Düsseldorfer Entscheidungen Nr. 3151
Landgericht Düsseldorf
Urteil vom 27. April 2021, Az. 4a O 27/20
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I.
Die einstweilige Verfügung vom 20. April 2020 wird aufrechterhalten. - II.
Die Verfügungsbeklagte hat auch die weiteren Kosten des Verfahrens zu tragen. - Tatbestand
- Die Verfügungsklägerin nimmt die Verfügungsbeklagte wegen Verletzung des europäischen Patents EP 1 530 XXX B1 (Anlagen rop 3, rop 3a; nachfolgend: Verfügungspatent) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes auf Unterlassung in Anspruch.
- Das Verfügungspatent wurde am 22. August 2003 angemeldet. Es nimmt die Priorität der Dokumente US XXX vom 23. August 2002, GB XXX vom 23. Dezember 2002 und GB XXX vom 20. Februar 2003 in Anspruch. Der Hinweis auf die Erteilung des Verfügungspatents wurde am 13. März 2013 bekannt gemacht. Das Verfügungspatent steht in Kraft. Es war bereits Gegenstand eines Einspruchsverfahrens (Anlagen rop 12, 12a) und wurde aufrechterhalten. Nachdem die dortige Einsprechende die Beschwerde zurücknahm, wurde die Entscheidung der Einspruchsabteilung rechtskräftig. Die A, X, X, eine 100%ige Tochter der Verfügungsbeklagten, hat unter dem 15. Oktober 2019 Nichtigkeitsklage (Anlage rop 14) vor dem Bundespatentgericht erhoben, über die bislang noch nicht entschieden ist.
- Der von der Verfügungsklägerin geltend gemachte Anspruch 1 des Verfügungspatents lautet in deutscher Übersetzung wie folgt:
- „Modifiziertes Nucleotidmolekül, umfassend eine Purin- oder Pyrimidinbase und eine Ribose- oder Desoxyribose-Zuckereinheit mit einer kovalent daran gebundenen, entfernbaren, 3′-OH-blockierenden Gruppe, so dass an dem 3′-Kohlenstoffatom eine Gruppe der Struktur
- -O-Z
- gebunden ist,
- wobei es sich bei Z um eines von
- -C(R‘)2-N(R“)2,
-C(R‘)2-N(H)R“,
und -C(R‘)2-N3 - handelt,
- wobei es sich bei jedem R“ um eine entfernbare Schutzgruppe oder einen Teil davon handelt;
- es sich bei jedem R‘ unabhängig um ein Wasserstoffatom, eine Alkyl-, substituierte Alkyl-, Arylalkyl-, Alkenyl-, Alkinyl-, Aryl-, Heteroaryl-, heterozyklische, Acyl-, Cyano-, Alkoxy-, Aryloxy-, Heteroaryloxy- oder Amido-Gruppe oder eine durch eine verknüpfende Gruppe gebundene nachweisbare Markierung handelt; oder (R‘)2 eine Alkylidengruppe der Formel =C(R’“)2 darstellt, wobei jeder R'“ gleich oder unterschiedlich sein kann und aus der Gruppe ausgewählt ist, umfassend Wasserstoff- und Halogenatome und Alkylgruppen; und
wobei das Molekül umgesetzt werden kann, um ein Zwischenprodukt zu ergeben, bei welchem jeder R“ gegen H ausgetauscht ist, wobei dieses Zwischenprodukt unter wässrigen Bedingungen dissoziiert, um ein Molekül mit einem freien 3′-OH hervorzubringen.“ - Unteranspruch 4 lautet in deutscher Übersetzung wie folgt:
- „Molekül gemäß einem der Ansprüche 1 bis 3, wobei es sich bei Z um eine Azidomethylgruppe handelt.“
- Die Verfügungsbeklagte ist ein Biotechnologieunternehmen mit Sitz in B. Sie ist eines von verschiedenen Konzernunternehmen der chinesischen C-Gruppe, die sich unter dem Spartennamen „C“ auf Sequenzierungstechnologie focussiert. Gegen zwei andere Konzernunternehmen, die D, Ltd. und die A, führte die Verfügungsklägerin bereits ein paralleles Hauptsacheverfahren, in dem die Kammer erstinstanzlich auf Verletzung des hiesigen Verfügungspatents erkannt hat (Urteil vom 3. November 2011, Az. 4a O 31/19).
- Zum Spartensortiment gehören u.a. Sequenzierungsgeräte, Kits mit Reagenzien für die Sequenzierung und Laborgeräte zur Vorbereitung von Proben. Die Sequenzierungsgeräte wurden in der Vergangenheit unter der Bezeichnung „E“, werden nunmehr aber unter der Bezeichnung „F“ vertrieben. Beim Betrieb dieser Geräte werden modifizierte Nucleotidmoleküle (nachfolgend: angegriffene Ausführungsform) benötigt, die Bestandteile sogenannter Sequenzierungskits sind, die z.B. die Bezeichnung „G“ tragen. Die Kits sind Bestandteile von Sequenzierungssets. Bei den Sets gibt es auch eine Variante mit der Bezeichnung „H“.
- Die Verfügungsbeklagte bot an und lieferte die angegriffene Ausführungsform im Jahr 2018 nach Deutschland an die Universität I.
- Die Verfügungsklägerin mahnte die Verfügungsbeklagte am 31. März 2020 (Anlagen rop 15, 15a) wegen Verletzung des Verfügungspatents erfolglos ab.
- Die Kammer hat mit Beschluss vom 20. April 2020 eine einstweilige Verfügung mit folgendem Tenor gegen die Verfügungsbeklagte erlassen:
- „
I. Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Verfügung – wegen der besonderen Dringlichkeit ohne vorherige mündliche Verhandlung – untersagt, - modifizierte Nucleotidmoleküle, umfassend eine Purin- oder Pyrimidinbase und eine Ribose- oder Desoxyribose-Zuckereinheit mit einer kovalent daran gebundenen, entfernbaren, 3‘-OH-blockierenden Gruppe, so dass an dem 3‘-Kohlenstoffatom eine Gruppe der Struktur
- -O-Z
- gebunden ist,
- wobei es sich bei Z um eine Azidomethylgruppe handelt,
- in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in Verkehr zu bringen, oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen.
- II. Der Antragsgegnerin wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen dieses gerichtliche Verbot als Zwangsvollstreckungsmaßnahme ein Ordnungsgeld bis zu 250.000,- EUR, ersatzweise Ordnungshaft, oder eine Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, jeweils zu vollziehen an ihrem Geschäftsführer, angedroht.
- […]“
- Die Kammer hat ferner am 8. Mai 2020 einen Beschluss nach § 184 ZPO erlassen, nachdem die Verfügungsklägerin die Zustellung der einstweiligen Verfügung im Ausland beantragt hat. Der Verfügungsbeklagten wurde der Beschluss vom 8. Mai 2020 am 21. Juli 2020 zugestellt. Der High Court Hong Kong bestätigte eine Zustellung der Beschlussverfügung vom 20. April 2020 am 29. September 2020 (Bl. 297 f.GA).
- Mit Schriftsatz vom 1. Oktober 2020 hat die Verfügungsbeklagte Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung eingelegt.
- Die Verfügungsklägerin behauptet, sie habe erst am 10. März 2020 aufgrund der E-Mail der Universität I (vgl. Anlage rop 9) von der Lieferung durch die Verfügungsbeklagte erfahren.
- Sie ist der Ansicht, die einstweilige Verfügung sei wirksam vollzogen worden. Der zweite Zustellungsversuch sei erfolgreich gewesen, aber auch die erste Zustellung per Einschreiben/Rückschein sei wirksam. Der Stempel auf dem Rückschein belege, dass die Zustellung am Empfangstresen der Verfügungsbeklagten, an dem für alle im X. Stockwerk der angegebenen Adressen ansässigen (…) angenommen werde, erfolgt sei und damit am eingetragenen Sitz der Gesellschaft hinterlassen worden sei gemäß § 827 der Companies Ordinance von Hong Kong.
- Sie ist weiter der Auffassung, – weil die D, Ltd auf der Messe J in den Jahren 201X und 201X auf ihrem Messestand ihre Sequenziergeräte und die entsprechenden Kits ausgestellt habe, und der C-Konzern auf einer Werbeveranstaltung am 17. Dezember 2019 in K das gleiche Sequenziergerät, das an die Universität I bereits geliefert worden sei, beworben habe – dass eine Erstbegehungsgefahr für Lieferungen nach L gegeben sei.
- Die Alternativen 1 und 3 der Ausgestaltung der anspruchsgemäßen Struktur Z stünden nicht in einem Exklusivitätsverhältnis und Unteranspruch 4 sei seinerseits ein Spezialfall der Alternative 3. Die Azidomethylgruppe verwirkliche denknotwendig die Merkmale der Umsetzung in ein Zwischenprodukt (Merkmal 1.3.5) und dessen Dissoziation unter wässrigen Bedingungen (Merkmal 1.3.5.1).
- Die Sequenzierungsreagenzien der H-Reihe stellten keinen eigenen Streitgegenstand dar, sondern auch diese Sets enthielten Reagenzienkits mit der Komponente „M“, welche die streitgegenständliche Azidomethyl-Blockiergruppe aufweise. Das Benutzerhandbuch für H stamme von der Internetseite der Muttergesellschaft, wo auch die H-Kits weltweit beworben würden. Die Verfügungsbeklagte agiere als Vertriebsgesellschaft für den deutschen Markt.
- Ferner liege der Verfügungsgrund vor.
- Da das Verfügungspatent ein Einspruchsverfahren überstanden habe, sei dessen Rechtsbestand hinreichend gesichert. Die nunmehr gegen das Verfügungspatent anhängige Nichtigkeitsklage stütze sich ausschließlich auf die angeblich mangelnde Erfindungshöhe, wobei die maßgeblichen Entgegenhaltungen bereits Gegenstand des Einspruchsverfahrens gewesen seien. Auch der mittlerweile ergangene qualifizierte Hinweis des Bundespatentgerichts vom 19. Januar 2021 (nachfolgend: BPatG; Anlage rop 23) sehe die Lehre des Verfügungspatents nicht durch den Stand der Technik nahe gelegt.
- Die Dringlichkeit sei gegeben. Aufgrund der ausländischen Aktivitäten der Verfügungsbeklagten habe die Verfügungsbeklagte nicht auf eine Tätigkeit in Deutschland schließen müssen. Die Äußerung der Verfügungsklägerin im englischen Verfahren habe sich auf deren Aktivität in N bezogen. Abgesehen davon sei die Nomenklatur des Konzerns, dem die Verfügungsbeklagte angehöre, nicht stringent. In den Jahren XXX habe die Verfügungsklägerin von deutschen Kunden Hinweise auf Angebote der A erhalten, jedoch nicht auf eine Beteiligung der Verfügungsbeklagten am Vertrieb. Nach der Klageerwiderung in der Hauptsache vom 16. Oktober 2019 habe sich die Verfügungsklägerin darum bemüht, schriftliche Belege für die Vertriebshandlungen der A in Deutschland zu erlangen. Im Zuge dessen habe sie die Anfragen bei der Universität I gestellt.
- Die technische Komplexität stehe dem Erlass der einstweiligen Verfügung nicht entgegen, dies zeige bereits, dass das angerufene Gericht im Rahmen des Hauptsacheverfahrens ohne Weiteres in der Lage gewesen sei, den Sachverhalt zutreffend einzuordnen und zu würdigen.
- Ferner liege auch keine Grundrechtsverletzung vor, da die Verfügungsklägerin die Verfügungsbeklagte im Vorfeld abgemahnt habe. Das Begehren der Abmahnung sei mit dem des Verfügungsantrags identisch, wobei unschädlich sei, dass die Setvariante H und detaillierte Ausführungen zum Rechtsbestand nicht in der Abmahnung Erwähnung fänden. Die gesetzte Äußerungsfrist sei vor dem Hintergrund, dass die Verfügungsbeklagte als Muttergesellschaft der A mit der Verletzungs- und Rechtsbestandsdiskussion vertraut gewesen sei, nicht unangemessen kurz.
- Die Verfügungsklägerin beantragt,
- die einstweilige Verfügung vom 20. April 2020 zu bestätigen.
- Die Verfügungsbeklagte beantragt,
- die einstweilige Verfügung des Landgerichts Düsseldorfs vom 20. April 2020 (4a O 27/20) aufzuheben und den auf ihren Erlass gerichteten Antrag der Verfügungsklägerin vom 9. April 2020 zurückzuweisen.
