oder Anwahl ei- ner Funktion der Waage (1), dadurch gekennzeichnet, dass die Schaltvorrich-tung (16, 24) einen kapazitiven Näherungsschalter mit einer an der Tragplatte (4) angeordneten Elektrode (18, 38, 44) zur Überwachung der Umgebungs-kapazität der Elektrode (18, 38, 44) aufweist, wobei die Tragplatte (4) aus einem elektrisch nicht leitenden Material besteht und die Elektrode (18, 38, 44) unter der Tragplatte (4) angeordnet ist und die mit der elektrischen Schaltvor-richtung (16, 24) erfolgende Aus- oder Anwahl einer Funktion im Einschalten der Waage besteht.
- Die nachfolgende Zeichnung stammt aus der Klagepatentschrift und gibt eine Ausführungsform der geschützten Erfindung in perspektivischer Ansicht wieder:
- Die Beklagte bietet an und vertreibt – etwa über die Handelsplattform B – in der Bundesrepublik Deutschland digitale Küchenwaagen mit den Modellnummern XXX (schwarz) (angegriffene Ausführungsform 1) und XXX (angegriffene Ausführungsform 2), die sich durch die Gestaltung ihrer Tragplatte unterscheiden. Die angegriffenen Ausführungsformen sind nachfolgend wiedergegeben:
- Die Klägerin erwarb im Wege von Testkäufen mehrere Exemplare der angegriffenen Ausführungsform. Ein Muster jeder angegriffenen Ausführungsform befindet sich als Anlage K 10 bzw. K 10a bei der Akte.
- Die Klägerin ist der Auffassung, beide angegriffenen Ausführungsformen verwirklichten die Lehre des Klagepatents. Dies habe eine Untersuchung der erworbenen Muster ergeben. Demnach lasse sich feststellen, dass die angegriffenen Waagen einen kapazitiven Näherungsschalter aufweisen. Sie ließen sich ohne Berührung der Tragplatte bei bloßer Annäherung einschalten. Tatsächlich komme es darauf aber gar nicht an. Es genüge eine Annäherung an die Elektrode, die auch mit einer Berührung der Tragplatte einhergehen könne, da die Elektrode unterhalb der Tragplatte angeordnet sei. Die Tragplatte bestehe aus Glas und damit aus einem elektrisch nicht leitenden Material. Eine darauf befindliche Beschichtung aus einer Art „Alufolie“ sei unschädlich, solang sie die Funktion der Elektrode des kapazitiven Näherungsschalters nicht beeinträchtige.
- Die Klägerin beantragt,
- – wie erkannt –
- Die Beklagte beantragt,
- die Klage abzuweisen.
- Sie ist der Auffassung, bei dem in den angegriffenen Ausführungsformen verbauten Schalter oder Sensor handele es sich nicht um einen kapazitiven Näherungsschalter im Sinne des Klagepatents. Es müsse sich dabei um einen Sensor handeln, der berührungsfrei, also nicht ohne direkten Kontakt, reagiere. Das sei bei den angegriffenen Ausführungsformen aber nicht der Fall; die durch den Schalter bewirkten Schaltungen erfolgten nicht berührungsfrei. Mangels kapazitiven Näherungsschalters fehle es den angegriffenen Ausführungsformen auch an einer entsprechenden Elektrode. Die angegriffene Ausführungsform 2 habe zudem keine Tragplatte aus einem elektrisch nicht leitenden Material. Es handele sich stattdessen um eine Tragplatte aus Edelstahl. So werde die angegriffene Ausführungsform 2 auch beworben.
- Entscheidungsgründe
- Die zulässige Klage ist begründet.
- Die Klägerin hat gegen die Beklagte Ansprüche auf Unterlassung, Auskunft und Rechnungslegung, Vernichtung und Rückruf der Erzeugnisse sowie Schadensersatz dem Grunde nach aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ, §§ 139 Abs. 1 und 2, 140a Abs. 1 und 3, 140b Abs. 1 und 3 PatG, §§ 242, 259 BGB.
- I.
