Düsseldorfer Entscheidungen Nr. 3298
Oberlandesgericht Düsseldorf
Urteil vom 23. Februar 2023, I-2 U 121/22
Vorinstanz: 4b O 55/22
- I. Die Berufung gegen das am 22.09.2022 verkündete Urteil der 4b Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf (Az.: 4b O 55/22) wird zurückgewiesen.
- II. Die Verfügungsklägerin hat auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
- III. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 5.000.000,- € festgesetzt.
- Gründe
- I.
- Die Verfügungsklägerin macht als eingetragene Inhaberin des deutschen Teils des europäischen Patents 2 653 XXA (nachfolgend: Verfügungspatent) wegen dessen Verletzung durch das von der Verfügungsbeklagten, einem Generikaunternehmen, vertriebene Arzneimittel „A“ (angegriffene Ausführungsform) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes einen Unterlassungsanspruch geltend.
- Das Verfügungspatent ist aus einer Teilanmeldung zu der dem europäischen Patent 2 137 XXB (nachfolgend: Stammpatent) zugrunde liegenden Anmeldung hervorgegangen und nimmt deren Anmeldetag vom 07.02.2008 sowie die Priorität der US 888XXC P vom 08.02.2007 in Anspruch. Der Hinweis auf die Erteilung des Verfügungspatents wurde – nachdem im Prüfungsverfahren Einwendungen Dritter berücksichtigt wurden – am 20.07.2022 veröffentlicht. Das Verfügungspatent ist in Kraft. Über den unter anderem von der Verfügungsbeklagten erhobenen Einspruch gegen das Verfügungspatent ist noch nicht entschieden.
- Die Ansprüche 1 und 5 des Verfügungspatents lauten in deutscher Übersetzung wie folgt:
- 1. Pharmazeutische Zusammensetzung zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei die Zusammensetzung Folgendes umfasst:
- (a) Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester und
(b) einen oder mehrere pharmazeutisch unbedenkliche Arzneimittelträger, - wobei die Zusammensetzung einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose oral zu verabreichen ist und wobei die zu verabreichende Dosis Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester 480 mg pro Tag beträgt.5. Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei der Fumarsäuredimethylester
oder Fumarsäuremonomethylester einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose mit einer Dosis von 480 mg pro Tag oral zu verabreichen ist. - Das Stammpatent wurde im Rahmen eines von zehn Einsprechenden geführten Einspruchsverfahrens mit Entscheidung vom 13.06.2016 von der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts widerrufen, weil es auch mit Blick auf die zuletzt gestellten Hilfsanträge an einer erfinderischen Tätigkeit fehle (schriftliche Begründung vorgelegt als Anlage rop 14, in deutscher Übersetzung als Anlage rop 14a; nachfolgend zitiert als „Einspruchsentscheidung“ nach Anlage rop 14a). Die dagegen gerichtete Beschwerde wies die Technische Beschwerdekammer mit Entscheidung vom 20.01.2022 zurück (schriftliche Begründung vorgelegt als Anlage rop 10, in deutscher Übersetzung als Anlage rop 10a; nachfolgend zitiert als „Entscheidung TBK“ nach Anlage rop 10a), weil der Gegenstand der Hilfsanträge über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinausgehe.
- Die Ansprüche 1 und 7 des Stammpatents in seiner erteilten Fassung lauten in deutscher Übersetzung wie folgt, wobei Abweichungen gegenüber dem Wortlaut der Ansprüche 1 und 5 des Verfügungspatents unterstrichen sind:
- 1. Pharmazeutische Zusammensetzung zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei die Zusammensetzung aus Folgendem besteht:
- (a) Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester und
(b) einen oder mehrere pharmazeutisch unbedenkliche Arzneimittelträger, - wobei die Zusammensetzung einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose oral zu verabreichen ist und wobei die zu verabreichende Dosis Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester 480 mg pro Tag beträgt.
- 7. Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei der Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester der einzige zu verabreichende, neuroprotektive Bestandteil ist, wobei der Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose mit einer Dosis von 480 mg pro Tag oral zu verabreichen ist.