- Die Verfügungsbeklagte meint, dass die einstweilige Verfügung bereits deshalb aufzuheben sei, weil die Zustellung an die falsche Gesellschaft erfolgt und damit unwirksam sei. Der erste Zustellungsversuch sei fehlgeschlagen, weil der Rückschein undatiert und ohne Unterschrift sei und den Stempel einer anderen Gesellschaft aufweise. Der Kammer sei die Mangelhaftigkeit der Zustellung am 17. August 2020 aufgefallen, nicht jedoch, dass die Zustellung an die falsche Gesellschaft erfolgt sei. Eine Heilung nach § 189 ZPO sei auch nicht durch die Einlegung des Widerspruchs möglich, weil die nationalen Heilungsvorschriften keine Anwendung fänden, da ansonsten ein Verstoß gegen völkerrechtliche Zustellungsbestimmungen vorläge. Aus der Bestellung der Prozessbevollmächtigten könne keine wirksame Zustellung an die Verfügungsbeklagten abgeleitet werden.
- Beim zweiten Zustellungsversuch habe zum Zeitpunkt der Akteneinsicht der Verfügungsbeklagten ein Zeugnis der ersuchten Behörde über die Zustellung gefehlt. Die Vollziehungsfrist sei nicht eingehalten. Der Verfügungsbeklagten sei bis heute keine einstweilige Verfügung zugestellt worden, so dass auch die Ausnahme einer demnächst erfolgten Zustellung nicht greife.
- Die Anforderungen an eine demnächst erfolgte Zustellung seien darüber hinaus nicht eingehalten worden. Der Verfügungsklägerin habe es oblegen, sich spätestens am 6. Juni 2020 zu erkundigen, ob die Zustellung veranlasst worden sei. Hätte sie entsprechend gehandelt, wäre aufgefallen, dass das Ersuchen zu diesem Zeitpunkt noch nicht weitergeleitet gewesen sei. Bei einer entsprechenden Nachfrage hätte sich die Verzögerung vermeiden lassen.
- Nach Anzeige der anwaltlichen Vertretung der Verfügungsbeklagten sei nach dem unwirksamen ersten Zustellungsversuch zudem keine Zustellung an die Prozessbevollmächtigten der Verfügungsbeklagten im Inland zum Zwecke der Vollziehung erfolgt.
- Die Verfügungsbeklagte ist ferner der Ansicht, eine Verletzung des Verfügungspatents scheide aus.
- Der Anspruch 1 des Verfügungspatents fordere, dass die Ausgangsstruktur des Moleküls stofflich dazu geeignet sein müsse, durch den anspruchsgemäßen Austausch von R´´ gegen H ein Zwischenprodukt zu ergeben (Merkmal 1.3.5), das unter wässrigen Bedingungen dissoziiert, um ein Molekül mit einem freien 3´-OH hervorzubringen (Merkmal 1.3.6). Darauf sei der Anspruch beschränkt. Ein Stickstoffatom (N) sei nicht beansprucht. Eine andere Auslegung lasse den Anspruchswortlaut zu sehr außer Acht. Die aus dem Wortlaut folgende Inkonsistenz des Anspruchs läge in der Verantwortung der Patentinhaberin, die Herrin ihrer Ansprüche sei.
- Da Unteranspruch 4 von Anspruch 1 abhänge, sei Unteranspruch 4 ebenfalls auf Moleküle beschränkt, in denen Z eine R´´-Gruppe enthalte und die bereits genannten Merkmale erfülle.
- Die angegriffene Ausführungsform stelle keine Nucleotide mit einer R´´-Schutzgruppe dar, so dass diese für eine anspruchsgemäße Umsetzung nicht geeignet seien. Dies gelte ebenfalls für die „H“-Reagenzien. Die erste Auflage des vorgelegten Benutzerhandbuchs stamme von Mai 2020 und sei daher erst nach Erhebung des hiesigen Antrags veröffentlicht worden. Das Handbuch stehe nicht in Bezug zu Vertriebshandlungen der „H“-Reagenzien in Deutschland.
- Im Übrigen habe die Verfügungsklägerin einen Vertrieb von Nucleotidmolekülen der Serie „H“-Reagenzien nicht schlüssig behauptet. Abgesehen davon widerspreche diese Behauptung der Erklärung eines Mitarbeiters der Antragstellerin, die dieser in einem einstweiligen Verfügungsverfahren in O abgegeben habe. Darin habe es geheißen, dass ihm aus seiner Marktkenntnis heraus nicht bekannt sei, dass C bisher irgendwo auf der Welt tatsächlich Produkte mit H-Chemie verkauft habe.
- Die Dringlichkeit sei nicht gegeben, weil die Verfügungsklägerin wegen desselben Vorganges – Lieferung an die Universität I – bereits ein Hauptsacheverfahren gegen die A im März 2019 angestrengt habe. Auf Basis derselben tatsächlichen Vorgänge könne nicht mehr als ein Jahr später eine Dringlichkeit gegeben sein, zumal die Verfügungsklägerin gerade kein einstweiliges Verfügungsverfahren gegen die in der Hauptsache Beklagten angestrengt habe. Spätestens seit dem 15. Oktober 2019 habe die Verfügungsklägerin Kenntnis darüber gehabt, dass die A keine mit der dortigen Klage angegriffenen Vertriebshandlungen begangen hatte, so dass sie zügig Nachforschungen hätte anstellen müssen, wer hierfür verantwortlich gewesen sei. So habe die Verfügungsklägerin im Herbst 2019 diesbezüglich ein Discovery Verfahren in den P initiiert. Dass die Verfügungsklägerin das falsche Unternehmen verklagt habe, vermöge nicht zu begründen, warum die Unterbindung derselben Vertriebshandlungen gegen die tatsächliche Lieferantin ein Jahr später nunmehr dringlich sein solle. Die Verfügungsklägerin habe im Hauptsacheverfahren die Behauptung, die A habe geliefert, zurückgenommen. Die Anstrengung eines Hauptsacheverfahrens habe aber dokumentiert, dass sie für den hiesigen streitgegeständlichen Sachverhalt keine Notwendigkeit des einstweiligen Rechtsschutzes angenommen habe. Die Rechtsbeeinträchtigung habe sich indes nicht dadurch geändert, weil die Verfügungsklägerin angeblich ein Jahr später erstmals erfahre, dass die Verfügungsbeklagte für die Lieferung verantwortlich sei.
- Ferner sei die Verfügungsklägerin bereits Monate vor dem 10. März 2020 über die Funktion der Verfügungsbeklagten als Lieferantin der angegriffenen Ausführungsform in mehreren europäischen Ländern informiert gewesen, weswegen sie auch Klagen im XXX und N angestrengt habe. In dem X Verfahren hätten die dortigen Parteivertreter der Verfügungsklägerin bereits am 1. Januar 2020 mitgeteilt, dass die Verfügungsbeklagte in X Sequenzierer und Reagenzien vertrieben habe. Die Verfügungsklägerin habe im dortigen Prozess sodann schriftsätzlich mitgeteilt, dass nach ihrer Überzeugung („[…] the Claimant believes […]“) die dortigen Beklagten, zu denen auch die Verfügungsbeklagte zählte, auch an Lieferungen in andere europäische Länder beteiligt gewesen sei. Im schwedischen Verfahren habe die Verfügungsklägerin vorgetragen, dass die Verfügungsbeklagte Sequenzierreagenzien-Kits in N angeboten habe. Im Januar 2020 habe die Verfügungsklägerin ausweislich ihrer Klageerhebung gegen die Verfügungsbeklagte in N über Dokumente verfügt, die sie zu weiteren Nachforschungen hätte veranlassen müssen. Da eine Lieferung nach Übersee gleichbedeutend mit Deutschland sei, habe die Verfügungsklägerin in dem Moment positive Kenntnis gehabt, als zu ihrer Überzeugung festgestanden habe, dass nach Europa geliefert werde. Abgesehen davon habe die Verfügungsklägerin schon am 5. September 2019 in dem US-Discovery Verfahren einen Antrag gestellt, der darauf abgezielt habe, Unterlagen zu erlangen, die den Vertrieb in Deutschland betrafen. Erst Monate später erfolgte die Anfrage bei der Universität I.
- Die Verfügungsklägerin hätte bei Beachtung der ihr obliegenden Marktbeobachtungspflicht von den relevanten Vorgängen bereits im Mai 2019 Kenntnis haben können. Zu diesem Zeitpunkt habe sie bereits Reagenzien bei der Uni Hannover gesichtet, und somit konkrete Anhaltspunkte vor dem 10. Februar 2020 gehabt, um bei der Universität I Nachforschungen anzustellen. So habe die Universität Q bereits seit dem X auf ihrer Webseite eine Kooperation mit dem (…) Genomikunternehmen C veröffentlicht (vgl. Anlage AG 12). Diesem greifbaren Hinweis habe sich die Verfügungsklägerin verschlossen, anderenfalls wäre sie der Vertriebstätigkeit der Verfügungsbeklagten bereits im Jahr 2018 im Hinblick auf die Sequenzierer gewahr geworden. Die Käufe der Universität Q hätte die Verfügungsklägerin ebenso einer Online-Veröffentlichung eines wichtigen Fachmagazins vom X (vgl. Anlage AG 13) entnehmen können.
- Die Dringlichkeitsfrist habe nach Auffassung der Verfügungsbeklagten bereits im Mai 2019 spätestens aber im Januar 2020 zu laufen begonnen.
- Es liege auch kein Sonderfall der kurzen Restlaufzeit des Verfügungspatents vor, da es noch gut drei Jahre in Kraft stehe.
- Ferner bestünden ernsthafte Zweifel am Rechtsbestand des Verfügungspatents, da es ihm an der notwendigen Erfindungshöhe fehle. Der Rechtsbestand sei zwischen den Parteien hoch streitig, so dass die Verfügungsbeklagte der Auffassung ist, dass der Rechtsbestand mitnichten in einem Maße als gesichert angesehen werden könne, wie es für den Erlass einer einstweiligen Verfügung erforderlich sei. Die vorläufige Einschätzung des Bundespatentgerichts im qualifizierten Hinweis beruhe auf einem grundlegenden Missverständnis und sei deswegen fehlerbehaftet.
- Zur Sicherstellung des rechtlichen Gehörs und der prozessualen Waffengleichheit wäre die Verfügungsbeklagte jedenfalls vor Erlass der einstweiligen Verfügung anzuhören gewesen. Daran ändere auch die vorherige Abmahnung nichts, zumal die Verfügungsklägerin ihr keine angemessene Einlassungsfrist in der Abmahnung gesetzt habe. Zum Zeitpunkt der Abmahnung habe die Verfügungsklägerin noch nicht zu den Angriffen auf den Rechtsbestand in der Nichtigkeitsklage Stellung genommen.
- Das Gericht hat den Parteien und den Prozessbevollmächtigten von Amts wegen gestattet, sich während der mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzu-halten und dort Verfahrenshandlungen über den von der Justiz des Landes NRW zur Verfügung gestellten Virtuellen Meetingraum (VMR) vorzunehmen. Davon haben die Prozessbevollmächtigten Gebrauch gemacht.
- Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird ergänzend auf die Schriftsätze der Parteien samt Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 23. März 2021 Bezug genommen.
- Entscheidungsgründe
- Auf den zulässigen Widerspruch der Verfügungsbeklagten ist die einstweilige Verfügung zu bestätigen. Der Verfügungsantrag ist zulässig und begründet.
- Die Verfügungsklägerin hat aufgrund der Verletzungshandlungen der Verfügungsbeklagten den geltend gemachten Verfügungsanspruch nach Art. 64 EPÜ i. V. m. §§ 9, 139 Abs. 1 PatG glaubhaft gemacht. Die angegriffene Ausführungsform verletzt die Kombination der Ansprüche 1 und 4 des Verfügungspatents. Ferner hat die Verfügungsklägerin auch einen Verfügungsgrund hinreichend dargelegt und glaubhaft gemacht.
- A.
- Der Antrag ist zulässig.
- Das Landgericht ist örtlich zuständig (§ 32 ZPO i.V.m. § 143 PatG i.V.m. VO über die Zuweisung von Patentstreitsachen, Gebrauchsmusterstreitsachen und Topografieschutzsachen an das LG Düsseldorf v. 30. August 2011).