Das Klagepatent betrifft eine Waage mit einer Tragplatte zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse und mit einer elektrischen Schaltvorrichtung zur Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage, siehe Absatz [0001] (alle folgenden, nicht näher bezeichneten Absätze sind solche des Klagepatents). - In der Klagepatentschrift wird ausgeführt, dass solche Waagen im Stand der Technik bekannt gewesen seien. Es handele sich dabei beispielsweise um elektrische Personenwaagen zum Messen und Anzeigen des Körpergewichts mit einer Schaltvorrichtung zum Ein- und Ausschalten, so dass der Bedarf an elektrischer Energie der Waage allein auf den Mess- und Anzeigevorgang beschränkt werden könne. Um den Schaltvorgang auszulösen, hätten bekannte Waagen einen Kontaktschalter, der mit dem Fuß betätigt werden könne. Das Klagepatent sieht es jedoch als nachteilig an, dass ein solcher Kontaktschalter aufwändig zu verkabeln sei und der Benutzer zur Betätigung des Kontaktschalters genau auf den Schalter zielen müsse, siehe Absatz [0002].
- Alternativ dazu – so die Klagepatentschrift weiter – sei ein Akustikschalter bekannt, der auf Schwingungen durch Antippen der Waage reagiere. Allerdings sei es von erheblichem Nachteil, dass der Schalter unkontrolliert und unerwünscht auch auf Fremdgeräusche reagiere, Absatz [0003]. Weiterhin seien ständig in Betrieb befindliche Messsysteme bekannt, die über Gewichtsänderungen auf der Tragplatte aktiviert werden könnten. Nachteilig an solchen Messsystemen seien jedoch die ständige Stromaufnahme und der damit verbundene hohe Energiebedarf, Absatz [0004].
- Die Klagepatentschrift geht ferner auf die US 4,XXX,XXX ein, in der eine elektronische Waage mit Kalibriergewichtsschaltung offenbart werde. Die Waage weise einen Näherungssensor auf, mit dessen Hilfe der Kalibrierungsvorgang bei Annäherung einer Person an die Waage gesperrt oder abgebrochen werden könne, bevor die Waagschale durch Wägegut belastet werden könne, Absatz [0005].
- In der US 4,XXX,XXX werde hingegen eine Analysewaage beschrieben, bei der die Funktionen im Wesentlichen über ein mechanisch arbeitendes Bedientableau aus- oder angewählt werden könnten. Es sei ein Gehäuse mit einer motorisch angetriebenen Tür vorgesehen, die mit Hilfe von Näherungssensoren oder sprachgesteuerten Sensoren aktivierbar sei, Absatz [0006].
- Schließlich werden in der Klagepatentschrift unter anderem die DE 41 XXX XXX A1 und die US 4,XXX,XXX genannt, aus denen ein mechanischer Schalter für eine Waage beziehungsweise allgemein ein Näherungsdetektor bekannt sei, Absatz [0007].
- Vor diesem Hintergrund liegt dem Klagepatent die Aufgabe (das technische Problem) zu Grunde, eine Waage der eingangs genannten Art zu schaffen, die eine einfache Schaltmöglichkeit von hoher Funktionssicherheit bei gleichzeitig niedrigen Herstellungs- und Betriebskosten aufweist, Absatz [0008].
- Zur Lösung dieses Problems schlägt Patentanspruch 1 in der im Einspruchsverfahren eingeschränkt aufrechterhaltenen Fassung eine Waage mit den folgenden Merkmalen vor:
- 1. Waage (1)
1.1 mit einer Tragplatte (4) und
1.2 mit einer elektrischen Schaltvorrichtung (16, 24).
2. Die Tragplatte (4)
2.1 dient der Aufnahme einer zu wiegenden Masse,
2.2 besteht aus einem elektrisch nicht leitenden Material.
3. Die elektrische Schaltvorrichtung (16, 24)
3.1 dient der Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage (1), die im Einschalten der Waage (1) besteht,
3.2 weist einen kapazitiven Näherungsschalter auf.
