4b O 14/20 – Waage mit Tragplatte V

Düsseldorfer Entscheidungen Nr. 3111

Landgericht Düsseldorf

Urteil vom 29. Juni 2021, Az. 4b O 14/20

  1. I. Die Beklagte wird verurteilt,
  2. 1. es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes in Höhe von bis zu 250.000,00 €, ersatzweise Ordnungshaft, oder einer Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, wobei die Ordnungshaft an ihrem Präsidenten zu vollziehen ist, zu unterlassen
  3. Waagen mit einer Tragplatte zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse und mit einer elektrischen Schaltvorrichtung zur Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage,
  4. in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in den Verkehr zu bringen, zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken einzuführen oder zu besitzen,
  5. bei denen die Schaltvorrichtung einen kapazitiven Näherungsschalter mit einer an der Tragplatte angeordneten Elektrode zur Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode aufweist, wobei die Tragplatte aus einem elektrisch nicht leitenden Material besteht und die Elektrode unter der Tragplatte angeordnet ist und die mit der elektrischen Schaltvorrichtung erfolgende Aus- oder Anwahl einer Funktion im Einschalten der Waage besteht;
  6. 2. der Klägerin darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie (die Beklagte) die zu Ziffer I.1. bezeichneten Handlungen seit dem 19. Februar 2010 begangen hat, und zwar unter Angabe
  7. a) der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,
  8. b) der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,
  9. c) der Menge der ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden;
  10. wobei
  11. zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Kaufbelege (nämlich Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in Kopie vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;
  12. 3. der Klägerin darüber Rechnung zu legen, in welchem Umfang sie (die Beklagte) die zu Ziffer I.1. bezeichneten Handlungen seit dem 19. Februar 2010 begangen hat, und zwar unter Angabe
  13. a) der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie den Namen und Anschriften der Abnehmer,
  14. b) der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie den Namen und Anschriften der gewerblichen Angebotsempfänger.
  15. c) der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet,
  16. d) der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten und des erzielten Gewinns,
  17. wobei
  18. der Beklagten vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften der nichtgewerblichen Abnehmer und der Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von der Klägerin bezeichneten, ihr gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten, in der Bundesrepublik Deutschland vereidigten Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagte dessen Kosten trägt und ihn ermächtigt und verpflichtet, der Klägerin auf konkrete Anfrage mitzuteilen, ob ein bestimmter Abnehmer oder Angebotsempfänger in der Aufstellung enthalten ist;
  19. 4. die unter Ziffer I.1. bezeichneten, seit dem 19. Februar 2010 in der Bundesrepublik Deutschland in Verkehr gebrachten Erzeugnisse gegenüber den gewerblichen Abnehmern unter Hinwies auf den gerichtlich (Urteil des LG Düsseldorf vom 29. Juni 2021) festgestellten patentverletzenden Zustand der Sache und mit der verbindlichen Zusage zurückzurufen, etwaige Entgelte zu erstatten sowie notwendige Verpackungs- und Transportkosten sowie mit der Rückgabe verbundene Zoll- und Lagerkosten zu übernehmen und die Erzeugnisse wieder an sich zu nehmen.
  20. II. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die in Ziffer I.1. bezeichneten, seit dem 19. Februar 2010 begangenen Handlungen entstanden ist und noch entstehen wird.
  21. III. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
  22. IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 500.000,00 €, wobei für die Vollstreckung der einzelnen titulierten Ansprüche folgende Teilsicherheiten festgesetzt werden:
  23. Ziff. I.1., 4.: 350.000,00 Euro
    Ziff. I.2., 3.: 100.000,00 EUR
    Ziff. III.: 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages
  24. Tatbestand
  25. Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen Verletzung des deutschen Teils des europäischen Patents EP 1 371 XXX B 2 (nachfolgend: Klagepatent; Anlage K 1) auf Unterlassung, Auskunft, Rechnungslegung, Rückruf sowie Feststellung der Schadensersatzpflicht in Anspruch.
  26. Die Klägerin ist seit dem 27. August 2009 als Inhaberin des Klagepatents eingetragen, das am 7. Juni 2003 unter Inanspruchnahme der Prioritäten zweier deutscher Anmeldungen vom 14. Juni 2002 und 27. Februar 2003 von der A GmbH & Co. KG angemeldet wurde. Die Patentanmeldung wurde am 17. Dezember 2003 veröffentlicht; der Hinweis auf die Erteilung des Klagepatents am 23. September 2009.
  27. Das Klagepatent war Gegenstand eines Einspruchsverfahrens vor dem Europäischen Patentamt. Mit Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung vom 26. Juni 2011 wurde es beschränkt aufrechterhalten. Die gegen diese Entscheidung gerichteten Beschwerden zweier Einsprechender wurden von der technischen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts mit der als Anlage K 11 vorgelegten Entscheidung vom 18. Januar 2013 zurückgewiesen.
  28. Zudem wurde gegen das Klagepatent Nichtigkeitsklage vor dem Bundespatentgericht erhoben, die mit Urteil vom 9. September 2014 abgewiesen wurde. Die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung wurde vom Bundesgerichtshof mit dem als Anlage K 2 vorgelegten Urteil vom 28. März 2017 zurückgewiesen.
  29. Das Klagepatent steht in Kraft. Unter dem 12. Juni 2020 wurde mit dem als Anlage B 4 vorgelegten Schriftsatz eine weitere Nichtigkeitsklage vor dem Bundespatentgericht erhoben, über die noch nicht entschieden ist.