- Die Lieferung und das Angebot als solches an die Universität I sind unstreitig. Zwar ist eine Lieferung oder ein Angebot nach Nordrhein-Westfalen (NRW) bislang nicht seitens der Verfügungsklägerin dargetan. Für den Gerichtsstand der unerlaubten Handlung ist aber ausreichend, wenn eine Erstbegehungsgefahr einer Verletzungshandlung in NRW besteht. Dies ist für die gleichartigen Verletzungshandlungen des Inverkehrbringens und des Anbietens jedenfalls der Fall. Denn die Umstände des Einzelfalles lassen gerade den Schluss zu, dass die Verfügungsbeklagte ebenfalls an Forschungseinrichtungen und/oder Labore mit Sitz in NRW bereit ist zu liefern. Indiziell spricht hierfür bereits, dass der Konzern auf einer Werbeveranstaltung in Düsseldorf 2019 vertreten war und gerade keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass bei entsprechenden Geschäftsabschlüssen auf eine andere Lieferinfrastruktur zurückgegriffen wird. Insofern besteht jedenfalls die ernsthafte Gefahr, dass die Verfügungsbeklagte die angegriffene Ausführungsform zukünftig auch nach NRW liefert.
- B.
- Der Antrag ist auch begründet.
- Die einstweilige Verfügung ist nicht wegen formeller Fehler aufzuheben (hierzu unter I.). Weiterhin hat die Verfügungsklägerin sowohl einen Verfügungsanspruch (hierzu unter II., III.) als auch einen Verfügungsgrund (hierzu unter IV., V.) dargelegt und glaubhaft gemacht.
- I.
- Es sind keine formellen Fehler beim Erlass der einstweiligen Verfügung ersichtlich.
-
1.
Der Einwand der Verfügungsbeklagten, ihr sei bei Erlass der Beschlussverfügung kein rechtliches Gehör gewährt worden, führt nicht unabhängig von dem Vorliegen der materiellen Voraussetzungen für ihren Erlass zur Aufhebung der einstweiligen Verfügung (vgl. LG Düsseldorf, Urteil v. 29. Mai 2020, Az.. 38 O 10/20). Sollte der Verfügungsbeklagten vor Erlass der einstweiligen Verfügung nicht ausreichend rechtliches Gehör gewährt worden sein, wäre ein solcher Verstoß infolge der auf den Widerspruch hin durchgeführten mündlichen Verhandlung, an deren Schluss sämtliche Voraussetzungen für den Erlass der einstweiligen Verfügung vorliegen müssen, geheilt (vgl. BVerfG, BeckRS 2017, 123654; OLG Düsseldorf, BeckRS 2019, 5570; LG Düsseldorf, Urteil v. 29. Mai 2020, Az. 38 O 10/20). - Angesichts der erfolgten vorherigen Abmahnung ist ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör zudem nicht hinreichend dargelegt. Die Verfügungsbeklagte bemängelte in der Antwort auf die Abmahnung (Anlagen rop 16, 16a) insoweit, dass die Verfügungsklägerin sich im parallelen Hauptsacheverfahren u.a. gegen ihre Tochtergesellschaft noch nicht zu deren Klageerwiderung und insbesondere zum Rechtsbestand geäußert hatte. Mit der Abmahnung erlangte die Verfügungsbeklagte Kenntnis über den hiesigen Verletzungsvorwurf. Es stand der Verfügungsbeklagten frei sich sowohl zur Verletzungsfrage als auch zum Rechtsbestand zu äußern, dafür bedurfte es zunächst einmal keiner weiteren Ausführungen der Verfügungsklägerin. Darüber hinaus war die Verfügungsbeklagte über die Thematik angesichts des Verfahrens gegen ihre Tochtergesellschaft im Bilde, so dass auch die einwöchige Frist nicht unangemessen kurz erscheint, um gegebenenfalls eine Schutzschrift zu hinterlegen. Hierauf kommt es angesichts der vorigen Ausführungen indes nicht entscheidungserheblich an.
-
2.
Die Verfügungsklägerin hat die einstweilige Verfügung vom 20. April 2020 auch ordnungsgemäß vollzogen, § 922 Abs. 2 ZPO. - Sofern der Titelschuldner im Ausland ansässig ist, genügt es wenn der Gläubiger innerhalb der Vollziehungsfrist einen Antrag auf Auslandszustellung bei Gericht einreicht und daraufhin die tatsächliche Zustellung demnächst im Sinne von § 167 ZPO – sprich ohne jede vom Gläubiger zu vertretende Verzögerung – bewirkt wird (vgl. OLG Frankfurt, GRUR-RR 2015, 183 – Deutschsprachiger Verkaufsleiter; OLG Düsseldorf BeckRS 2015, 9096; Cepl/Voß/Voß, 2. Aufl., ZPO, § 929 Rn. 16).
- Die Verfügungsklägerin hat innerhalb der einmonatigen Vollziehungsfrist am 23. April 2020 den Antrag auf Zustellung per Einschreiben mit Rückschein (erster Zustellungsversuch) sowie am 30. April 2020 den Antrag auf förmliche Auslandszustellung (zweiter Zustellungsversuch) gestellt.
- a)
Es erscheint fraglich, ob der erste Zustellungsversuch wirksam war. So weist der Rückschein lediglich einen Poststempel vom 21. Juli 2020 auf, jedoch kein Empfangsdatum und keine Unterschrift, sondern nur einen Unternehmensstempel, der sich nicht eindeutig der Verfügungsbeklagten zuordnen lässt. Dies kann angesichts des erfolgreichen zweiten Zustellungsversuchs indes dahinstehen. - b)
Die zweite Zustellung ist wirksam erfolgt. Aus dem Certificate des High Court O vom 20. Oktober 2020 ergibt sich, dass die einstweilige Verfügung der Verfügungsbeklagten am 29. September 2020 zugestellt wurde (Bl. 297 f. GA). Da die Verfügungsklägerin die Verzögerung aufgrund der ersten nicht korrekten Zustellung nicht zu vertreten hat, ist die Zustellung auch demnächst und damit rechtzeitig innerhalb der Vollziehungsfrist erfolgt. - Sofern die Verfügungsbeklagte einwendet, die Klägerin habe nicht alles Erforderliche getan, um eine Verzögerung der Zustellung zu verhindern, kann die Kammer dem nicht beitreten.
- Die Verfügungsklägerin hat innerhalb der Vollziehungsfrist zwei Zustellungen beantragt. Die zweite Zustellung ist auch zulässig gewesen, da der § 183 Abs. 2 S. 2 ZPO eine (zusätzliche) Zustellung nicht verbietet. So „soll“ durch Einschreiben mit Rückschein zugestellt werden. Die Wendung „anderenfalls“ beschreibt kein zwingendes Exklusivitätsverhältnis. Insofern hatte die Verfügungsklägerin bereits alles innerhalb der Monatsfrist auf den Weg gebracht. Die von den Verfügungsbeklagten angeführte Entscheidung des Bundesgerichtshofes (NJW-RR 2004, 1575) behandelt keine Auslandszustellung.
- Bei einer Zustellung in den asiatischen Raum sind Zustellungszeiten von bis zu vier bis sechs Monaten durchaus üblich. Hier kommt erschwerend hinzu, dass im Zustellungszeitraum (Ende April 2020 bis Oktober 2020) bereits die Corona-Pandemie ausgebrochen war und aufgrund weltweit unterschiedlicher Lockdown-Regelungen bereits deswegen nicht der übliche Maßstab anzulegen ist.
- Innerhalb dieser Zeitspanne bestand keine Nachfrageobliegenheit, zumal die Verfügungsklägerin keinerlei Anhaltspunkte für eine nicht ordnungsgemäß erfolgte Zustellung und/oder eine Verzögerung hatte. Abgesehen davon hat die Verfügungsklägerin in der mündlichen Verhandlung vorgetragen, dass sie sich zwischenzeitlich erkundigt hätte und ihr von der Rechtspflegerin mitgeteilt worden sei, dass sich einmal die Unterlagen beim Vorsitzenden und ein anderes Mal bei der Übersetzung befunden hätten. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass die Verfügungsklägerin vorwerfbare Unkenntnis davon hatte, dass am 17. August 2020 der nicht ordnungsgemäß ausgefüllte Rückschein bei Gericht eingegangen war und am 19. August 2020 sich in der Wachtmeisterei kein Ausgang des Ersuchens feststellen ließ. Denn die Anwaltsbestellung der Prozessbevollmächtigten der Verfügungsbeklagten vom 19. August 2020 überschnitt sich zeitlich mit dem Rücklauf des Rückscheins. Das Gericht leitete am 19. August 2020 den Bestellungsschriftsatz der Verfügungsklägerin weiter. Angesichts dessen Inhalts hatte die Verfügungsklägerin zu diesem Zeitpunkt keinen Anlass an der Wirksamkeit der ersten Zustellung zu zweifeln. Auch wenn die Verfügungsbeklagte in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, in dem Schriftsatz habe sie sich lediglich auf den Beschluss der Kammer vom 8. Mai 2020 bezogen, welcher der Verfügungsbeklagten am 21. Juli 2020 zugegangen sei, folgt daraus keine fahrlässige Unkenntnis der Verfügungsklägerin. Denn die Prozessbevollmächtigten der Verfügungsbeklagten haben gerade nicht vorgetragen, dass sie sich bestellen und vorsorglich einen Widerspruch ankündigen, sobald die Zustellung der einstweiligen Verfügung erfolgt ist. Vielmehr findet sich dort lediglich der Satz:
- „Die Antragsgegnerin wird sich im Wege eines noch gesondert einzulegenden Widerspruchs gegen die einstweilige Verfügung verteidigen.“
- Hieraus zu schließen, dass der Verfügungsbeklagten ausschließlich der Beschluss vom 8. Mai 2020 zugegangen sei, der zudem außer der Parteibezeichnung keinerlei Rückschluss auf die Verfahrensart oder dem beiliegenden Schriftstück zuließ, und gerade nicht die Beschlussverfügung vom 20. April 2020, ist der Verfügungsklägerin nicht im Sinne fahrlässigen Verhaltens vorzuwerfen.
- Der Vortrag der Verfügungsbeklagten, sie habe die einstweilige Verfügung nie selbst erhalten, findet sich vielmehr erstmals im Schriftsatz vom 17. Dezember 2020, nicht jedoch in der 134-seitenstarken Widerspruchsbegründung vom 1. Oktober 2020. Die Verfügungsbeklagte erklärte viel später im Rahmen der mündlichen Verhandlung, dass die einstweilige Verfügung über Weiterleitungen innerhalb des Konzerns den General Counsel der Muttergesellschaft erreicht habe, der sich wiederum an die Prozessbevollmächtigen gewandt habe. All dies war nicht Inhalt ihres Bestellungsschriftsatzes. Die Verfügungsklägerin konnte zum Zeitpunkt August 2020 berechtigterweise davon ausgehen, dass die Verfügungsbeklagten die Beschlussverfügung bereits erhalten hatte.
- Sofern die Verfügungsbeklagte meint, jedenfalls scheitere eine wirksame Vollziehung daran, dass nach Anzeige der anwaltlichen Vertretung der Verfügungsbeklagten und dem unwirksamen ersten Zustellungsversuch keine erneute Zustellung an die Prozessbevollmächtigten der Verfügungsbeklagten im Inland erfolgt sei, kann die Kammer dem nicht beitreten. Wie ausgeführt rügte die Verfügungsbeklagte die angeblich unzulässige Vollziehung erstmals in ihrem Schriftsatz vom 17. Dezember 2020. Zwischenzeitlich war die zweite Zustellung jedoch bereits am 29. September 2020 wirksam erfolgt.
- Das Zustellungszeugnis des um Zustellung ersuchten High Court O weist die erfolgreiche Zustellung am 29. September 2020 an die Verfügungsbeklagte nach und ist eine öffentliche Urkunde (§§ 183 Abs. 5, 418 Abs. 1 ZPO). Das Zeugnis erbringt folglich vollen Beweis des dort geschilderten Zugangs. Diese Beweiskraft vermochte die Verfügungsbeklagte nicht anderweitig zu erschüttern. So haben ihre Prozessbevollmächtigten ihren Vortrag, die Verfügungsbeklagte selbst habe keine einstweilige Verfügung erhalten und auch aus dem zweiten Zustellungsversuch sei den Prozessbevollmächtigten die einstweilige Verfügung nie zugegangen, weder glaubhaft gemacht noch plausibel dargelegt. Eine eidesstattliche Versicherung von der im Zeugnis des High Courts genannten Mitarbeiterin, welche die Zustellung entgegen genommen hat, findet sich ebenso wenig wie anderweitiger plausibler Vortrag, warum auch die zweite Zustellung fehlgeschlagen sein soll. Vor diesem Hintergrund bestand für die Verfügungsklägerin keine Verpflichtung einer erneuten Zustellung.