4. Der kapazitive Näherungsschalter weist eine Elektrode (18, 38, 44) auf.
5. Die Elektrode (18, 38, 44)
5.1 dient der Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode (18, 38, 44),
5.2 ist an der Tragplatte (4) angeordnet,
5.3 ist unter der Tragplatte (4) angeordnet. - Die erfindungsgemäße Lehre soll zum einen besonders bedienungssicher sein, weil ein genaues Treffen des Schalters – wie bei einem mechanischen Schalter – nicht notwendig sei. Da auf mechanische, bewegliche Bauteile verzichtet werden könne, sei die erfindungsgemäße Waage zudem sehr betriebssicher und verschleißunanfällig. Die Schaltvorrichtung mit dem kapazitiven Näherungssensor führe außerdem zu einem niedrigen Energiebedarf, und durch den einfachen Aufbau mit wenigen Elementen sei die Waage auch in Großserienfertigung kostengünstig herzustellen. Zudem weise sie eine hohe Verschmutzungssicherheit auf, Absatz [0009].
- II.
Die angegriffenen Ausführungsformen machen von der Lehre des Klagepatentanspruchs wortsinngemäß Gebrauch. - 1.
Die angegriffenen Ausführungsformen weisen einen kapazitiven Näherungsschalter im Sinne von Merkmal 3.2 mit einer Elektrode gemäß Merkmal 4 und Merkmalsgruppe 5 auf. - a)
Bei einem kapazitiven Näherungsschalter im Sinne des Klagepatents handelt es sich um ein elektronisches Bauteil, das bei einer durch die Annäherung eines Gegenstandes verursachten Änderung der Umgebungskapazität einen Schaltungsvorgang auslöst. Zu diesem Zweck weist der kapazitive Näherungsschalter eine Elektrode auf (Merkmal 4), die der Überwachung ihrer Umgebungskapazität dient (Merkmal 5.1) und letztlich aufgrund einer Kapazitätsänderung den Schaltungsvorgang veranlasst. Davon ausgehend ist es patentgemäß nicht erforderlich, dass der Einschaltvorgang schon bei der Annäherung eines Gegenstands oder Körperteils an die Tragplatte ausgelöst wird; der Klagepatentanspruch schließt es nicht aus, dass zum Einschalten der Waage die Tragplatte berührt werden muss. - Diese Auslegung des Klagepatentanspruchs entspricht der Auslegung, die auch das OLG Düsseldorf in zwei Entscheidungen über eine Verletzung des Klagepatents vertritt (OLG Düsseldorf, Urt. v. 06.06.2013 – I-2 U 60/11; Urt. v. 03.02.2022 – I-2 U 20/21). Die Kammer hält diese Auslegung und die dazu ergangene Begründung für zutreffend und macht sie sich ausdrücklich zu eigen.
- Weder der Wortlaut, noch die Beschreibung des Klagepatents, insbesondere unter Berücksichtigung des gewürdigten Standes der Technik, vermögen eine Auslegung des Klagepatentanspruchs zu rechtfertigen, nach der eine Berührung der Tragplatte zum Einschalten der Waage ausgeschlossen ist. Es ist gemäß Merkmal 5.1 die Elektrode des kapazitiven Näherungsschalters, die ihre Umgebungskapazität überwachen soll und nicht die des gegebenenfalls weiter gefassten Schalters (so ausdrücklich OLG Düsseldorf, Urt. v. 03.02.2022 – I-2 U 20/21). Da aber die Elektrode gemäß Merkmal 5.3 unter der Tragplatte angeordnet sein soll, gehört die Tragplatte selbst zur Umgebung der Elektrode und stellt die Berührung der Tragplatte nur eine Annäherung an die Elektrode dar. Sofern eine solche Annäherung an die Elektrode in Form der Berührung der Tragplatte zu einem Schaltvorgang führt, sind Elektrode und zugehörige Schaltung als kapazitiver Näherungsschalter im Sinne des Klagepatentanspruchs zu qualifizieren (vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 06.06.2013 – I-2 U 60/11; Urt. v. 03.02.2022 – I-2 U 20/21).
- Wenn es in der Klagepatentschrift heißt, der kapazitive Näherungsschalter reagiere allein auf die Annäherung von Gegenständen mit anderen dielektrischen Eigenschaften als sie die stationäre Umgebung des Näherungsschalters aufweise (Abs. [0006]), führt das zu keiner anderen Auslegung. Zum einen weicht der Wortlaut des Klagepatentanspruchs von dieser Textstelle dahingehend ab, dass die Elektrode die Umgebungskapazität der Elektrode überwacht. Zum anderen lässt die zitierte Textstelle offen, ob die Tragplatte als Teil des Näherungsschalters anzusehen ist. Wird dies verneint, besteht kein Widerspruch zum Wortlaut des Klagepatentanspruchs und seiner Auslegung.