  30. Das Klagepatent betrifft eine elektrische Waage mit einer Tragplatte zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse. Der von der Klägerin geltend gemachte Patentanspruch 1 lautet:
  31. Waage (1) mit einer Tragplatte (4) zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse und mit einer elektrischen Schaltvorrichtung (16, 24) zur Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage (1), dadurch gekennzeichnet, dass die Schaltvorrichtung (16, 24) einen kapazitiven Näherungsschalter mit einer an der Tragplatte (4) angeordneten Elektrode (18, 38, 44) zur Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode aufweist, wobei die Tragplatte (4) aus einem elektrisch nicht leitenden Material besteht und die Elektrode (18, 38, 44) unter der Tragplatte (4) angeordnet ist und die mit der elektrischen Schaltvorrichtung (16, 24) erfolgende Aus- oder Anwahl einer Funktion im Einschalten der Waage besteht.
  32. Die nachfolgende Abbildung zeigt beispielhaft eine Ausführungsform einer erfindungsgemäßen Waage in perspektivischer Ansicht:
  33. Die Beklagte ist ein französisches Unternehmen, das neben Medizinprodukten, Bad-, Küchen- und Schlafzimmerzubehör unter anderem auch mechanische und elektronische Küchenwaagen vertreibt. Sie bietet bundesweit digitale Küchenwaagen mit der Modellbezeichnung „B“ sowie „C“ (nachfolgend „angegriffene Ausführungsform“) an wie folgt:
  34. Die Klägerin erwarb im Rahmen eines Testkaufs ein Exemplar des Modells „D“ über die Webseite der Beklagten. Die Lieferung erfolgte nach Rösrath in Nordrhein-Westfalen.
  35. Die Klägerin ist der Ansicht, Angebot und Vertrieb der angegriffenen Ausführungsform stellten eine Verletzung des Klagepatents dar. Die angegriffene Ausführungsform weise eine nichtleitende (Glas)-Platte auf und verfüge über einen unterhalb dieser Tragplatte angeordneten Sensor, der als Näherungssensor ausgebildet sei. Dieser Sensor diene nach Kontrollversuchen zum Einschalten der Waagen und reagiere auch auf Annäherung. Dieser kapazitive Näherungsschalter weise auch eine Elektrode auf, die der Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode diene.
  36. Unerheblich sei, ob durch den Schalter die angegriffene Ausführungsform als solche eingeschaltet werde oder nur bestimmte Teile davon, solange die Bedienbarkeit der Waage von eben jenem Einschaltvorgang abhänge. Die angegriffene Ausführungsform arbeite unstreitig mit einer elektrischen Energiequelle sowie mit elektrischen bzw. elektromechanischen Einzelelementen und damit mit einer elektrischen Schaltvorrichtung zum Einschalten der Waage.
  37. Die geltend gemachten Ansprüche seien weder verjährt noch verwirkt. Die Klägerin habe erst im Jahr 2019 von der angegriffenen Ausführungsform Kenntnis erlangt.
  38. Die Klägerin hat ursprünglich beantragt, die Beklagte zur Unterlassung, Auskunft für die Zeit seit dem 23. September 2009 und Rechnungslegung für die Zeit seit dem 17. Januar 2004 zu verurteilen sowie die Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung von Entschädigung und Schadensersatz seit dem 17. Januar 2004 beziehungsweise 23. Oktober 2009 festzustellen.
  39. Nachdem die Klägerin die Klage teilweise zurückgenommen hat, beantragt sie nunmehr
  40. zu erkennen, wie geschehen.
  41. Die Beklagte beantragt,
  42. die Klage abzuweisen,
  43. hilfsweise,
  44. den Rechtsstreit bis zur Entscheidung über die vor dem Bundespatentgericht gegen das Streitpatent anhängige Nichtigkeitsklage auszusetzen.
  45. Die Beklagte ist der Auffassung, die Klägerin sei für die geltend gemachten Ansprüche nicht aktivlegitimiert. Anmelderin des Klagepatents sei die A GmbH & Co. KG gewesen, die jedoch bereits seit dem 4. April 2006 aufgelöst sei. Eine Übertragung des Klagepatents und hieraus folgender Ansprüche bestreite die Beklagte mit Nichtwissen.
  46. Die Beklagte ist weiter der Auffassung, die angegriffene Ausführungsform verletze das Klagepatent nicht. Bei dem Begriff des Einschaltens im Sinne des Klagepatents handele es sich nicht um eine beliebige Funktion oder Steuerung der Waage. Es gehe auch nicht um das Einschalten der Anzeige oder bestimmter funktioneller Elemente der Waage. Vielmehr sei die Waage als solche ein- oder auszuschalten.
  47. Die angegriffene Ausführungsform weise eine zentrale Verarbeitungseinheit auf, die sämtliche Aufgaben und Funktionen steuere. Diese zentrale Steuereinheit sei an mehreren Stellen mit einer Spannungsversorgung verbunden. Darüber hinaus seien Näherungsschalter vorhanden, die über weitere integrierte Schaltungen und andere Bauelemente mit der zentralen Verarbeitungseinheit verbunden seien. Dies treffe insbesondere auch auf den Schalter zu, der seitens der Klägerin als „Einschalter“ im Sinne des Klagepatents angesehen werde. Das durch diesen Bediener erzeugte Signal werde an die zentrale Versorgungseinheit weitergegeben und erzeuge dort in Abhängigkeit von der Eingabe ein bestimmtes Verhalten der Waage.