-
II.
Das Verfügungspatent betrifft modifizierte Nucleotide mit einer entfernbaren Schutzgruppe, deren Verwendung in Polynucleotid-Sequenzierungsverfahren und ein Verfahren für die chemische Entschützung der Schutzgruppe. - Im Stand der Technik waren bereits Technologien für die Charakterisierung von Molekülen oder ihren biologischen Reaktionen bekannt, wie beispielsweise die Entwicklung künstlich hergestellter Arrays mit immobilisierten Nukleinsäuren, die in einer hochdichten Matrix vorliegen (vgl. Absatz [0003] des Verfügungspatents; nachfolgend sind Absätze ohne Quellenangaben solche des Verfügungspatents), wie sie bei Fodor et al. Tends Biotech. 12:19-26, 1994. offenbart sind. Künstliche Arrays können – so das Verfügungspatent – auch durch die Technik „Spotting“ hergestellt werden, bei der bekannte Polynucleotide an vorherbestimmten Positionen auf einen Träger aufgebracht werden (z.B. Stimpson et al. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 92:6379-6383, 1995).
- Die Methode „sequencing by synthesis“ (SBS) erfordert laut dem Verfügungspatent idealerweise den kontrollierten, einzelnen Einbau des richtigen komplementären Nucleotidgegenstücks zu dem Oligonukleotid, das sequenziert wird. Dadurch wird eine korrekte Sequenzierung durch das Hinzufügen von Nucleotiden in Vielfachzyklen ermöglicht, da jeder Nucleotidrest jeweils einzeln sequenziert wird und eine unkontrollierte Einbaufolge verhindert wird (vgl. Absatz [0004]). Das Nucleotid wird markiert und dann gelesen, wobei vor dem nachfolgenden Zyklus die Markierung entfernt wird. Für die Sicherung des einzelnen Einbaus bedarf es einer Strukturmodifikation des Nucleotids durch eine sog. „blockierende Gruppe“, wobei diese unter Reaktionsbedingungen entfernbar sein muss, um die sich in Sequenzierung befindliche DNA nicht zu beeinträchtigen (vgl. Absatz [0004]). Das Verfügungspatent erläutert, dass der gesamte Prozess, um von praktischem Nutzen zu sein, in hochspezifischen chemischen und enzymatischen Prozessen mit hohem Ertrag bestehen sollte, um so eine hohe Anzahl von Sequenzzyklen zu ermöglichen.
- Das Verfügungspatent führt aus, dass im Stand der Technik üblicherweise eine 3´-OH-blockierende Gruppe verwendet wurde, damit die Polymerase, die für den Einbau in ein Polynucleotidkette verwendet wird, davon abgehalten wird, mit der Replizierung fortzufahren, sobald die Base dem Nucleotid hinzugefügt wurde. Diese Blockiergruppe muss für ihre Eignung mehrere Eigenschaften aufweisen: Sie muss komplett jeglichen sekundären oder weiteren Einbau blockieren können, leicht – also ohne Beschädigung der Polynucleotidkette – entfernbar sein und von der Polymerase oder einem anderen eingesetzten Enzym toleriert werden. Die leichte Entfernbarkeit bezeichnet das Verfügungspatent als Entschützung. Diese strengen Anforderungen stellen laut dem Verfügungspatent eine enorme Herausforderung an die Gestaltung und Synthese der jeweiligen modifizierten Nucleotide dar (vgl. Absatz [0005]).
- Reversible blockierende Gruppen waren im Stand der Technik bekannt, aber keine erfüllte alle genannten Anforderungen.
- Metzker et al. offenbarte die Synthese und Verwendung von acht 3´-modifzierten-DNTPs und testete sie in zwei DNA-Muster-Arrays auf ihre Einbauaktivität. Sie enthielten 3´-Allyl dATP. Das Verfügungspatent kritisiert, dass ein vollständiger Zyklus bestehend aus Terminierung, Entschützung und Wiederbeginn der DNA-Synthese von Metzker et. al nicht gezeigt wird, sondern nur die Ergebnisse in einem einzigen Terminierungs-Assay, wobei acht Assays mit unterschiedlichen Polymerasen getestet wurden (vgl. Absatz [0007]).
- Die Entgegenhaltung WO 02/XXX (Anlage NiK 11 zur Anlage B 2 (Ju); nachfolgend NiK 11) beschreibt ein Sequenzierungsverfahren, das die Verwendung von Allyl-Schutzgruppen umfassen kann, um die 3´-OH Gruppe auf einem wachsenden DNA-Strang zu deckeln (sog. Capping). Die Allyl-Gruppe wird gemäß dem Metzker-Prozess (infra) eingeführt und es wird angegeben, dass sie unter Verwendung der von Kamal et. al. berichteten Methodologie entfernt wird (vgl. Absatz [0008]). Die Entschützungsmethode von Kamal verwendet Natriumiodid und Chloro-Trimethylsiland, um in situ Iodotri-Methysilan in Acetonitril-Lösungsmittel zu generieren, wobei mit Natrium-Thiosulfat gelöscht wird. Nach Extraktion zu Ehylacetat und Trocknung und darauf folgender Konzentration unter Unterdruck und Säulenchromotographie wurden freie Alkohole mit einem Ertrag von 90-98% erhalten. Ju schlägt die Anwendung der Kamal-Allylentschützung unmittelbar und ohne Modifizierung in der DNA-Sequenzierung vor, wobei die Kamal-Bedingungen mild und spezifisch sind (vgl. Absätze [0009], [0010]).
- Das Verfügungspatent kritisiert, dass weder Metzker noch Ju tatsächlich die Entschützung der 3´-allylierten-Hydroxylgruppen im Zusammenhang mit einem Sequenzierungsprotokoll lehren. Die Verwendung einer Allylgruppe als Hydroxyl-Schutzgrppe war zwar im Stand der Technik bekannt, aber es gab keine konkrete Ausführung einer erfolgreichen Spaltung einer 3´-Allyl-Gruppe unter DNA-kompatiblen Bedingungen, bei denen die Integrität der DNA nicht vollumfänglich oder teilweise zerstört wurde. Das Verfügungspatent führt hierzu aus, dass es nicht möglich war, DNA-Sequenzierung unter Verwendung von 3´OH Allyl-blockierten Nucleotiden durchzuführen (vgl. Absatz [0011]). Laut dem Verfügungspatent war hierzu auch die Kamal-Methode nicht geeignet, da das TMS-Chlorid hydrolysiert und so die in situ Generierung von TMS-Iodid verhindert (vgl. Absatz [0012]).
- Das Verfügungspatent weist ohne explizite Formulierung einer Aufgabe darauf hin, dass die Erfindung auf einer überraschenden Entwicklung einer Reihe von reversiblen blockierenden Gruppen und Verfahren beruht, die unter DNA-Bedingungen entschützt werden können. Die Erfindung zeichnet sich durch die breite Anwendbarkeit in der Entschützung buchstäblich jeglicher allylgeschützter Funktionalität aus und lasse sich – im Gegensatz zu der Kamal-Methode – auch in wässriger Lösung durchführen. Weiter bestünde die Erfindung aus der Entwicklung einer neuen Klasse von Schutzgruppen, basierend auf Azetalen und verwandten Schutzgruppen, ohne die Nachteile der Azetal-Entschützung aufzuweisen. Deren Entschützung erfolgte nur unter stark säurehaltigen Bedingungen, die den DNA-Molekülen schadeten. Die Hydrolyse des Acetals führt nach dem Verfügungspatent allerdings zur Bildung eines instabilen hemi-acetalischen Zwischenprodukts, das unter wässrigen Bedingungen zur natürlichen Hydroxyl-Gruppe (OH) hydrolysiert. Dieses Konzept macht sich die Erfindung zur Nutze (vgl. Absatz [0017]).
- Entsprechend sieht das Verfügungspatent ein modifziertes Nucloetidmolekül mit folgenden Merkmalen gemäß Anspruch 1 vor:
- 1 Modifiziertes Nucleotidmolekül, umfassend
- 1.1 eine Purin- oder Pyrimidinbase und
- 1.2 eine Ribose- oder Desoxyribose-Zuckereinheit
- 1.3 mit einer kovalent daran gebundenen, entfernbaren, 3’-OH-blockierenden Gruppe,
- 1.3.1 so dass an dem 3’-Kohlenstoffatom eine Gruppe der Struktur -O-Z gebunden ist,
- 1.3.2 wobei es sich bei Z um eines von
-C(R’)2-N(R“)2,
-C(R’)2-N(H)R“, und
-C(R’)2-N3 handelt, - 1.3.3 wobei es sich bei jedem R“ um eine entfernbare Schutzgruppe oder einen Teil davon handelt;
- 1.3.4a es sich bei jedem R’ unabhängig um ein Wasserstoffatom, eine Alkyl-, substituierte Alkyl-, Arylalkyl-, Alkenyl-, Alkinyl-, Aryl-, Heteroaryl-, heterozyklische, Acyl-, Cyano-, Alkoxy-, Aryloxy-, Heteroaryloxy- oder Amido-Gruppe oder eine durch eine verknüpfende Gruppe gebundene nachweisbare Markierung handelt; oder
- 1.3.4b (R’)2 eine Alkylidengruppe der Formel =C(R’“)2 darstellt, wobei jeder R’“ gleich oder unterschiedlich sein kann und aus der Gruppe ausgewählt ist, umfassend Wasserstoff- und Halogenatome und Alkylgruppen; und
- 1.3.5 wobei das Molekül umgesetzt werden kann, um ein Zwischenprodukt zu ergeben, bei welchem jeder R“ gegen H ausgetauscht ist,
- 1.3.5.1 wobei dieses Zwischenprodukt unter wässrigen Bedingungen dissoziiert, um ein Molekül mit einem freien 3’-OH zu hervorzubringen.
- Der Unteranspruch 4 lässt sich wie folgt gliedern:
- 1.
Molekül gemäß einem der Ansprüche 1 bis 3. - 2.
Bei Z handelt es sich um eine Azidomethylgruppe. -
III.
Die Verfügungsbeklagte hat die angegriffene Ausführungsform vertrieben und damit das Verfügungspatent verletzt, so dass der Verfügungsklägerin ein Unterlassungsanspruch zusteht (Art. 64 EPÜ i. V. m. § 139 Abs. 1 PatG). -
1.
Die Parteien streiten um die Anforderungen des Verfügungspatents an die entfernbare Schutzgruppe und deren Entschützung (Merkmale 1.3.3, 1.3.5, 1.3.5.1 des Anspruchs 1, Merkmal 2 des Unteranspruchs 4). Alle anderen Merkmale des Anspruchs 1 und Unteranspruchs 4 sind zu Recht zwischen den Parteien unstreitig, so dass es weiterer Ausführungen hierzu nicht bedarf. - a)
Kern der Erfindung ist die Modifizierung des anspruchsgemäßen Nucleotidmolekül durch die 3´-OH-blockierende Gruppe gemäß Merkmal 1.3 des Anspruchs 1, die durch eine entfernbare Schutzgruppe besonders charakterisiert ist (Merkmal 1.3.3). - Hiernach handelt es sich um eine an die Zuckereinheit (Merkmal 1.2) gebundene, entfernbare und 3´OH-blockierende Gruppe. Diese Gruppe weist die Struktur -O-Z- auf. Die beanspruchte Gruppe der Struktur -O-Z- gewährleistet allgemein, dass z.B. bei Sequenzierungsreaktionen in einem Synthesezyklus die Polymerase davon abgehalten wird, mehr als ein einzelnes Nucleotid in die Polynucleotidkette einzubauen, in dem sie die 3´er OH-Gruppe blockiert (vgl. Absätze [0026], [0049]).