- Soweit die Beklagte auf bestimmte Schaltabstände von ca. 40 mm oder gar ca. 60 bis 80 mm abstellt, haben solche Schaltabstände keinen Eingang in den Klagepatentanspruch gefunden und können daher die geschützte technische Lehre nicht einschränken.
- b)
Nach dem unbestrittenen Vortrag der Klägerin sind unterhalb der Tragplatte Elektroden angeordnet (Merkmale 4 und 5.3). Sie sind auch an der Tragplatte angeordnet (Merkmal 5.2), da sie flächig an der Unterseite der Tragplatte – gegebenenfalls getrennt durch einen Luftspalt – anliegen. Einer unmittelbaren Befestigung an der Tragplatte bedarf es bei zutreffendem und von der Beklagten zu Recht nicht in Zweifel gezogenem Verständnis nicht, sondern lediglich einer baulichen Zuordnung im Verhältnis zur Tragplatte (vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 06.06.2013 – I-2 U 60/11), die hier gegeben ist. - Die Elektroden dienen weiterhin der Überwachung ihrer Umgebungskapazität (Merkmal 5.1) und sind damit Bestandteil eines kapazitiven Näherungsschalters (Merkmal 3.2), da sich die Waage bereits durch die Berührung der Tragplatte mit einem Körperteil oberhalb oder in der Nähe der Elektroden einschalten lässt. Dies wird auch von der Beklagten nicht grundsätzlich in Abrede gestellt. Sie ist lediglich der Auffassung, dass die durch den Schalter bewirkten Schaltungen nicht berührungsfrei erfolgten. Eine Berührung der Elektroden erfolgt bei den angegriffenen Ausführungsformen jedoch nicht, und die Berührung der Tragplatte zum Einschalten der Waage ist nach zutreffender Auslegung von der Lehre des Klagepatentanspruchs umfasst.
- 2.
Die angegriffenen Ausführungsformen weisen auch eine Tragplatte aus einem elektrisch nicht leitenden Material gemäß Merkmal 2.2 auf. Das ist für die angegriffene Ausführungsform 1 unstreitig, gilt aber auch für die angegriffene Ausführungsform 2. - a)
Die Tragplatte einer erfindungsgemäßen Waage dient gemäß Merkmal 2.1 der Aufnahme einer zu wiegenden Masse; sie trägt diese. Soweit sie gemäß Merkmal 2.2 aus einem elektrisch nicht leitenden Material besteht soll, schließt dies nicht aus, dass sie eine Beschichtung aufweist, die elektrisch leitend ist, solange ihre Eigenschaften die Funktionsfähigkeit der Elektrode nicht stören. - Die Kammer sieht sich auch hinsichtlich dieses Merkmals im Einklang mit der Auslegung des Klagepatentanspruchs durch das OLG Düsseldorf (OLG Düsseldorf, Urt. v. 03.02.2022 – I-2 U 20/21), die sie sich ausdrücklich zu eigen macht. Das OLG Düsseldorf hat es nicht als entscheidungserheblich angesehen, dass die leitenden (oder nicht leitenden) Eigenschaften einer Beschichtung der dortigen angegriffenen Ausführungsform nicht dargelegt wurden, weil jedenfalls feststand, dass die dielektrischen Eigenschaften der Beschichtung die Funktionsfähigkeit der Elektrode nicht störten (OLG Düsseldorf, Urt. v. 03.02.2022 – I-2 U 20/21 – Ziff. II. 5. a)). Soweit hier von dielektrischen Eigenschaften der Beschichtung die Rede ist, kann dies nicht dahingehend verstanden werden, dass die Beschichtung elektrisch nicht leitend ist. Dies zeigen die weiteren Ausführungen der Entscheidung, wonach „über und/oder unter der Tragplatte einer erfindungsgemäßen Waage auch eine solche Beschichtung vorgesehen sein [kann], die zwar nicht in diesem Sinne Bestandteil der Elektrode ist, deren dielektrische Eigenschaften die Funktion der Elektrode aber nicht beeinträchtigen“ (OLG Düsseldorf, Urt. v. 03.02.2022 – I-2 U 20/21 – Ziff. II. 4. a)). Mit „eine solche Beschichtung“ ist aber die im vorangehenden Satz genannte elektrisch leitende Druck- oder Bedampfungsschicht gemeint, die auch in den Absätzen [0018] und [0019] sowie Unteranspruch 4 erwähnt ist. Demzufolge ist jede Beschichtung unschädlich, solange ihre Eigenschaften die Funktion der Elektrode nicht beeinträchtigen.