  48. Die an der als Anlage K 9 vorgelegten Waage erkennbaren elektronischen Bauelemente seien keine elektrische Schaltvorrichtung im Sinne des Klagepatents. Denn bei einer elektrischen Schaltvorrichtung handele es sich nicht um eine elektronische Schaltung, bei der elektrische und elektromechanische Einzelelemente wie Batterie, Schalter, Anzeige, Motor usw. zu einer funktionsgerechten Anordnung zusammengeschlossen seien. Verwendbar werde diese Schaltung durch elektrischen Strom durch ihre Bauelemente.
  49. Zudem verfüge die angegriffene Ausführungsform zwar auf der Oberseite der Tragplatte über ein Feld, das mit „On“ beschriftet sei und es erscheine eine Anzeige im Display, wenn man dieses Feld berühre. Dass damit jedoch nicht nur das Display der angegriffenen Ausführungsform ein- und ausgeschaltet werde, sondern die gesamte Waage, habe die Klägerin nicht vorgetragen. Es gehe auch nicht darum, eine Bediensperre für die Waage einzurichten, so dass es auf die Bedienbarkeit nicht ankommen könne.
  50. Die Tragplatte der angegriffenen Ausführungsform bestehe aus einer Glasplatte mit Beschichtung und somit nicht aus einem nichtleitenden Material.
  51. Die Beklagte treffe schließlich kein Verschulden, da sie als Vertreiberin keinen Einblick in die technischen Schaltungsdetails der von ihr vertriebenen Produkte habe. Sie habe ihren Zulieferer auf das Klagepatent und das geführte Einspruchsverfahren aufmerksam gemacht und ihn aufgefordert, ausschließlich patentfreie Produkte zu liefern. Insofern habe sie davon ausgehen dürfen, dass kein Eingriff in den Schutzbereich des Klagepatents vorliege.
  52. Die Beklagte erhebt die Einrede der Verjährung und wendet Verwirkung ein. Der Klägerin seien die Produkte der Beklagten bestens bekannt, da sich beide Unternehmen im Bereich der Waagen für Endverbraucher ständig gegenüberstünden. Spätestens seit Beginn des Einspruchsverfahrens vor 10 Jahre müsse die Beklagte auf die streitgegenständlichen Produkte aufmerksam geworden sein. Nach Ablauf des Einspruchsverfahrens mit Verkündung der zweitinstanzlichen Entscheidung am 18. Januar 2013 habe die Klägerin zahlreiche andere Unternehmen in Anspruch genommen, nicht aber sie – die Beklagte – obwohl sie ebenfalls Einsprechende gewesen sei.
  53. Schließlich werde sich das Klagepatent als nicht rechtsbeständig erweisen. Der Gegenstand des Klagepatents beruhe nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit.
  54. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze und auf die zu den Akten gereichten Unterlagen Bezug genommen.
  55. Entscheidungsgründe
  56. Die zulässige Klage ist begründet.
  57. A.
    Die Klägerin hat gegen die Beklagte Ansprüche auf Unterlassung, Auskunft und Rechnungslegung sowie Rückruf und Schadensersatz dem Grunde nach aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ, §§ 139 Abs. 1 und 2, 140a Abs. 3, 140b Abs. 1 und 3 PatG, §§ 242, 259 BGB.
  58. I.
    Die Klägerin ist hinsichtlich sämtlicher geltend gemachter Ansprüche anspruchsberechtigt, da das Klagepatent ihr gegenüber erteilt worden ist und sie Ansprüche aus dem Patent erst für den Zeitraum nach Erteilung des Klagepatents geltend macht, Art. 64 Abs. 1 EPÜ, §§ 49 Abs. 1, 58 Abs. 1 S. 3 PatG.
  59. II.
    Das Klagepatent betrifft eine Waage mit einer Tragplatte zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse und mit einer elektrischen Schaltvorrichtung zur Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage.
  60. Eine solche Wage ist beispielsweise als elektrische Personenwaage zum Messen und Anzeigen des Gewichts einer auf der Tagplatte stehenden Person bekannt. Mittels einer Schaltvorrichtung kann die Waage ein- und ausgeschaltet werden, so dass der Bedarf an elektrischer Energie dieser Waage auf den reinen Mess- und Anzeigevorgang beschränkt werden kann (Abs. [0002], Textstellen ohne Bezugsangabe stammen aus der Klagepatentschrift). Zur Auslösung des Schaltvorgangs, so das Klagepatent weiter, besitzt die Waage einen Kontaktschalter, der von der Person mit dem Fuß betätigt werden kann. Nachteilig hieran ist, dass dieser Kontaktschalter sowohl aufwendig zu verkabeln ist, als auch von dem Benutzer erfordert, auf eine exakt definierte Stelle der Waage – nämlich genau den Kontaktschalter – zur Schalterbetätigung zielen zu müssen.
  61. Als Alternative zu dem Kontaktschalter ist weiterhin ein Akustikschalter bekannt, der auf Schwingungen durch Antippen der Waage reagiert. Das Klagepatent kritisiert an diesem Akustikschalter, dass dieser nicht nur auf eine beabsichtigte Aktion des Benutzers reagiert, sondern unkontrolliert und unerwünscht auch auf Fremdgeräusche, was von erheblichem Nachteil ist (Abs. [0003]).
  62. Weiterhin bekannt sind ständig in Betrieb befindliche Messsysteme, mit deren Hilfe über Gewichtsänderungen auf der Tragplatte die Waage aktiviert wird. Solche Messsysteme zeichnen sich, so das Klagepatent, besonders nachteilig durch eine ständige Stromaufnahme und somit einen hohen Energiebedarf aus (Abs. [0004]).