- Das Landgericht hat den Antrag der Verfügungsklägerin auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückgewiesen, da der Rechtsbestand des Verfügungspatents nicht in dem erforderlichen Umfang gesichert sei und es daher an einem Verfügungsgrund fehle. Mit der das Stammpatent betreffenden Entscheidung der Einspruchsabteilung einerseits und der Erteilung des Verfügungspatents andererseits lägen relevante Entscheidungen von Fachinstanzen vor, die in einem unauflösbaren Widerspruch zueinander stünden. Es könne zwar zugunsten der Verfügungsklägerin unterstellt werden, dass ein sogenannter Generikafall vorliege, womit der Erlass einer einstweiligen Verfügung trotz der sich widersprechenden Entscheidungen geboten sei, wenn sich die Kammer selbst eine hinreichende Überzeugung vom Rechtsbestand des Verfügungspatents bilden könne. Dies sei jedoch nicht der Fall.
- Hiergegen wendet sich die Verfügungsklägerin mit ihrer Berufung.
- Von einer weitergehenden Darstellung des Sachverhaltes wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1, 542 Abs. 2 S. 1 ZPO abgesehen.
- II.
- Die zulässige Berufung der Verfügungsklägerin hat keinen Erfolg.
- Zu Recht hat das Landgericht den Antrag der Verfügungsklägerin auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückgewiesen. Der Erlass der begehrten Unterlassungsanordnung ist schon deshalb nicht gerechtfertigt, weil es angesichts des nicht hinreichend gesicherten Rechtsbestands an einem Verfügungsgrund fehlt.
- 1.
Das Verfügungspatent betrifft Zusammensetzungen und deren Verwendung zur Behandlung von Multipler Sklerose. - Multiple Sklerose (MS) ist, wie das Verfügungspatent in seiner einleitenden Beschreibung schildert, eine Autoimmunerkrankung, bei der die Autoimmunaktivität gegen Antigene des Zentralen Nervensystems (ZNS) gerichtet ist. Entzündungen in Teilen des ZNS führen zum Verlust der Myelinscheide um die Nervenfasern (Demyelinisierung), zum Verlust von Nervenfasern und schließlich zum Tod von Neuronen, Oligodenrozyten und Gliazellen. Bei MS handelt es sich um eine chronische, fortschreitende, behindernde Krankheit, an der weltweit schätzungsweise 2,5 Mio. Menschen leiden. Die Diagnose wird in der Regel im Alter zwischen 20 und 40 Jahren gestellt, wobei auch ein früherer Beginn möglich ist. MS ist nicht vererbbar, eine genetische Anfälligkeit spielt aber bei der Entwicklung eine Rolle. Die schubförmig remittierende MS äußert sich durch wiederkehrende Schübe mit fokalen oder multifokalen neurologischen Störungen. Die Schübe können scheinbar zufällig über viele Jahre hinweg auftreten, remittieren und wiederkehren. Wenn eine Attacke auf die nächste folgt, kommt es, weil die Remission oft unvollständig ist, zu einer schrittweisen Verschlechterung mit zunehmenden permanenten neurologischen Defiziten.
- Verschiedene immuntherapeutische Medikamente können, so das Verfügungspatent weiter, MS-Patienten Linderung verschaffen. Es ist allerdings keines dieser Medikamente in der Lage, das Fortschreiten der Krankheit aufzuhalten, und einige können schwerwiegende unerwünschte Wirkungen verursachen. Die meisten der derzeitigen Therapien zielen auf die Verringerung der Entzündung und die Unterdrückung oder Modulation des Immunsystems. Die verfügbaren Behandlungen (Stand 2006) verringern die Entzündung und die Zahl der neuen Schübe, nicht alle haben jedoch Auswirkungen auf das Fortschreiten der Krankheit. Einige klinische Studien haben gezeigt, dass die Unterdrückung von Entzündungen bei chronischer MS nur selten die Akkumulation von Behinderungen durch ein anhaltendes Fortschreiten der Krankheit begrenzt. Dies deutet darauf hin, dass neuronale Schäden und Entzündungen unabhängige Pathologien sind. Einige der wichtigsten Ziele für die Behandlung von MS sind die Förderung von Remyelinisierung des ZNS als Reparaturmechanismus und die Verhinderung von axonalem Verlust und neuronalem Absterben.