- Diese Auslegung ist auch zutreffend, weil zwischen der Tragplatte als solcher und einer etwaigen Beschichtung zu differenzieren ist, die zur eigentlichen Tragefunktion der Tragplatte nichts beiträgt. Es ist das Material der Tragplatte als solcher, das nicht elektrisch leitend sein darf. Es wirkt als Dielektrikum und kann beispielsweise aus Glas, Kunststoff oder Granit bestehen (Abs. [0017]). Indem die Tragplatte aus einem elektrisch nicht leitenden Material besteht, stellt sie die Funktionsfähigkeit des kapazitiven Näherungsschalters sicher. Sie ermöglicht es, dass die Elektrode bei Annäherung von Gegenständen oder Körperteilen mit anderen dielektrischen Eigenschaften als denjenigen ihrer stationären Umgebung eine Kapazitätsänderung erfährt, die den Schaltungsvorgang auslöst (vgl. Abs. [0009] und OLG Düsseldorf, Urt. v. 03.02.2022 – I-2 U 20/21). Eine Beschichtung oder sonstige Ausstattung der Tragplatte ist vor diesem Hintergrund unschädlich, wenn sie die Funktion der Elektrode nicht beeinträchtigt, etwa indem sie die Elektrode von einer Kapazitätsänderung durch die Annäherung eines Gegenstands mit anderen dielektrischen Eigenschaften nicht abschirmt. Dies kann unter Umständen auch bei einer Beschichtung aus einem elektrisch leitenden Material der Fall sein – wenn nur die Tragplatte als solches aus einem elektrisch nicht leitenden Material gebildet ist.
- Eine andere Auslegung ist auch nicht vor dem in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Einwand der Beklagten gerechtfertigt, die Materialeigenschaft der Tragplatte sei nicht in Bezug auf die Funktionsfähigkeit des Näherungsschalters zu verstehen, sondern in Abgrenzung zum Stand der Technik auszulegen und dahin zu verstehen, dass gerade die Oberfläche der Tragplatte nicht elektrisch leitend sein dürfe. Demnach sei das Merkmal 2.2 im Einspruchsverfahren in den Klagepatentanspruch gelangt, um sich von so genannten BMI-Waagen abzugrenzen, die zur Messung des BMI gerade darauf angewiesen seien, dass die Tragplatte, jedenfalls aber ihre Oberfläche, elektrisch leitfähig sei. Mit diesem Einwand vermag die Beklagte schon deshalb nicht durchzudringen, weil Gründe, aus denen der Patentinhaber im Einspruchsverfahren einen Patentanspruch nur noch eingeschränkt verteidigt, zur Auslegung des Klagepatentanspruch nicht herangezogen werden können. Ungeachtet dessen lässt sich der Klagepatentschrift aber auch nicht entnehmen, dass sich die Lehre des Klagepatents gerade durch die fehlende elektrische Leitfähigkeit der Tragplatte oder ihrer Oberfläche von BMI-Waagen abgrenzen möchte. Vielmehr wird das Merkmal davon losgelöst allein im Zusammenhang eines Ausführungsbeispiels beschrieben, so dass die Annahme gerechtfertigt ist, dass es bei der Materialeigenschaft der Tragplatte tatsächlich um die Funktion der Sicherung der Funktionsweise des kapazitiven Näherungsschalters geht.