  63. Aus der US 4,932,XXX ist eine elektronische Waage mit Kalibrierungsgewichtsschaltung bekannt, die einen Näherungssensor aufweist, mit dessen Hilfe der Kalibrierungsvorgang bei Annäherung einer Person an die Waage gesperrt oder abgebrochen werden kann, bevor die Bedienperson die Waagschale durch Wägegut belasten kann (Abs. [0005]).
  64. Weiter ist aus der US 4,789,XXX eine Analysewaage bekannt, die zur Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage ein im Wesentlichen mechanisch arbeitendes
    Bedientableau aufweist. Vorgesehen ist ein Gehäuse mit einer motorisch angetriebenen Tür, die mit Hilfe von Näherungssensoren oder sprachgesteuerten Sensoren aktivierbar ist (Abs. [0006]).
  65. Schließlich ist aus der US 4,576, XXX eine entsprechende Waage bekannt. Aus der DE 41 24 XXX A 1 ist ein mechanischer Schalter für eine Waage und aus der US 4,208,XXX ganz allgemein ein Näherungsdetektor bekannt.
  66. Vor diesem Hintergrund liegt dem Klagepatent die Aufgabe (technisches Problem) zugrunde, eine Waage der eingangs genannten Art zu schaffen, die eine einfache Schaltmöglichkeit von hoher Funktionssicherheit bei gleichzeitig niedrigen Herstellungs- und Betriebskosten aufweist (Abs. [0008]).
  67. Zur Lösung dieses Problems schlägt das Klagepatent eine Waage mit den Merkmalen des Klagepatentanspruchs 1 vor:
  68. 1. Waage (1)
    1.1 mit einer Tragplatte (4) und
    1.2 mit einer elektrischen Schaltvorrichtung (16, 24).
    2. Die Tragplatte (4)
    2.1 dient der Aufnahme der zu wiegenden Masse
    2.2 besteht aus einem elektrisch nicht leitenden Material.
    3. Die elektrische Schaltvorrichtung (16, 24)
    3.1 dient der Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage (1), die im Einschalten der Waage (1) besteht,
    3.2 weist einen kapazitiven Näherungsschalter auf.
    4. Der kapazitive Näherungsschalter weist eine Elektrode (18, 38, 44) auf.
    5. Die Elektrode (18, 38, 44)
    5.1 dient der Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode (18, 38, 44),
    5.2 ist an der Tragplatte (4) angeordnet,
    5.3 ist unter der Tragplatte (4) angeordnet.
  69. III.
    Die erfindungsgemäße Waage zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine elektrische Schaltvorrichtung aufweist, die der Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage dient, im Einschalten der Waage besteht und eine Tragplatte aus elektrisch nicht leitendem Material aufweist. Vor dem Hintergrund des Streites der Parteien bedürfen diese Merkmale 1.2, 2.2 und 3.1 der näheren Erörterung.
  70. 1.
    Die elektrische Schaltvorrichtung nach Merkmal 1.2 ist eine Anordnung verschiedener Bauteile, mit denen ein (Um)Schaltvorgang durchgeführt werden kann. Das Klagepatent lässt offen, wie die Schaltvorrichtung konkret ausgestaltet sein soll; sie soll jedenfalls elektrisch sein und somit unter Zuführung einer Stromquelle arbeiten. Damit dies möglich ist, muss die Vorrichtung über entsprechende elektrische bzw. elektronische Bauteile verfügen. Dies sind beispielsweise Leiter (Elektroden oder Kathoden), Leiterplatten, Kabel, entsprechende Steckverbinder, Schalter und Relais, Widerstände, Kondensatoren und Transformatoren.
  71. Der Wortlaut des Klagepatentanspruchs 1 nimmt eine Differenzierung zwischen elektrischer und elektronischer Schaltvorrichtung nicht vor. Zwar verwendet das Klagepatent in seiner allgemeinen Beschreibung im Zusammenhang mit der Schaltvorrichtung neben dem Begriff „elektrisch“ auch den Begriff „elektronisch“ (bspw. Abs. [0002] Z. 5, Abs. [0005], Z. 32), misst diesen jedoch keine inhaltsverschiedene Bedeutung zu. Funktional ist ein Unterschied in der Arbeitsweise der Schaltvorrichtung oder der Zusammensetzung ihrer Bauteile damit jedenfalls nicht verbunden.
  72. Wollte der Fachmann beide Begriffe unterscheiden, so wäre die elektrische Schaltvorrichtung nach der Beschreibung des Klagepatents jedenfalls der Oberbegriff, der auch elektronische Bauteile und Schaltungen – insbesondere die elektronische Auswerteeinheit – umfasst. Das Klagepatent verlangt an keiner Stelle, dass insbesondere die Auswertung des kapazitiven Näherungsschalters nicht mittels einer elektronischen Auswerteeinheit erfolgen muss. Dies hätte eine Auslegung des Anspruchs unter seinen Wortlaut zur Folge, der eine elektronische Auswerteeinheit oder eine elektronische Schaltung überhaupt nicht erwähnt (vgl. BGH GRUR 2004,1023 –Bodenseitige Vereinzelungseinrichtung).
  73. 2.
    Die erfindungsgemäße Waage umfasst nach Merkmal 2.2 weiter eine Tragplatte, die aus einem nicht elektrisch leitfähigen Material bestehen soll und somit aus einem Material, das elektrischen Strom nicht leiten kann (Nichtleiter). Das Klagepatent zählt in Abschnitt [0017], Spalte 4 ab Zeile 9 beispielsweise Glas, Kunststoff oder Granit als nicht leitfähige Materialien auf.