- Das Merkmal 1.3.2 zeigt drei verschiedene Fälle der Struktur Z auf. Die verschiedenen Strukturen haben eines gemeinsam, nämlich eine entfernbare Schutzgruppe oder Teile einer entfernbaren Schutzgruppe R´´ (Merkmal 1.3.3). Dabei kann die entfernbare Schutzgruppe oder Teile davon auch aus Stickstoffatomen bestehen, wie es der Wortlaut des Merkmals 1.3.2 in Fall 3 explizit zeigt, nämlich wenn Z die Struktur C(R´)2-N3 aufweist. Hier wird der Teil der Schutzgruppe R´´ durch den Teil der Schutzgruppe N3 ersetzt. Entgegen der Ansicht der Verfügungsbeklagten stellt auch eine solche Ausgangsstruktur eine anspruchsgemäße Molekülstruktur dar. Eine Beschränkung auf die Schutzgruppe R´´ wird der Fachmann dem Anspruch an dieser Stelle gerade nicht entnehmen. Die alternativen Merkmale 1.3.4a und 1.3.4b charakterisieren weiter, welche Stoffgruppen R´ bzw. R´2 darstellen können. So kann es sich bei R´ ausweislich des Merkmals 1.3.4a auch um ein Wasserstoffatom H handeln (vgl. auch Absatz [0056]), so dass die Struktur Z des Falls 3 sodann lautet: -CH2-N3. Genau dieser Fall ist nochmals bevorzugt in Unteranspruch 4 hervorgehoben, laut dem es sich bei Z um eine Azidomethylgruppe handelt. Gleiches ergibt sich aus Absatz [0058], wo es heißt:
- „Ein Beispiel von Gruppen mit der Struktur -O-Z wobei Z -C(R´)2-N(R´´)2 ist, sind diejenigen Gruppen, bei denen – N(R´´)2 Azido (-N3) ist. Ein bevorzugtes derartiges Beispiel ist Azido-Methyl, wobei jeder R´ H ist. […]“
- Absatz [0058] stellt klar, dass die Azidomethylgruppe unter C(R´)2-N(R´´)2 zu subsumieren ist (vgl. BPatG, Anlage rop 23, S. 3). Die Schutzgruppe – im zuvor genannten Fall also die Azidomethylgruppe – zeichnet sich dadurch aus, dass sie die blockierende Gruppe mit der Struktur -O-Z- zunächst stabilisiert, aber zu einem späteren Zeitpunkt – nach Einbau des Nucleotidmoleküls in das Polynucleotid – entfernt werden kann, ohne die Polynucleotidkette zu beschädigen (vgl. Absatz [0017]).
- Nach der Entschützung ist die blockierende Gruppe nicht mehr an das 3´er Ende der Zuckereinheit gebunden und es ist nunmehr möglich, ein anderes Nucleotid in die freie 3´-OH-Gruppe einzubauen (vgl. Absatz [0028]). Die schonende Entfernung wird durch die Eigenschaft der Stoffgruppe bedingt, normalerweise unter wässrigen Bedingungen zu hydrolysieren (vgl. Absatz [0017]). Dies ergibt sich zum einen aus den funktionalen Merkmalen 1.3.5 und 1.3.5.1 des Verfügungspatentanspruchs 1. Danach kann durch das Umsetzen des Nucleotids ein Zwischenprodukt entstehen, das unter wässrigen Bedingungen dissoziiert, um ein Molekül mit einem freien 3´-OH hervorzubringen. Zum anderen entnimmt der Fachmann der Beschreibung des Verfügungspatents in Absatz [0057], dass die produzierten Intermediate unter wässrigen Bedingungen vorteilhafterweise zurück zu ihrer natürlichen 3´Hydroxy-Struktur (OH-Gruppe am 3´er Ende der Riboseinheit) dissoziieren, die den weiteren Einbau eines anderen Nucleotids ermöglichen. Das anspruchsgemäße Umsetzen des Moleküls (Merkmal 1.3.5) wird anhand der Azidomethylgruppe konkret in Absatz [0060] beschrieben. Danach wird die Azido-Gruppe in eine Amino-Gruppe umgewandelt, indem solche Moleküle mit Phosphinen oder Stickstoff enthaltenden Phosphinen oder mit Thiolen, insbesondere wasserlöslichen Thiolen wie Dithiothreitol (DTT), in Kontakt gebracht werden. Hierbei wird die Azido-Funktion N3 in eine primäre Amino-Funktion –NH2 überführt. Dies entspricht der anspruchsgemäßen Charakterisierung des Zwischenprodukts, bei welchem jeder R´´ gegen H ausgetauscht wird. Wie gesehen liegt im Falle der Azidomethylgruppe anstatt R´´ N3 vor. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass nicht R´´ ausgetauscht wird, sondern N3. Denn der Fachmann erkennt, dass in der anspruchsgemäßen Fallvariante 3 die Azidogruppe R´´ ersetzt und funktional den gleichen technischen Erfolg bewirkt, weil es sich ebenfalls um eine entfernbare Schutzgruppe handelt. In der hier geltend gemachten Kombination von Anspruch 1 und Unteranspruch 4 werden die Merkmale 1.3.3 und die Merkmalsgruppe 1.3.4 ersetzt, weil sie sich mit der näheren Ausgestaltung der Struktur Z befassen, die durch Unteranspruch 4 nunmehr auf die Azidomethylgruppe eingeschränkt ist. Der Fachmann wird an dieser Stelle eine Auslegung wählen, die eine Konsistenz zwischen Beschreibung und Anspruch herstellt und im Einklang mit der technischen Funktion liegt. Sofern das Merkmal 1.3.5 das Zwischenprodukt dadurch charakterisiert, dass R´´ ausgetauscht wird, wird der Fachmann nicht an dieser Formulierung haften, zumal R´´ nur ein Oberbegriff für eine Schutzgruppe oder eines Teils davon ist (Merkmal 1.3.3). Im Zusammenhang mit Unteranspruch 4 erkennt er, dass der Teil der Schutzgruppe nunmehr N3 darstellt, bei dem es sich um eine Aminofunktion – ein Hemiaminal – handelt, das instabil ist und im wässrigen Milieu spontan unter Erhalt des entschützten Nucleotids mit einer freien 3´er OH-Gruppe zerfällt (vgl. Anlage rop 14 (Nichtigkeitsklage, Rn. 82)). Bei der Schutzgruppe handelt es sich um eine sog. maskierte Hemiaminal-Funktion. Solche Gruppen werden in der organischen Synthesereaktion für die vorübergehende Maskierung der charakteristischen Chemie einer Funktionsgruppe verwendet, da diese mit einer anderen Reaktion interferiert (vgl. Absatz [0017]). Um eine vorzeitige Entschützung zu verhindern, ist die Aminogruppe mittels der Azido-Funktion „maskiert“. Gleichzeitig birgt die Verwendung der Azidomethylgruppe den Vorteil, dass die leichte Abspaltbarkeit der Schutzgruppe nicht zu einer Denaturierung der DNA führt, die einen Abbruch des Syntheszyklus zur Folge hätte.
-
b)
Nach diesen Grundsätzen handelt es sich bei der angegriffenen Ausführungsform um modifizierte Nucleotidmoleküle gemäß Anspruch 1, weil sie am dritten C-Atom des Zuckers eine Azidomethylgruppe als Blockiergruppe aufweisen. Dies hat die Verfügungsklägerin dargelegt und durch Vorlage der eidesstattlichen Versicherung der Frau Dothage vom 3. April 2020 (Anlage rop 6, 6a) glaubhaft gemacht. Danach verfügt die angegriffene Ausführungsform – welche Bestandteil des dNTPs Mix und des M ist – über die anspruchsgemäße 3´-O-Azidomethylgruppe. Dem ist die Verfügungsbeklagte auch nicht mehr anderweitig entgegengetreten. Die Verfügungsklägerin hat ferner dargelegt, dass die Kits der Sequenzierungsset-Variante „H“ ebenfalls den „M“ (vgl. Anlage rop 19) und somit auch die angegriffene Ausführungsform enthalten. Letzteres hat die Verfügungsbeklagte als solches nicht bestritten. -
3.
Gemäß Art. 64 EPÜ i. V. m. § 139 Abs. 1 PatG ist die Verfügungsbeklagte der Verfügungsklägerin aufgrund der Verletzung des Verfügungspatents zur Unterlassung verpflichtet. - Durch das Angebot und den Vertrieb der angegriffenen Ausführungsform besteht eine Wiederholungsgefahr für diese Verletzungshandlungen. Sofern die Verfügungsbeklagte bestreitet, dass die angegriffene Ausführungsform in der Setvariante „H“ bislang durch die Verfügungsbeklagte in den Verkehr gebracht worden ist, ist dies unerheblich, da die angegriffene Ausführungsform als solche bereits geliefert wurde. Ob die angegriffene Ausführungsform in der Setvariante „H“ zusätzlich noch über eine nachweisbare Markierung verfügt, ist im Hinblick auf die streitgegenständliche Anspruchskombination der Ansprüche 1 und 4 des Verfügungspatents irrelevant. Darüber hinaus schaffen jedenfalls Angebotshandlungen auch eine (Erst-)Begehungsgefahr für das Inverkehrbringen, Gebrauchen, Besitzen und Einführen (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 6. April 2017, I-2 U 51/16). Insofern ist der Beschlusstenor auch für die anderen Verletzungshandlungen aufrechtzuerhalten.
- IV.
- Die Verfügungsklägerin hat ebenfalls einen Verfügungsgrund hinreichend dargelegt und glaubhaft gemacht. So ist der Rechtsbestand hinreichend gesichert und auch das Ergebnis der weiteren Interessenabwägung führt dazu, dass die Verfügung zeitlich dringlich sowie notwendig ist, da der Verfügungsklägerin ein Verweis auf ein Hauptsacheverfahren nicht zumutbar erscheint.
- 1.
Grundsätzlich ist ein Patent nur dann für ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes tauglich und der Rechtsbestand hinreichend gesichert, wenn es bereits ein kontradiktorisches erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat (vgl. OLG Düsseldorf, GRUR 2020, 272 – Hydroxysubstituierte Azetidinone; GRUR-RS 2010, 15862 – Harnkatheterset). Liegt eine solche Entscheidung vor, hat das Verletzungsgericht die von der zuständigen Fachinstanz nach technisch sachkundiger Prüfung getroffene Beurteilung hinzunehmen (vgl. OLG Düsseldorf, BeckRS 2017, 125974). Etwas anderes gilt dann, wenn das Verletzungsgericht die Argumentation der Einspruchsinstanz für evident unrichtig und daher nicht vertretbar hält (vgl. OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2008, 329 – Olanzapin) oder ein neues Rechtsbestandsverfahren eingeleitet wurde, das auf neue erfolgversprechende Gesichtspunkte – namentlich einen neu aufgefundenen Stand der Technik – gestützt wird (vgl. OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2011, 81 – Gleitsattelscheibenbremse II). In diesem Zusammenhang kann das Verletzungsgericht den Verfügungsantrag aber auch dann nicht allein deshalb zurückweisen, weil es seine eigene Bewertung des technischen Sachverhaltes an die Stelle der ebenso gut vertretbaren Beurteilung durch die zuständige Einspruchs- oder Nichtigkeitsinstanz setzt (vgl. OLG Düsseldorf, BeckRS 2017, 125974). Die Düsseldorfer Rechtsprechung legt einen sehr strengen Maßstab an, da sich hiernach ein solches Vorgehen ganz besonders dann verbietet, wenn es sich um eine technisch komplexe Materie (z.B. aus dem Bereich der Chemie) handelt, in Bezug auf die die Einsichten und Beurteilungsmöglichkeiten des technisch nicht vorgebildeten Verletzungsgerichts von vorneherein limitiert sind (vgl. OLG Düsseldorf, BeckRS 2017, 125974). - Das Verfügungspatent hat bereits ein Einspruchsverfahren überstanden und ist aufrechterhalten worden. Im vorliegenden Fall hat das Bundespatentgericht mittlerweile einen qualifizierten Hinweis vom 19. Januar 2021 (BPatG Anlage rop 23) erlassen, nach dem Einiges dafür sprechen soll, dass den beanspruchten Stoffkollektiven eine erfinderische Tätigkeit zugrunde liegt (vgl.BPatG Anlage rop 23, S. 4). Damit kommt nunmehr die zweite mit dem Rechtsbestand befasste Fachinstanz zu dem vorläufigen Schluss, dass das Klagepatent rechtsbeständig ist. In diesem Fall handelt es sich somit nicht nur um ein wichtiges Indiz für den hinreichenden Rechtsbestand (vgl. Kühnen, Hdb., 13. Aufl., Kap. G, Rn. 66), sondern um eine weitere Bestätigung der ersten Beurteilung der Einspruchsabteilung. Der qualifizierte Hinweis stützt das Ergebnis der Einspruchsabteilung und lässt die Entscheidung gerade nicht als unvertretbar erscheinen (vgl. OLG Düsseldorf, Beck RS 2011, 26945). Insofern ist es der Kammer umso mehr verwehrt, ihre Beurteilung an die Stelle der Rechtsbestandsinstanzen zu setzen. Solange die Argumentation des Bundespatentgerichts nicht zu einer Unvertretbarkeit der Bestandsentscheidung führt – wofür nichts ersichtlich ist – ändert dies nichts an dem für den Verfügungsgrund ausreichend gesicherten Rechtsbestand.