- Sodann erläutert das Verfügungspatent, dass „Phase-2-Enzyme“ in Säugetierzellen als Schutzmechanismus gegen Sauerstoff-/Stickstoffspezies (ROS/RNS), Elektrophile und Xenobiotika dienen. Die Expression dieser normalerweise nicht in ihrem maximalen Umfang exprimierten Enzyme kann durch eine Vielzahl natürlicher und synthetischer Stoffe induziert werden. Der Nuklearfaktor E2-verwandte Faktor 2 (Nrf2) ist ein Transkriptionsfaktor, der für die Induktion einer Vielzahl wichtiger oxidationshemmender und entgiftender Enzyme verantwortlich ist.
- ROS/RNS sind am schädlichsten im Gehirn und im neuronalen Gewebe, wo sie post-mitotische (d.h. sich nicht teilende) Zellen wie Gliazellen, Oligodendozyten und Neuronen – die besonders empfindlich auf freie Radikale reagieren – angreifen, was zu neuronalen Schäden führt. Das Verfügungspatent schildert verschiedene Beobachtungen und Erkenntnisse aus dem Stand der Technik. Diese deuten unter anderem darauf hin, dass der Nrf2-Signalweg bei neurodegenerativen und neuroinflammatorischen Erkrankungen als körpereigener Schutzmechanismus aktiviert werden könnte. Es wurde zudem berichtet, dass die induzierte Aktivierung von Nrf2-abhängigen Genen durch bestimmte Cyclopenanon-basierte Verbindungen (NEPP) den toxischen Wirkungen der Stoffwechselhemmung der ROS/RNS-Produktion im Gehirn entgegenwirkt und die Neuronen in vitro und in vivo vor dem Tod schützt. Neue Erkenntnisse deuten ferner darauf hin, dass die neuroprotektiven Wirkungen von Verbindungen in natürlichen pflanzlichen Stoffen, die ursprünglich auf ihre antioxidativen Eigenschaften zurückgeführt wurden, durch die Aktivierung zellulärer Stressreaktionswege, einschließlich des Nrf2-Signalwegs, ausgeübt werden, was zu einer Hochregulierung von neuroprotektiven Genen führt. Der genaue Wirkmechanismus dieser Verbindungen wird allerdings weiterhin nur unzureichend verstanden. Bis heute wurden mehr als zehn verschiedene chemische Klassen von Induktoren des Nrf2-Signalwegs identifiziert.
- Das Verfügungspatent würdigt eine Veröffentlichung mit dem Titel „C“ von B., welche über die Ergebnisse einer Phase II b-Studie berichtet, in der die Wirksamkeit von drei Dosierungen (120 mg/Tag, 360 mg/Tag, 720 mg/Tag) berichtet wurde. Es wurde, so das Verfügungspatent, festgestellt, dass BG00012 (= DMF) in einer Dosierung von 720 mg/Tag (240 mg tid) die Aktivität der im MRT nachweisbaren Hirnläsionen bei RRMS-Patienten signifikant reduziert.
- Eine Aufgabenstellung benennt das Verfügungspatent nicht ausdrücklich. Den Absätzen [0001] und [0010] lässt sich jedoch entnehmen, dass das Verfügungspatent diese in der Bereitstellung einer Behandlung von MS sieht (vgl. Einspruchsentscheidung, S. 31, Ziff. 8.1). Die Einspruchsabteilung sieht, was noch näher zu erläutern sein wird, die objektive Aufgabenstellung des Stammpatents darin, eine alternative Tagesdosis von DMF (oder MMF) für die wirksame orale Behandlung von MS bereitzustellen (vgl. Einspruchsentscheidung, S. 31, Ziff. 8.6.1).
- Zur Lösung der Problemstellung sieht Patentanspruch 1 eine Kombination der folgenden Merkmale vor:
- 1. Pharmazeutische Zusammensetzung zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, die Folgendes umfasst:
- 1.1. Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester und
- 1.2. einen oder mehrere pharmazeutisch unbedenkliche Arzneimittelträger.
- 2. Die Zusammensetzung ist einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose oral zu verabreichen.