  74. Funktional dient dieses Material dazu, die Tragplatte als Dielektrikum auszugestalten, denn auf einen Kontakt soll allein die Elektrode reagieren. Bestünde die Tragplatte jedoch insgesamt aus elektrisch leitfähigem Material, führte dies dazu, dass die gesamte Tragplatte die Elektrode bildete, was nach Wortlaut und Beschreibung des Klagepatents ersichtlich nicht gewollt ist, oder dass eine darunter befindliche Elektrode elektrisch abgeschirmt und die Waage nicht funktionsfähig wäre.
  75. Dies schließt nicht aus, dass die Tragplatte, die selbst aus einem nichtleitenden Material besteht, auf ihrer Unterseite eine Beschichtung aufweist, die ihrerseits elektrisch leitfähig ist und damit die Elektrode selbst bilden kann. Dies entnimmt der Fachmann der Beschreibung einer bevorzugten Ausführungsform in Abs. [0018] und Unteranspruch 4.
  76. 3.
    Die elektrische Schaltvorrichtung dient nach Merkmal 3.1 der Aus- und Anwahl einer Funktion der Waage, die im Einschalten der Waage besteht. Was unter dem Einschalten der Waage zu verstehen ist, lässt der Wortlaut des Klagepatentanspruchs 1 offen. Der Fachmann hat insbesondere keine Veranlassung, zwischen dem Einschalten des Displays der Waage und dem Einschalten weiterer Funktionseinheiten bzw. der Steuereinheit der Waage zu differenzieren. Auch dass der Klagepatentanspruch das Einschalten der Waage vom Einschalten einer Funktionssperre unterscheiden möchte, lässt sich dem Wortlaut nicht entnehmen.
  77. Funktional betrachtet versteht der Fachmann unter dem Einschalten der Waage das Versetzen der Waage von einem funktionslosen Zustand in einen Zustand, in welchem dem Nutzer die Funktionen der Waage (bspw. die Wiegefunktion oder das Auslesen von Daten aus dem Speicher, Anschalten des Displays) zur Verfügung stehen. Dabei kommt es dem Fachmann nicht darauf an, in welchem Umfang bestimmte Schalteinheiten erstmals mit Strom versorgt werden müssen. Für dieses Verständnis spricht insbesondere auch, dass der kapazitive Näherungsschalter grundsätzlich mit Strom zu versorgen ist, um seine Funktionsfähigkeit sicherzustellen.
  78. Dieses Verständnis steht – anders als die Beklagte meint – nicht in Widerspruch zur als Anlage K 2 vorgelegten Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Rechtsbestandsverfahren (zur Bedeutung der Entscheidungsgründe im Rechtsbestandsverfahren vgl. Benkard/Scharen, Patentgesetz, 11. Auflage 2015, § 14 Rn. 26). Denn der Bundesgerichtshof führt zum Stand der Technik aus, es seien ständig messbereite Betriebssysteme bekannt gewesen, von denen sich das Klagepatent gerade abgrenzen möchte. Dies sei aufgrund des hohen Energiebedarfs im Klagepatent als nachteilig beschrieben (vgl. Anlage K 2 S. 4). Auch der kapazitive Näherungsschalter weist den Nachteil auf, dass er im ausgeschalteten Zustand Strom verbraucht, worauf der Bundesgerichtshof ausdrücklich hinweist (vgl. Anlage K 2, S. 16). Vor diesem Hintergrund liegt der Vorteil der erfindungsgemäßen Lösung für den Fachmann darin, dass durch die Verwendung eines kapazitiven Näherungsschalters für die Einschaltfunktion der Strombedarf gering gehalten werden kann. In welchem Umfang dies tatsächlich erfolgt, überlässt das Klagepatent dem Fachmann.
  79. IV.
    Ausgehend von dieser Auslegung sind die Merkmale 1.2, 2.2 und 3.1 bei der angegriffenen Ausführungsform erfüllt. Die weiteren Merkmale des Klagepatentanspruchs werden durch die angegriffene Ausführungsform unstreitig verwirklicht, so dass sich Ausführungen hierzu erübrigen.
  80. 1.
    Die angegriffenen Waagen der Beklagten weisen eine Tragplatte nach Merkmal 1.1 auf, die der Aufnahme einer zu wiegenden Masse dient, Merkmal 2.1., und aus einem elektrisch nicht leitenden Material, nämlich Glas, besteht, Merkmal 2.2.
  81. Der Einwand der Beklagten, es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass die beschichtete Tragplatte der streitgegenständlichen Waagen aus einem nicht leitfähigen Material besteht, greift nicht durch. Die Klägerin hat vorgetragen, dass die Tragplatte der angegriffenen Ausführungsform aus Glas und somit einem nichtleitenden Material besteht. Der Einwand der Beklagten, die Tragplatte weise weiterhin eine Beschichtung auf, deren Eigenschaften die Klägerin nicht näher untersucht hätte und daher nicht wissen könne, ob diese Beschichtung aus einem leitenden Material bestehe, greift nicht durch. Die Beklagte stellt nicht in Abrede, dass die Tragplatte selbst aus Glas besteht. Auch lässt sie sich nicht dahingehend ein, die Beschichtung der angegriffenen Ausführungsform weise leitendes Material auf. Umstände, die die Verwendung solchen Materials nahelegen könnten, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
  82. 2.