-
a)
Die in Anspruch 1 genannte Schutzgruppe (R´´) stellt maskierte Hemiaminale dar, wobei die Azidomethylgruppe (R´= H) in Fall 3 und Unteranspruch 4 die bevorzugte Schutzgruppe ist. Sie bildet mit dem 3´er Sauerstoffatom -O-CH2-N3 (-O-CH2-N=N=N) einen Azidomethylether. Freie Hemiaminale mit dieser Struktur zerfallen im wässrigen Milieu nach dem gleichen Mechanismus wie Halbacetale unter Entschützung der OH-Funktion des Nucleotids. Als Nebenprodukte entstehen Ammoniak (NH3) und Formaldehyd (CH2O). Das Hemiaminal ist daher das Zwischenprodukt (Merkmal 1.3.5), das dissoziiert mit der Folge, dass die OH-Gruppe am 3´er Ende wieder freigesetzt wird, wie Merkmal 1.3.5.1 es verlangt. Die Entschützungsreaktion erfolgt verfügungspatentgemäß unter milden Bedingungen und die DNA denaturiert nicht. - b)
Das Verfügungspatent stellt bereits im allgemeinen Teil darauf ab, dass die vorteilhafte, weil schonende Entschützungsreaktion – wie sie mit der Azidomethylgruppe möglich ist –, für die SBS-Verfahren ideal sind, weil sie die Sequenzierungszyklen nicht unterbrechen. Auch wenn das Verfügungspatent in Absatz [0085] anspricht, dass die Nucleotide sich auch im Sanger-Verfahren anwenden lassen, liegt der Fokus des Verfügungspatents im Einsatz von SBS-Sequenzierungsverfahren und der dort angestrebten einfachen und schonenden Entschützungsreaktion. - Der Umstand, dass die anspruchsgemäßen Nucleotide auch für andere Verfahren Verwendung finden, erscheint als vorgelagertes Argument für die fehlende Erfindungshöhe nicht durchgreifend. Es ist nicht ersichtlich, warum sich der Fachmann, wenn die Vermeidung der Denaturierung der DNA nicht sein Ziel ist, überhaupt Schutzgruppen mit diesem Vorteil zuwenden oder nach ihnen suchen sollte. So stellt das Verfügungspatent die Bereitstellung der anspruchsgemäßen Nucleotide gerade in den Rahmen hinsichtlich ihrer Eignung bei der DNA-Sequenzierung und -synthese (vgl. BPatG, Anlage rop 23, S. 4).
- Nicht ausreichend erscheint, dass der Fachmann generell anstrebt, bei der Reversibilität das Molekül nicht zu schädigen. Die Verfügungsklägerin wendet zu Recht ein, dass dann eine viel größere Anzahl an Blockiergruppen im Stand der Technik in Frage gekommen wäre und daher das Auffinden der Azidomethylgruppe resp. einer Gruppe, die nach ihrer Entfernung ein Zwischenprodukt ergibt, das unter wässrigen Bedingungen dissoziiert, noch ferner liegen würde. Sofern die Verfügungsbeklagte meint, dass der Anspruch weiter formuliert ist, ist dies zwar richtig, aber die Entfernung der Schutzgruppe unter Entstehung eines Zwischenprodukts, das in wässrigen Bedingungen dissoziiert (Merkmale 1.3.3, 1.3.5, 1.3.5.1) ist gerade auch für die anderen Fälle von Z (Merkmal 1.3.2) beansprucht.
- Die Kammer vermag kein grundlegendes Missverständnis, wonach das Bundespatentgericht fälschlicherweise davon ausgegangen sei, dass die Entschützungsreaktion ausschließlich hydrolytisch ohne Mitwirkung eines Phosphins als Reduktionsmittel erfolge, anhand der Ausführungen im qualifizierten Hinweis zu erkennen. Der vorhergehende Satz lässt sich dem Hinweis an keiner Stelle entnehmen, sondern gibt lediglich ein bestimmtes Verständnis der Verfügungsbeklagten wieder.
- Zwar darf die Aufgabe keine Elemente der Lösung enthalten, so dass die im Hinweis gewählte Formulierung zu eng gefasst sein mag. Aufgabe der Erfindung ist das Bereitstellen von Nucleotiden mit einer Schutzgruppe, die unter DNA-kompatiblen Bedingungen entfernt werden kann, worunter das Bundespatentgericht zu Recht versteht, dass die DNA weder teilweise noch vollständig zerstört wird (vgl. Anlage BPatG, rop 23, S. 4). Die Lösung liegt in der Verwendung einer Schutzgruppe, die eine Entschützungsreaktion zeigt, bei welcher der Zerfall des Zwischenprodukts in wässrigem Milieu möglich ist. Denn hierbei handelt es sich um milde Bedingungen in einer nicht die DNA-schädigenden Weise. Dies ist bei anderen vorbekannten Etherschutzgruppen anders, da die Entschützungsreaktion hier stark säurehaltig verläuft (vgl. Absatz [0011], [0017]). Das Bundespatentgericht zieht den uneingeschränkt nachzuvollziehenden Schluss, dass der Fachmann zum Auffinden dieser Lösung sein Augenmerk auf zwei Kriterien richten wird: Die Akzeptanz durch das Enzym und eine milde Entschützung. Damit in Einklang steht die zusätzlich aufgezeigte, übliche Kenntnis des Fachmanns, bei Schutzgruppen günstig zu erwerbende und wenig toxische Reagenzien einzusetzen (vgl. BPatG, Anlage rop 23, S. 4).
- c)
Es ist nichts dafür ersichtlich, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung evident unrichtig resp. unvertretbar ist. - Die Entgegenhaltungen, auf die die Verfügungsbeklagte ihre Einwände gegen die Erfindungshöhe stützt, sind aus dem Rechtsbestandsverfahren bekannt. Ferner vermag die Kammer keine neuen, erfolgversprechenden Gesichtspunkte erkennen, die der Nichtigkeitsklage der Verfügungsbeklagten zwingend zum Erfolg verhelfen würden. Solche hat auch das Bundespatentgericht in seinem qualifizierten Hinweis nicht benannt.
- Die Kammer vermag der Ansicht der Verfügungsbeklagten, dass der Einsatz der Schutzgruppe Azidomethyl (Fall 3 des Merkmals 1.3.2; Unteranspruch 4), welche die in den Merkmalen 1.3.5 und 1.3.5.1 beschriebene Entschützungsreaktion aufweist, für SBS-Sequenzierungsverfahren im Stand der Technik für den Fachmann zwingend nahe gelegen hat, nicht beizutreten.
-
aa)
So ist nicht ersichtlich, dass der Durchschnittsfachmann ohne erfinderisches Zutun die erfindungsgemäße Lehre durch eine Kombination der Entgegenhaltungen NiK 11 (Ju) und NiK 17 bzw. NiK 11 und NiK 26 (Zavogordny) erhalten hätte. - aaa)
Die NiK 11 offenbart die Verwendung zwei konkreter Blockiergruppen, die Allylgruppen und die MOM-Gruppe (Anlage NiK 11, S. 6 Z. 14 ff.), die für die SBS-Verfahren geeignet sind, weil sie sich wieder entfernen lassen. Auch die NiK 11 spricht u.a. generell die Anforderung an, dass der sequenzierte DNA-Strang den Abspaltungsprozess überstehen soll (vgl. Anlage NiK 11, S. 42, Z. 16 ff.). - Die NiK 11 beschreibt die Verwendung von Ester-Blockiergruppen und anderen chemischen Gruppen mit Elektrophilen wie Keto-Gruppen ausdrücklich als ungeeignet, weil sie von den starken Nucleophilen in der Polymerase gespalten werden (Anlage NiK 11, S. 6, Z. 10 ff.). Dies führt zu einer verfrühten Entfernung der Blockierung. Die NiK 11 verweist für das Entschützungsverfahren der offenbarten Allyl- und MOM-Gruppe auf die Methode nach Kamal et al. (Anlage NiK 11, S. 54, Z. 18 ff.), wobei diese Methode die Verwendung organischer Lösungsmittel und damit nicht-wässrige Bedingungen einschließt. Ferner offenbart die NiK 11 einen sog. Hairpin-Primer, der mittels einer zusätzlichen Schleife mit dem DNA-Templat verbunden ist (Anlage NiK 11, S. 7, Z. 15 ff.) und wie eine zusätzliche Sicherung wirkt, um ein Auswaschen des neu gebildeten Stranges zu verhindern.
- Es erfolgt keine Offenbarung der Azidomethyl-Gruppe, die unter besonderen milden Bedingungen entfernt werden kann, nämlich in der in den Merkmalen 1.3.5 und 1.3.5.1 geschützten Weise.
- bbb)
Es ist bereits kein Anlass für den Fachmann ersichtlich, warum er die NiK 11 mit einer der anderen Schriften kombinieren sollte. - Schon die Einspruchsabteilung war der Auffassung, dass der Fachmann ausgehend von der NiK 11 nicht zu den in Anspruch 1 offenbarten Nucleotidmolekülen gelangt wäre (vgl. Anlage rop 12, S. 17). Diese sachverständige Berurteilung hält die Kammer für vertretbar. So lehrt die NiK 11 die Entfernung der Schutzgruppen in einem Medium, das ein organisches Lösungsmittel enthält, durch ein komplexes mehrstufiges Verfahren und schweigt über das weitere Vorgehen bei der Entfernung einer Blockiergruppe (vgl. Anlage rop 12, S.17). Die Einspruchsabteilung war ferner der Ansicht, dass die Lehre der NiK 11 den Fachmann von der Verwendung der erfindungsgemäßen Azidomethylgruppe abhält, weil die NiK 11 offenbart, dass chemische Gruppen wie Elektrophile nicht geeignet sind, die 3´-OH Gruppe des Nucleotids bei enzymatischen Reaktionen zu schützen (vgl. Anlage rop 12, S. 17). Die Azidomethylgruppe trägt eine positive Ladung und ist ein Elektrophil.
- Die Kammer sieht daher nicht, dass der Fachmann ausgehend von NiK 11 eine Veranlassung hatte, im Stand der Technik nach weiteren Stoffgruppen zu suchen, die maskierte Hemiaminale darstellen und sich in wässrigen Bedingungen abspalten lassen. Diese Ansicht teilt im Ergebnis auch das Bundespatentgericht (vgl. BPatG, Anlage rop 23, S. 5).
- (1)
Sofern die Verfügungsbeklagten anführen, der Fachmann verstehe die entsprechende Stelle in der NiK 11 so, dass ausschließlich die Keto-Gruppe und Estergruppe als ungeeignete Gruppen mit Elektrophilen genannt werden, kann sich die Kammer diesem Verständnis nicht anschließen, weil die Keto-Gruppe ausdrücklich nur als ein Beispiel („such as“) für chemische Gruppen mit Elektrophilen genannt wird. -
(2)
Die Verfügungsbeklagten führen weiter an, es seien nur solche chemischen Gruppen mit Elektrophilen ausgeschlossen, deren Elektrophile bei der Sequenzierung in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Nucleophilen im aktiven Zentrum der Polymerase liegen. Hingegen seien eventuelle Elektrophile einer Schutzgruppe, die weiter von dieser Position entfernt lägen, durch Nucleophile im aktiven Zentrum der Polymerase nicht betroffen. Dies begründen sie mit dem Verweis der NiK 11 auf Canard et al. (Anlage NiK 20), der sich mit den Ester-Gruppen beschäftigt hat, bei denen letzteres der Fall war. Hiergegen spricht allerdings, dass die NiK 11 im Anschluss auf den Hinweis auf Canard, der ausschließlich im Zusammenhang mit den Ester-Gruppen zitiert ist, sodann chemische Gruppen mit Elektrophilen generell ausschließt. - Sofern die Verfügungsbeklagten darauf abstellen, dass der NiK 11 kein Hinweis zu entnehmen sei, dass es sich bei der 3´-O-Azidomethylgruppe um eine mit einer 3´-O-Ketogruppe vergleichbare, zu vermeidende elektrophile Schutzgruppe handeln würde, führt dies nicht weiter, da die NiK 11 in der Tat die Azidomethylgruppe nicht offenbart. Die Verfügungsbeklagte meint, aus dem Dokument Canard et-al. (NiK 20) und dem allgemeinen Fachwissen ergebe sich ebenfalls kein Hinweis, dass die 3-O´-Azidomethylgruppe unter Entschützung gespalten werden könnte. Es ist nicht ersichtlich, wie diese Überlegungen weiterführen sollen. Es geht im Gegenteil darum, wieso sich der Fachmann trotz des Wegführens von Elektrophilen dennoch einem Elektrophil zuwendet.