- b)
Beide angegriffenen Ausführungsformen weisen eine aus Glas, also aus einem elektrisch nicht leitenden Material bestehende Tragplatte auf und verwirklichen so das Merkmal 2.2. Dass die angegriffene Ausführungsform darüber hinaus eine metallische Beschichtung in Form einer Folie trägt, ist unschädlich und führt nicht aus der Lehre des Klagepatents heraus. Auch wenn die Folie elektrisch leitend ist, besteht die Tragplatte als solches aus Glas, ohne dass die Folie zur Tragefunktion beiträgt, und beeinträchtigt die Folie die Funktionalität des kapazitiven Näherungsschalters nicht. Der Bereich der Elektroden ist von der metallischen Folie gerade ausgenommen. Die angegriffene Ausführungsform II lässt sich unstreitig mittels Annäherung eines Körperteils an die Elektrode einschalten. Dass die Waage dahingehend beworben wird, dass es sich um eine Küchenwaage aus Edelstahl handele, führt zu keinem anderen Ergebnis, da sich die Werbeaussage nicht eindeutig auf die Tragplatte als solche bezieht. Zudem verwirklicht die tatsächliche Gestaltung der angegriffenen Ausführungsform 2 der Lehre des Klagepatents, so dass sich Angebot und Vertrieb auch auf diese Waage beziehen. - 3.
Die weiteren Merkmale des Klagepatentanspruchs werden durch die angegriffenen Ausführungsformen unstreitig verwirklicht. - III.
Da die Beklagte die angegriffenen Ausführungsformen anbietet und in Verkehr bringt, ohne dazu berechtigt zu sein, stehen der Klägerin auf Rechtsfolgenseite nachstehende Ansprüche zu. - 1.
Die Beklagte ist der Klägerin zur Unterlassung verpflichtet, § 139 Abs. 1 PatG. - 2.
Weiterhin hat die Klägerin gegen die Beklagte dem Grunde nach einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz, § 139 Abs. 1 und 2 PatG. - Das für die Zulässigkeit des Feststellungsantrags gemäß § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse ergibt sich daraus, dass die Klägerin derzeit nicht in der Lage ist, den konkreten Schaden zu beziffern und ohne eine rechtskräftige Feststellung der Schadensersatzpflicht die Verjährung von Schadensersatzansprüchen droht.
- Die Beklagte ist zum Schadensersatz verpflichtet, weil sie die Patentverletzung schuldhaft beging. Als Fachunternehmen hätte sie die Patentverletzung bei Anwendung der im Geschäftsverkehr erforderlichen Sorgfalt zumindest erkennen können, § 276 BGB. Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass der Klägerin durch die Schutzrechtsverletzung ein Schaden entstanden ist.
- 3.
Der Klägerin steht gegen die Beklagte auch ein Anspruch auf Auskunft und Rechnungslegung aus § 140b Abs. 1 PatG, §§ 242, 259 BGB zu. - a)
Der Anspruch auf Auskunft über die Herkunft und den Vertriebsweg der angegriffenen Ausführungsform ergibt sich auf Grund der unberechtigten Benutzung des Erfindungsgegenstands unmittelbar aus § 140b Abs. 1 PatG, der Umfang der Auskunftspflicht aus § 140b Abs. 3 PatG. - b)
Die weitergehende Auskunftspflicht und die Verpflichtung zur Rechnungslegung folgen aus §§ 242, 259 BGB, damit die Klägerin in die Lage versetzt wird, den ihr zustehenden Schadensersatzanspruch zu beziffern. Die Klägerin ist auf die tenorierten Angaben angewiesen, über die sie ohne eigenes Verschulden nicht verfügt, und die Beklagte wird durch die von ihr verlangten Auskünfte nicht unzumutbar belastet. -
4.
Die Klägerin hat schließlich gegen die Beklagte gemäß § 140a Abs. 1 und 3 PatG einen Anspruch auf Rückruf der patentverletzenden Erzeugnisse aus den Vertriebswegen und deren Vernichtung. - IV.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91 Abs. 1, 709 ZPO. - Dem von der Beklagten hilfsweise geltend gemachten Vollstreckungsschutzantrag war nicht stattzugeben, da sie die Voraussetzungen des § 712 Abs. 1 ZPO weder dargelegt, noch gemäß § 714 Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht hat.