    Die angegriffene Ausführungsform verfügt weiterhin über eine elektrische Schaltvorrichtung auf der Unterseite der Waage gemäß Merkmal 1.2. Die Schaltvorrichtung ist auf dem nachfolgenden Foto der als Anlage K 9 vorgelegten Waage, der Klageschrift auf Seite 14 entnommen, gut zu erkennen:
  83. Auch die Beschreibung der Beklagten zur Funktionsweise der angegriffenen Ausführungsform bestätigt diese Feststellung. So verfügen die angegriffenen Waagen über eine zentrale Verarbeitungseinheit, die sämtliche Aufgaben und Funktionen steuert. Die zentrale Steuereinheit ist dabei an mehreren Stellen mit einer Spannungsversorgung verbunden. Darüber hinaus sind Näherungsschalter vorhanden, die über weitere integrierte Schaltungen und andere Bauelemente mit der zentralen Verarbeitungseinheit verbunden sind. Damit verfügt die angegriffene Ausführungsform über mehrere elektrische bzw. elektronische Bauteile, die derart angeordnet sind, dass mit ihnen ein Schaltvorgang durchgeführt werden kann. Soweit die Beklagte einwendet, man erkenne lediglich elektronische Bauteile, wie beispielsweise ein Display zum Auslesen sowie Oberflächenbereiche zum Steuern der Waage, führt dies aus der Verletzung nicht heraus, denn – unterstellt es handele sich tatsächlich nur um elektronische Bauteile – lässt dies den Rückschluss, es liege nur eine elektronische Schaltvorrichtung vor, nicht zu. Selbst wenn man dies annehmen wolle, so ist eine solche elektronische Schaltvorrichtung nach der hier vertretenen Auslegung von Merkmal 1.2 erfasst.
  84. 3.
    Die elektronische Schaltvorrichtung dient dem Einschalten der Waage gemäß Merkmal 3.1; mit ihr lässt sich die Waage einschalten. Der Einschaltvorgang wird mittels des verbauten kapazitiven Näherungsschalters, dessen Vorhandensein zwischen den Parteien nicht in Streit steht, durchgeführt. Berührt man den auf der Tragplatte gekennzeichneten Bereich On/Off/TARE, der aus dem nachstehenden Foto (entnommen der Anlage K 9) erkennbar ist:
  85. schaltet sich das Display der Waage ein und zeigt an: 0 g. Belastet man die Waage sodann mit einem Gegenstand, zeigt das Display dessen Gewicht an. Eines weiteren Einschalt-/Umschaltschrittes von Seiten des Nutzers bedarf es nicht.
  86. Soweit die Beklagte einwendet, allein das Einschalten des Displays belege nicht, dass auch die übrigen Funktionseinheiten der Waage erst über den kapazitiven Näherungsschalter eingeschaltet werden, ist nach der hier vertretenen Auslegung erforderlich aber auch ausreichend, wenn durch das Einschalten des Displays die Einsatzbereitschaft der Waage erstmals signalisiert wird. Einer Verwirklichung des Merkmals 3.1 steht ferner nicht entgegen, dass der kapazitive Näherungsschalter und ggf. auch andere Funktionseinheiten der angegriffenen Ausführungsform dauerhaft mit Strom versorgt werden. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Ausführungen unter Ziff. II.3 verwiesen.
  87. V.
    Die festgestellte Patentverletzung rechtfertigt die zuerkannten Rechtsfolgen wie folgt:
  88. 1.
    Die Beklagte ist der Klägerin zur Unterlassung verpflichtet, Art. 64 EPÜ i.V.m. § 139 Abs. 1 PatG, da sie zur Benutzung der patentgemäßen Lehre nicht berechtigt ist.
  89. 2.
    Die Klägerin hat gegen die Beklagte dem Grunde nach einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ, § 139 Abs. 1 und 2 PatG.
  90. a)
    Das für die Zulässigkeit des Feststellungsantrags gemäß § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse ergibt sich daraus, dass die Klägerin derzeit nicht in der Lage ist, den konkreten Schaden zu beziffern und ohne eine rechtskräftige Feststellung der Schadensersatzpflicht die Verjährung von Schadensersatzansprüchen droht.
  91. b)
    Die Beklagte handelte jedenfalls fahrlässig, indem sie die im Geschäftsverkehr erforderliche Sorgfalt nicht beachtet hat, § 276 BGB.
  92. Der Anspruch auf Schadensersatz wegen patentverletzenden Handlungen setzt Verschulden, das heißt Vorsatz oder Fahrlässigkeit voraus. Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt (§ 276 Abs. 2 ZPO). Der Vorwurf der Fahrlässigkeit setzt daher voraus, dass der objektiv patentverletzend Handelnde den patentverletzenden Charakter seines Verhaltens bei Anwendung der verkehrserforderlichen Sorgfalt hätte erkennen und vermeiden können. Da sich grundsätzlich jeder Gewerbetreibende vor Aufnahme einer Benutzungshandlung nach etwa entgegenstehenden Schutzrechten Dritter zu vergewissern hat und die erfolgte Patenterteilung in allgemein zugänglichen Quellen bekannt gemacht wird, kann aus dem Vorliegen einer rechtswidrigen Benutzung des Patents in aller Regel auf ein (zumindest fahrlässiges) Verschulden des Benutzers geschlossen werden (BGH, GRUR 1977, 250 (252) – Kunststoffhohlprofil I; BGH, GRUR 1993, 460 (464) – Wandabstreifer). Aber auch von einem reinen Handelsunternehmen, das auf technische Gegenstände einer bestimmten Art oder Gattung „spezialisiert“ ist, ist grundsätzlich eine eigene Prüfung der Schutzrechtslage zu erwarten, selbst wenn diese wegen der technischen Komplexität des betroffenen Gegenstandes mit einem beträchtlichen Aufwand verbunden ist. Hat in der Zulieferkette bereits eine ernsthafte, sorgfältige und sachkundige Prüfung daraufhin stattgefunden, ob das Produkt Schutzrechte im Bestimmungsland verletzt, so reduziert sich die Pflicht des Händlers darauf, sich zu vergewissern, dass die Schutzrechtslage verlässlich verifiziert worden ist (OLG Düsseldorf, Urteil vom 8. Dezember 2016, Az. I-2 U6/13, GRUR-RS 2016, 111011 Rn. 92). Das Handelsunternehmen darf sich jedoch nicht auf die Angaben des (ausländischen) Herstellers verlassen, insbesondere nicht auf die nur pauschale Erklärung, eine Patentverletzung liege nicht vor (Grabinski/Zülch in Benkard, Patentgesetz, 11. Auflage 2015, § 139 Rn. 46).