- Ferner ist unklar, wie der Fachmann selbst bei dem Verständnis der Verfügungsbeklagten dazu käme, eine Azido-Schutzgruppe zu wählen.
- Die Überlegungen, dass bei der Azido-Gruppe das mittlere, positiv geladene (= elektrophile) Stickstoffatom zwei Bindungsabstände mehr aufweise als der Carbonyl-Kohlenstoff im Ester (vgl. Anlage rop 14, S. 63 ff.) und sich insbesondere unter Berücksichtigung der dreidimensionalen Struktur der Moleküle daher nicht in unmittelbarer Nähe zum Nucleophil der Polymerase befinde, erklären nicht, warum der Fachmann in seinen Überlegungen gleichsam ohne Weiteres auf die Azidomethylgruppe stößt. Abgesehen davon, dass es zweifelhaft ist, ob diese weitergehenden Überlegungen für sich genommen nicht eher einen Anhaltspunkt für die erfinderische Tätigkeit sind, weil sie kein routinemäßiges Handeln darstellen bzw. zum allgemeinen Fachwissen zählen, hat die Verfügungsbeklagte selbst klargestellt, dass sich diese Frage erst in einem zweiten Schritt stellen kann, wenn der Fachmann schon auf die Azidomethylgruppe gestoßen ist.
- Denn auch nach Ansicht der Verfügungsbeklagten stellt der Fachmann bei der Lektüre der NiK 11 weitere Überlegungen an, die ihm die Verwendung von maskierten Hemiacetalen vor Augen führen sollen.
- In dem die NiK 11 offenbare,
- – dass die Schutzgruppe klein dimensioniert sein soll, wobei Methyl- und unverzweigte Allylgruppen sich anböten und
– dass es sich bei Allyl-Ether und MOM um Schutzgruppen handele, die unverzweigt seien und nicht mehr als vier Atome in der Kette aufweisen und
– dass eine ungewollte Entschützung vermieden und milde Bedingungen beim Entfernen vorliegen sollen, - erhalte der Fachmann allgemeine Kriterien für eine Auswahl an hierfür in Frage kommenden chemischen Gruppen. Nach diesen Gruppen muss er sich aber aktiv umsehen.
- Zudem liegt einem solchen Verständnis des Fachmanns eine rückschauende Betrachtung zugrunde, da es sich gerade bei der Dimensionierung der Schutzgruppe um selektive Kriterien handelt, bei denen nicht ersichtlich ist, wieso der Fachmann ausgerechnet sein Augenmerk hierauf legen sollte. So hat die Verfügungsklägerin andere Gemeinsamkeiten (mindestens zwei Kohlenstoffatome, drei Atome, die nicht Wasserstoff sind, ausschließlich Kohlenstoff-, Sauerstoff- und Wasserstoffatome) genannt, die auch seitens der NiK 11 offenbarte Kriterien darstellen könnten und bei der Suche nach Schutzgruppen nicht zu der Verwendung von Azidomethyl führen. Hinzu tritt, dass auch große Moleküle an der aktiven Seite der Polymerase Verwendung finden können, wenn sie an der richtigen Stelle der Polymerase zu liegen kommen. Auch nach dem Verständnis des Bundespatentgerichts dürfte es es sich hierbei um eine Vorauswahl handeln, die letztlich nur in Kenntnis der strukturellen Weiterentwicklung des Patents zu den erfindungsgemäßen Nucleotiden führt (vgl. BPatG, Anlage rop 23, S. 5 und 7).
-
ccc)
Die Verfügungsbeklagte meint, ausgehend von diesen Auswahlkriterien wäre der Fachmann mit Hilfe der NiK 17 auf die Azidomethyl-Gruppe gestoßen. - Selbst wenn man annimmt, dass der Fachmann für die Verbesserung der Blockierchemie dieses Standardwerk zu Rate gezogen hätte, spricht gegen ein Auffinden, dass unter dem Kapitel der Hydroxylgruppen (2. Kapitel; vgl. Anlagen NiK 17, 17a), mit dem sich der Fachmann zuvörderst beschäftigen würde, die Azidomethylgruppe oder eine andere unter den Anspruch fallende Blockiergruppe gerade nicht genannt ist. Sofern die Verfügungsbeklagten meinen, dass der Fachmann aufgrund des Hinweises in Kapitel 3, wonach viele der für den Schutz von Alkoholen entwickelten Blockiergruppen ebenfalls einsetzbar für den Schutz von Phenolen seien, herleitet, dass die Blockiergruppen für Phenole auch bei Alkoholen funktionieren könne, sieht die Kammer einen entsprechenden Hinweis in Kapitel 2 gerade nicht. Das Bundespatentgericht hat in diesem Zusammenhang auch auf die unterschiedlichen pKs-Werte abgestellt (vgl. BPatG, Anlage rop 23, S. 6). Sofern die Verfügungsbeklagte meint, es gebe gerade Überlappungen der Reaktivität, stellt sie lediglich ihre Ansicht an jene des Bundespatentgerichts. Dies lässt den Verfügungsgrund hingegen nicht entfallen. Gleiches gilt für die konformativen Freiheitsgerade der Azidomethylgruppe (vgl. BPatG, Anlage rop 23, S. 6).
-
ddd)
Ferner sieht die Kammer nicht, dass das anspruchsgemäße modifzierte Nucleotid aufgrund einer Kombination mit der NiK 26 für den Fachmann nahe gelegen hätte. - (1)
Die NiK 26 offenbart die Azidomethylgruppe und ihre Entfernbarkeit unter sehr spezifischen und milden Bedingungen (Anlage NiK 26, S. 7595). Die Entschützung erfolgt unter Verwendung von Triphenylphoshin in wässrigem Pyridin. - (2)
Die Kammer hat erhebliche Zweifel daran, dass der Fachmann diese Schrift heranziehen würde, da sie sich mit dem Einsatz der Azidomethylgruppe bei Nucleosiden (hier: Synthons) – also Molekülen, die zwar die Pentose und Base aufweisen, denen aber verglichen mit Nucleotiden der Phosphatrest am 5´er Ende fehlt – beschäftigt. - Bereits die Einspruchsabteilung hat insoweit ausgeführt, dass es keine Hinweise gibt, die den Fachmann dazu veranlasst hätten, die Lehre der NiK 26, die Nucleoside betrifft, anzuwenden und damit zum Gegenstand des Verfügungspatents zu gelangen (vgl. Anlage rop 12, S. 18).
- Dieser Auffassung erscheint jedenfalls vertretbar. Ausgehend von der NiK 11, die sich bereits mit Nucleotiden befasst, müsste der Fachmann gedanklich wieder auf die Molekülart Nucleoside zurückgehen, das Phosphat trennen und neu beginnen. Solche Überlegungen können aber gerade auch für die Erfindungshöhe streiten. Sofern die Verfügungsbeklagten anführen, der Fachmann wisse, dass die Einführung des Triphosphats üblicherweise als letzter Schritt im Syntheseweg erfolge, steht dem gegenüber, dass die NiK 26 sich nicht mit dem SBS-Verfahren beschäftigt, so dass diese Erwägung erforderliche Überlegungen des Fachmanns nicht automatisch obsolet werden lassen.
- Zu dem gleichen Ergebnis gelangt das Bundespatentgericht in seinem Hinweis. Da der Einbau der Phosphorgruppe nach der NiK 11 gerade nicht zwingend im Anschluss an die Einführung der Schutzgruppe vorzunehmen ist, stellt bereits dies eine nicht angeregte weitere Vorauswahl dar (BPatG, Anlage rop 23, S. 6 f.). Ferner ist auch nach Ansicht des Bundespatentgerichts nicht erkennbar, wie der Fachmann zur NiK 26 gelangen könnte, die sich mit Alkylthiolalkylgruppen als Schutzgruppe für die 3´-Hydroxyfunktion der Pentoseeinheit eines Nukleosids befasst und weder auf dem Gebiet der Nukleotide liegt noch deren Einbau in Nukleotidketten anspricht (BPatG, Anlage rop 23, S. 7).
- Die weiteren Ausführungen der Verfügungsbeklagten lassen die Kammer nicht zu einer anderen Ansicht gelangen. Vielmehr setzt die Verfügungsbeklagte wiederum nur ihre Rechtsansicht anstelle des Bundespatentgerichts.
- Auch die vorläufige Auffassung der Einspruchsabteilung in einem Parallelverfahren zu einem Patent der gleichen Patentfamilie spricht für die Erfindungshöhe. Danach zeige die NiK 26 zwar, das die Schutzgruppe auf milde Weise mit einem Phosphin entfernt werden könne, aber diese Entfernung sei offensichtlich im Kontext der Nucleosidchemie angemessen mild, wobei nicht offenbart sei, dass sie auch in dem chemisch komplexen enzymatischen System bei der DNA-Synthese angemessen ist. Auch wenn es sich nicht um eine Aussage zum Verfügungspatent handelt, äußert sich hier die Einspruchsabteilung allgemein dazu, dass milde Bedingungen bei Nucleosiden für den Fachmann nicht automatisch gleichzusetzen sind mit milden Bedingungen bei Nucleotiden.
- Sofern die Verfügungsbeklagte darauf abstellt, dass auch das Verfügungspatent eine Phosphinverbindung als Reduktionsmittel einsetze, wird indes kein Pyridin verwendet.
- Selbst wenn man mit den Verfügungsbeklagten im Ergebnis dazu käme, dass die Verwendung von Pyridin ebenso wie die erfindungsgemäße Lösung ausreichend milde Bedingungen schafft, bleibt es dabei, dass der Durchschnittsfachmann im Prioritätszeitpunkt mit seinen durchschnittlichen Kenntnissen und seiner durchschnittlichen Leistungsfähigkeit über keine belastbaren Erfahrungswerte verfügte. Die Verfügungsbeklagte hat zwei Parteigutachten vorgelegt, die belegen sollen, dass wässriges Pyridin geeignet ist, eine Entschützung vorzunehmen, ohne dass die DNA denaturiert (vgl. NiK 33, Gutachten Prof. Carrell vom 13. Oktober 2019) und dass der Fachmann seine Erfolgserwartung hinsichtlich der Eignung der Azidomethylgruppe durch einfache Routineexperimente bestätigt gesehen hätte (Anlage AG 17, Gutachten Prof. Carrell vom 7. September 2020). Der Umstand, dass Experimente im Hinblick auf das verwendete Pyridin nötig sind, um eine Denaturierung auszuschließen, spricht eher gegen ein Naheliegen der Verwendung der Azidomethylgruppe durch die NiK 26. So erscheint es gerade angesichts des eigenen Vorgehens der Verfügungsbeklagten so, dass erst zusätzliche Versuche den Fachmann in die Lage versetzen, zu beurteilen, ob der Einsatz von Pyridin, von dem der Fachmann weiß, dass es denaturierende Eigenschaften besitzt, ausreichend milde Entschützungsbedingungen zulässt. Abgesehen davon, dass die Auffassung der Verfügungsbeklagten, diese Versuche seien im Prioritätszeitpunkt als Routineexperimente anzusehen, rückschauend ist, spricht der Umstand der Durchführung von Experimenten eher für die Erfindungshöhe. Die Entscheidung Tadalafil vom BGH (GRUR 2020, 603) ist hier nicht einschlägig, da es dort um die für die Durchführung klinischer Studien erforderliche Erfolgserwartung ging. Dieser Fall ist von hiesiger Konstellation zu unterscheiden, in der Pyridin erst auf seine ausreichend entschützende Eigenschaft hin getestet werde musste. Schließlich hat die Verfügungsklägerin zahlreiche Einwände gegen die Parteigutachten erhoben, die die Verfügungsbeklagten zurückweisen und deren Klärung im Rechtsbestandsverfahren herbeizuführen sein wird. In hiesiger Prozesssituation spricht dies aber aktuell für das Vorliegen eines Verfügungsgrundes (s.o.).
- Sofern die Verfügungsbeklagte die NiK 15 noch zusätzlich zur Kombination der NiK 26 und NiK 11 heranziehen wollte, spräche dies ebenfalls für die Erfindungshöhe. So hätte der Fachmann ausgehend vom nicht geeigneten Pyridin wiederum zusätzliche Überlegungen anstellen müssen. Gleiches gilt für eine zusätzliche Kombination mit der NiK 16.