  93. Bei Anwendung dieser Maßstäbe ist der Beklagten Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Der Umstand, dass die Beklagte als Handelsunternehmen die angegriffene Ausführungsform lediglich vertreibt und keinen Einblick in die technischen Schaltungsdetails der von ihr vertriebenen Produkte hat, lässt ihre Prüfungspflicht nicht entfallen. Auch genügt ein allgemein gehaltener Hinweis an den Zulieferer auf das Patent und das geführte Einspruchsverfahren, verbunden mit der Aufforderung, nur patentfreie Ware zu liefern, nicht aus. Die Beklagte hätte zumindest sicherstellen müssen, dass innerhalb der Lieferkette die Schutzrechtslage eingehend geprüft wird.
  94. c)
    Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass der Klägerin durch die Patentverletzung ein Schaden entstanden ist, zumal bereits patentverletzende Erzeugnisse in den Verkehr gebracht wurden.
  95. d)
    Der Anspruch der Klägerin auf Feststellung der Schadensersatzverpflichtung für von der Beklagten begangene patentverletzende Handlungen ab 19. Februar 2010 ist durchsetzbar, § 214 Abs. 1 BGB.
  96. Die Verjährungsvorschriften für den Schadensersatzanspruch richten sich nach § 141 PatG, der entsprechend auch für Ansprüche aus europäischen Patenten gilt. Die Verjährung des Anspruchs unterliegt demnach der Regelverjährung nach Maßgabe der §§ 195, 199 BGB.
  97. Allerdings liegen die Voraussetzungen für eine Regelverjährung nach drei Jahren gemäß § 195 BGB nicht vor.
  98. Die gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB erforderliche Kenntnis von den den Anspruch begründenden Umständen liegt im Allgemeinen vor, wenn dem Geschädigten die Erhebung einer Schadensersatzklage, sei es auch nur in Form der Feststellungsklage, Erfolg versprechend, wenn auch nicht risikolos, möglich ist. Weder ist notwendig, dass der Geschädigte alle Einzelumstände kennt, die für die Beurteilung möglicherweise Bedeutung haben, noch muss er bereits hinreichend sichere Beweismittel in der Hand haben, um einen Rechtsstreit im Wesentlichen risikolos führen zu können. Auch kommt es grundsätzlich nicht auf eine zutreffende rechtliche Würdigung an. Vielmehr genügt aus Gründen der Rechtssicherheit und Billigkeit im Grundsatz die Kenntnis der den Ersatzanspruch begründenden tatsächlichen Umstände (Ellenberger in Palandt, 80. Auflage 2021, § 199 RN. 27 ff.). Eine solche Kenntnis der Klägerin ist weder dargetan noch ersichtlich.
  99. Auch die Voraussetzungen für den Ablauf der absoluten Verjährungsfrist gemäß §§ 195, 199 Abs. 4 BGB, wonach sonstige Ansprüche ohne Rücksicht auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in zehn Jahren von ihrer Entstehung an verjähren, liegen nicht vor. Denn der Verjährungslauf wurde gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB durch die Einreichung der Klage am 19. Februar 2020 gehemmt und die Klägerin hat Ansprüche aufgrund von patentverletzenden Handlungen für den Zeitraum vor dem 19. Februar 2010 nicht geltend gemacht.
  100. 3.
    Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Auskunft und Rechnungslegung aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ, § 140b Abs. 1 PatG, §§ 242, 259 BGB zu.
  101. Der Anspruch auf Auskunft über die Herkunft und den Vertriebsweg der angegriffenen Ausführungsform ergibt sich aufgrund der unberechtigten Benutzung des Erfindungsgegenstands unmittelbar aus § 140b Abs. 1 PatG, der Umfang der Auskunftspflicht aus § 140b Abs. 3 PatG.
  102. Die weitergehende Auskunftspflicht und die Verpflichtung zur Rechnungslegung folgen aus §§ 242, 259 BGB, damit die Klägerin in die Lage versetzt wird, den ihr zustehenden Schadensersatzanspruch zu beziffern. Die Klägerin ist auf die tenorierten Angaben angewiesen, über die sie ohne eigenes Verschulden nicht verfügt, und die Beklagte wird durch die von ihr verlangten Auskünfte nicht unzumutbar belastet.
  103. 4.
    Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Rückruf der patentverletzenden Erzeugnisse aus den Vertriebswegen gemäß Art. 64 Abs. 1 EPÜ i.V.m. § 140a Abs. 1 und 3 PatG. Anhaltspunkte dafür, dass der Rückruf der patentverletzenden Erzeugnisse vorliegend unverhältnismäßig ist, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
  104. 5.
    Die Ansprüche der Klägerin waren im Zeitpunkt ihrer Geltendmachung mit Klageerhebung im Februar 2020 nicht verwirkt.
  105. Die Verwirkung als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung wegen der illoyal verspäteten Geltendmachung von Rechten setzt neben einem Zeitmoment ein Umstandsmoment voraus. Ein Recht ist verwirkt, wenn sich der Schuldner wegen der Untätigkeit seines Gläubigers über einen gewissen Zeitraum hin bei objektiver Beurteilung darauf einrichten darf und eingerichtet hat, dieser werde sein Recht nicht mehr geltend machen, so dass die verspätete Geltendmachung gegen Treu und Glauben verstößt. Zu dem Zeitablauf müssen besondere, auf dem Verhalten des Berechtigten beruhende Umstände hinzutreten, die das Vertrauen des Verpflichteten rechtfertigen, der Berechtigte werde sein Recht nicht mehr geltend machen (vgl. BGH, Urteile vom 12.07.2016, XI ZR 501/15, Rn. 40, und XI ZR 564/15, Rn. 35; Urteil vom 11.10.2016, XI ZR 482/15, Rn. 30; Urteil vom 14.03.2017, XI ZR 442/16, Rn. 27). Dabei können das Zeitmoment und das Umstandsmoment nicht voneinander unabhängig betrachtet werden, sondern stehen in einer Wechselwirkung. Je länger der Inhaber des Rechts untätig bleibt, desto mehr wird der Gegner in seinem Vertrauen schutzwürdig, das Recht werde nicht mehr ausgeübt werden (BGH, Urteil vom 10.10.2017, XI ZR 393/16, Rn. 9 m. w. N.).
  106. Nach den vorgenannten Maßstäben fehlt es vorliegend bereits an einem maßgeblichen Zeitmoment. Dies ist jedenfalls nicht in dem Beginn des Einspruchsverfahrens von vor 10 Jahren zu sehen. Denn dafür, dass zum damaligen Zeitpunkt die angegriffene Ausführungsform bereits auf dem Markt verfügbar war und die Klägerin infolgedessen von dieser hätte Kenntnis erlangen können, sind Umstände weder vorgetragen noch ersichtlich. Vielmehr hat die Klägerin insoweit unwidersprochen vorgetragen, dass ihr die angegriffenen Waagen der Beklagten vor dem Jahr 2019 nicht bekannt gewesen seien.
  107. Der Umstand, dass die Klägerin die Beklagte als Wettbewerberin kennt und gemeinsam mit ihr am Markt tätig ist, genügt ebenfalls nicht, um ein Zeitmoment zu begründen. Denn insoweit besteht keine allgemeine Marktbeobachtungspflicht.
  108. Soweit die Klägerin zunächst gegen einige andere Wettbewerber vorgegangen ist, begründet dies auch kein für die Verwirkung erforderliches Umstandsmoment, denn es kann nicht erwartet werden, dass die Klägerin alle Wettbewerber gleichzeitig in Anspruch nimmt, zumal gerade unklar ist, ab wann genau die Beklagte die angegriffenen Waagen in der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich vertrieben hat.
  109. B.
    Für eine Aussetzung der Verhandlung besteht keine Veranlassung.
  110. I.
    Eine Aussetzung wegen eines gegen das Klagepatent anhängigen Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahrens kommt nur dann in Betracht, wenn ein Widerruf oder eine Vernichtung des Klageschutzrechtes nicht nur möglich, sondern mit (hinreichender) Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (vgl. BGH GRUR 2014, 1237, 1238 – Zugriffsrechte). Eine solche Wahrscheinlichkeit kann regelmäßig dann nicht angenommen werden, wenn der dem Klageschutzrecht entgegengehaltene Stand der Technik demjenigen entspricht, der bereits im Erteilungsverfahren oder in einem erfolglos durchgeführten Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren berücksichtigt worden ist. Gleiches gilt, wenn das Patent erstinstanzlich aufrechterhalten worden ist. Diese – unter Beteiligung technischer Fachleute zustande gekommene Entscheidung – hat das Verletzungsgericht aufgrund der gesetzlichen Kompetenzverteilung grundsätzlich hinzunehmen (Kühnen, Hdb. Patentverletzung, ebd. S. 905 Rn. 816).
  111. II.
    Die Kammer kann nicht feststellen, dass die Lehre des Klagepatents wegen fehlender erfinderischer Tätigkeit aufgrund der Entgegenhaltung NK 4 (Anlage B 5) nahegelegt ist.
  112. Die Entgegenhaltung beschreibt mit der als „soft key“ bezeichneten Taste einen Schalter in Form eines Touch Pads, der zum Einschalten der Waage dient. Selbst wenn man diesen Schalter als kapazitiven Näherungsschalter im Sinne des Klagepatents verstehen möchte – obwohl bei dem beschriebenen Schalter ein Elektronengitter verwendet wird – hat der Fachmann keinen Anlass diesen Schalter unterhalb der Tragplatte anzubringen. Denn ausgehend von der Entgegenhaltung befindet sich das Bedienfeld separat neben der Tragplatte.
  113. C.
    Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 269 Abs. 3 S. 2 Alt. 1, 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.
  114. D.
    Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 1 und S. 2 ZPO.
  115. E.
    Der Streitwert wird gemäß §§ 51 Abs. 1, 45 Abs. 1 Satz 3 GKG auf 500.000,00 Euro festgesetzt.

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