- eee)
Eine naheliegende Kombination der NiK 11 mit der NiK 27 scheidet gleichfalls aus, da sich die NiK 27 ebenfalls mit Nucleosidchemie beschäftigt. Dies wird vom Bundespatentgericht in seinem Hinweis bestätigt, wonach die NiK 27 nichts zu Nukleotiden und deren Einbau in Nukleotidketten beiträgt und zur Entschützung der Azidomethylgruppe schweigt (BPatG, Anlage rop 23, S. 7). -
bb)
Auch eine Kombination der NiK 10 mit den Entgegenhaltungen NiK 17/NiK 26 lässt die erfindungsgemäße Lehre nicht naheliegend erscheinen. - Die NiK 10 offenbart als Kandidaten für potentiell geeignete Blockiergruppen Ester-Blockiergruppen. Als Kriterien für die Verwendung der Gruppen benennt die NiK 10 die Eignung der Polymerase, die dNTPs effizient einbauen zu können, die Verfügbarkeit milder Bedingungen für schnelles und quantitatives Entfernen und die Fähigkeit der Polymerase, die Synthese wieder zu initiieren (Anlage NiK 10, S. 20, Z. 28 ff.). Als Entschützungsmethoden offenbart die Entgegenhaltung die Basenhydrolyse, selektive chemische Verfahren, photochemische Verfahren und enzymatische Verfahren. In den Beispielen werden die Blockiergruppen ab Verfahrensschritt 3 und erst im letzten Verfahrensschritt (11) eingeführt. Eine Einführung vor der Einführung der 5´Phosphatgruppe, also wenn letztlich ein Nucleotid vorliegt, offenbart die NiK 10 nicht. Es ist kein Anlass ersichtlich, warum der Fachmann über die Lehre der NiK 10 hinaus sich den anspruchsgemäßen Blockiergruppen zuwenden sollte. Im Hinblick auf die NiK 17/NiK 26 wird auf die obigen Ausführungen Bezug genommen.
- Ferner wird der Fachmann wegen der umfangreichen Darlegung verschiedenster Typen von Schutzgruppen nicht in die erfindungsgemäße Richtung gelenkt (vgl. BPatG, Anlage rop 23, S. 5). Gleiches gilt auch für die Entgegenhaltung NiK 12.
-
cc)
Mit dem Bundespatentgericht sieht die Kammer auch in dem Sanger Verfahren (NiK 7) keinen Ausgangspunkt für die spezielle Lösung des Verfügungspatents (vgl. BPatG, Anlage rop 23, S. 7). Dies stellt vielmehr eine rückschauende Betrachtung dar. -
dd)
Zusätzlich benannten Indizien wie der wirtschaftliche Erfolg der Erfindung sowie die Nachahmung durch den Wettbewerb sprechen ebenfalls eher gegen eine erfolgreiche Vernichtung des Verfügungspatents. - 2.
Auch die weitere Interessenabwägung fällt zugunsten der Verfügungsklägerin aus. - a)
Die Verfügungsklägerin hat die notwendige zeitliche Dringlichkeit dargelegt und glaubhaft gemacht. - aa)
Auch wenn für die zeitliche Dringlichkeit keine starre Frist, sondern vielmehr die Einzelfallumstände maßgeblich sind, ist im allgemeinen folgendes Verhalten des Patentinhabers zu verlangen: Er darf nicht ohne triftigen Grund mit dem Antrag zuwarten, sobald er die maßgeblichen Umstände der Patentverletzung und der ihm fortdauernd drohenden Nachteile kennt, wobei er bei der Aufklärung des Sachverhaltes einen sicheren Weg gehen darf, um alle Glaubhaftmachungsmittel zu beschaffen, ohne jedoch zögerlich zu handeln oder sinnlose Maßnahmen zu ergreifen (vgl. statt aller OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2013, 236 – Flurpirtin-Maleat). Dieses zügige, gewissenhafte Vorgehen setzt keine Marktbeobachtungspflicht voraus, berücksichtigt aber, dass, sobald der Patentinhaber von konkreten Umständen Kenntnis erlangt, die eine Verletzung seines Schutzrechts nahe legen, er die Sachlage weiter aufzuklären hat (vgl. BeckOK/PatR/Voß, Std:15.10.2020, Vor § 139 Rn. 286 m.w.N.). Dabei sind grundsätzliche alle Ressourcen auszuschöpfen, wobei unter anderem in die Beurteilung des vorprozessualen Handelns einfließen kann, ob die identische angegriffene Ausführungsform bereits im Ausland vertrieben wird und sie dem Antragsteller von dort her bereits bekannt ist (vgl. BeckOK/PatR/Voß, Std:15.10.2020, Vor § 139 Rn. 287). Letzteres ist insbesondere im Hinblick auf etwaige Untersuchungen der angegriffenen Ausführungform auf deren Anspruchsverwirklichung hin relevant. - bb)
Dies zugrunde gelegt, hat die Verfügungsklägerin sich nicht zögerlich verhalten, sondern sie hat alles Notwendige getan, nachdem sie Anhaltspunkte dafür hatte, dass der Konzern der Verfügungsbeklagten in Europa Vertriebstätigkeiten entfaltete. - aaa)
Zunächst entfällt wegen des angestrengten Hauptsacheverfahrens (4a O 31/19), in dem zunächst die Lieferung durch die A an die Universität I behauptet wurde, nicht per se die Dringlichkeit für das hiesige Verfahren. Die Kammer hat im Urteil vom 3. November 2020 festgestellt, dass die Lieferung an die Universität I von hiesiger Verfügungsbeklagten stammte und der ursprüngliche Vortrag, die A habe geliefert, von der Verfügungsklägerin im Verlauf des Hauptsacheverfahrens fallen gelassen worden ist. - Dem Argument der Verfügungsbeklagten, die Qualität der behaupteten Rechtsbeeinträchtigung habe sich nicht geändert, vermag die Kammer nicht beizutreten. Die Verfügungsklägerin hat dargelegt und mit den eidesstattlichen Versicherungen der Frau R vom 1. April 2020 (Anlagen rop 1, 1a) und des Herrn S vom 10. November 2020 (Anlage rop 20) glaubhaft gemacht, dass sie erstmals im März 2020/ 10. März 2020 Kenntnis davon erlangte, dass die Verfügungsbeklagte die angegriffene Ausführungsform an die Universität I geliefert hatte. Zuvor war sie der Überzeugung gewesen, dass die A für den Vertrieb an deutsche Kunden zuständig sei. Die Qualität der Rechtsbeeinträchtigung ist insoweit eine andere als die Verfügungsklägerin erst ein Jahr nach Einreichung der Hauptsacheklage positiv wusste, dass sie mit dem Titel, den sie im Hauptsacheverfahren zu erstreiten hoffte, die konkreten Lieferungen und Vertriebshandlungen nicht würde unterbinden können und die Verfügungsbeklagte insoweit weiterhin als einer ihrer direkten Wettbewerber unbehelligt am deutschen Markt agieren kann. Insofern hatte die Verfügungsklägerin im Hinblick auf die Restlaufzeit des Verfügungspatents rund ein Jahr verloren, weil sie zunächst die über verschiedenste Gesellschaften aufgefächerte Infrastruktur des Konzerns der Verfügungsbeklagten durchdringen und aufklären musste. Ferner kommt hinzu, dass der Markt für die angegriffene Ausführungsform überschaubar ist, da augenscheinlich Besitzer von Sequenzierer die angegriffene Ausführungsform verwenden und insofern nur bestimmte Fach- und Forschungseinrichtungen als Abnehmer in Betracht kommen. Angesichts dessen erscheint eine einstweilige Verfügung notwendig und ein Verweis auf ein Hauptsacheverfahren nicht zumutbar.
- bbb)
Der Unterschied zu dem von der Verfügungsbeklagten angeführten Fall in OLG Düsseldorf, Beck RS 2014, 1174 besteht darin, dass die Verfügungsklägerin – anders als in dortiger Sachverhaltskonstellation – gerade gegen (beide) ausländischen Unternehmen zunächst im Hauptsacheverfahren vorgegangen und nicht untätig geblieben ist. Erst im Laufe dieses Verfahrens erkannte sie ihren Irrtum, wonach nicht die lettische Gesellschaft ausschließlich für die Liefervorgänge nach Europa zuständig war, sondern laut einer Aussage einer Mitarbeiterin aus einer Konzerngesellschaft der Verfügungsbeklagten in einer Patentauseinandersetzung vor dem High Court in O aus September 2019 u.a. die Verfügungsbeklagte den Vertrieb nach Übersee organisierte (siehe Urteil der Kammer v. 3. November 2020, Az. 4a O 31/19). So hat die Verfügungsklägerin zu Recht eingewendet, dass in den Veröffentlichungen der Universität Q im Jahr 2018 und 2019 nur allgemein von dem Konzern die Rede gewesen sei, so dass sie daraus keine konkreten Anhaltspunkte auf die Tätigkeit der Verfügungsbeklagten erlangen konnte. Ebenfalls im September 2019 hatte die Verfügungsklägerin dann das US-Discovery-Verfahren angestrengt, wobei ein Antrag dort auf Vorlage von Unterlagen zur Klärung der Frage gerichtet war, welches Unternehmen des Konzerns für Verletzungshandlungen in Deutschland zuständig ist. Die Verfügungsklägerin hat insofern zügig gehandelt, um den Sachverhalt der Lieferungen weiter aufzuklären. Aus dem Umstand allein, dass sie ausweislich der Klagen in N und England im Januar 2020 positive Kenntnis davon hatte, dass die Verfügungsbeklagte in diese Länder liefert, kann gerade nicht auf eine gleichzeitige Kenntnis im Hinblick auf Deutschland geschlossen werden. Insofern widersprechen auch die eidesstattlichen Versicherungen nicht der Äußerung der Verfügungsklägerin im englischen Verfahren, da sie dort zwar allgemein von „europäischen“ Ländern sprach, aber es aufgrund der zeitlichen Nähe zu der Klage in N plausibel erscheint, dass mit der allgemeinen Äußerung N gemeint war. Abgesehen davon darf die Verfügungsklägerin einen sicheren prozessualen Weg gehen und ihr Risiko so gering wie möglich halten, sofern sie dabei zügig handelt. Gerade vor dem Hintergrund, dass sie schon einmal „falsch“ lag und die Verfügungsbeklagte in allgemein zugänglichen Informationen augenscheinlich nicht ohne weiteres in Erscheinung tritt, durfte sich die Verfügungsklägerin vergewissern, dass auch tatsächlich Lieferungen nach Deutschland stattfinden oder sich anbahnen. Gemessen daran ist in dem Abwarten von vier Monaten, in denen sich aus dem US-Discovery-Verfahren noch neuere Erkenntnisse hätten ergeben können, kein unangemessenes Zögern zu sehen. Die Verfügungsklägerin war aktiv tätig und hat den Dingen nicht ihren Lauf gelassen. Sofern sich aus dem US-Verfahren zeitnah Informationen ergeben hätten, wäre eine Anfrage bei der Universität obsolet gewesen. Die Anfrage erfolgte sodann im Februar 2020 und angesichts des Jahreswechsels und der Feiertage sowie des Umstandes, dass eine Anfrage nach dem XXX auch keine alltägliche Vorgehensweise in diesen Fällen darstellt, ist dieser Zeitraum nicht als dringlichkeitsschädlich zu werten. Insofern hat die Verfügungsklägerin angesichts ihrer Kenntnis von Liefervorgängen der Verfügungsbeklagten im Ausland zügig gehandelt. -
b)
Sofern die Verfügungsbeklagte meint, der Fall würde sich bar der technischen Komplexität nicht für ein Verfügungsverfahren eignen, weil das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes für technische Schutzrechte nur in einfach gelagerten Fälle Anwendung findet, so trifft diese Aussage im Hinblick auf die Verletzungsdiskussion zu. Diese ist vorliegend freilich nicht komplex in dem Sinne, das in Bezug auf die Merkmalsverwirklichung komplizierte Tatsachen bestritten oder mit den Mitteln des einstweiligen Rechtsschutzes nicht hinreichend und in der notwendigen Tiefe glaubhaft gemacht werden können. Die wesentlichen Punkte in tatsächlicher Hinsicht sind unstreitig. Hinsichtlich der technischen Komplexität der Frage des Rechtsbestandes wird auf die obigen Ausführungen Bezug genommen. - Die Kostenentscheidung beruht auf § 91a ZPO.