- 3. Die zu verabreichende Dosis Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester beträgt 480 mg pro Tag.
- Patentanspruch 5 lässt sich in die folgenden Merkmale gliedern:
- 1. Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose.
- 2. Der Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester ist einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose mit einer Dosis von 480 mg oral zu verabreichen.
- Eine Zusammensetzung nach Anspruch 1 des Verfügungspatents beinhaltet somit neben einem pharmazeutisch unbedenklichen Arzneimittelträger entweder Fumarsäuredimethylester (DMF) oder Fumarsäuremonomethylester (MMF). Sie ist, wie der Fachmann dem Wortlaut „Zusammensetzung, … die umfasst“ – in der nach Art. 70 Abs. 1 EPÜ maßgeblichen englischen Verfahrenssprache: „composition comprising“ – entnimmt, aber nicht auf DMF oder MMF als alleinigen Wirkstoff beschränkt, sondern kann daneben auch weitere Wirkstoffe enthalten. Anspruch 5 des Verfügungspatents beansprucht DMF oder MMF zur Verwendung bei der Behandlung von MS, wobei es sich mangels einer einschränkenden Vorgabe ebenfalls nicht um den einzigen Wirkstoff handeln muss. Eine Beschränkung auf DMF oder MMF als einzigem zu verabreichenden Neuroprotektivum enthalten erst die Untersprüche 6 bis 8 des Verfügungspatents.
- Hingegen ist Anspruch 1 des (rechtskräftig widerrufenen) Stammpatents nach dem insoweit abweichenden Wortlaut „wobei die Zusammensetzung aus Folgendem besteht“ („the composition consisting of“) in seiner erteilten Fassung auf DMF oder MMF als einzigen Wirkstoff beschränkt (sog. Monotherapie). Anspruch 1 des Stammpatents schließt somit aus, dass neben DMF oder MMF weitere Wirkstoffe vorhanden sind, z.B. Wirkstoffe, die zur Behandlung der MS nach demselben oder einem anderen Wirkmechanismus geeignet sind (vgl. Entscheidung TBK, S. 9, Ziff. 4.1). Entsprechendes gilt für Anspruch 7 des Stammpatents, der ebenfalls auf DMF oder MMF als einzigem zu verabreichenden Neuroprotektivum beschränkt ist.
- Darüber hinaus gehende Unterschiede zwischen den Ansprüchen 1 und 5 des Verfügungspatents auf der einen und den Ansprüchen 1 und 7 des Stammpatents auf der anderen Seite bestehen – worüber zwischen den Parteien zu Recht Einigkeit herrscht – nicht.
- 2.
Es fehlt an dem erforderlichen Verfügungsgrund, weil der Rechtsbestand des Verfügungspatents nicht in dem für den Erlass einer einstweiligen Verfügung erforderlichen Umfang gesichert ist. - a)
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats (InstGE 9, 140 – Olanzapin; InstGE 12, 114 – Harnkatheterset; GRUR-RR 2011, 81, 82 – Gleitsattel-Scheibenbremse II; Urt. v. 06.12.2012, Az.: I-2 U 46/12, BeckRS 2013, 13744; GRUR-RR 2013, 236, 239 f. – Flupirtin-Maleat; Urt. v. 07.11.2013, Az.: I-2 U 94/12, GRUR-RS 2014, 04902 – Desogestrel; Urt. v. 18.12.2015, Az.: I-2 U 35/15, GRUR-RS 2016, 6208 Rn. 18 – diagnostisches Verfahren; Urt. v. 31.08.2017, Az.: I-2 U 11/17, BeckRS 2017, 125974 Rn. 48; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 12 – Kombinationszusammensetzung; Urt. v. 26.09.2019, Az.: I-2 U 28/19, GRUR-RS 2019, 33227 = GRUR-RR 2020, 240 [Ls.] – MS-Therapie; GRUR-RR 2021, 249, 250 – Cinacalcet II; GRUR-RR 2021, 400, 402 – MS-Therapie II), dass der Erlass einer einstweiligen Verfügung insbesondere auf Unterlassung nur in Betracht kommt, wenn sowohl die Frage der Patentverletzung als auch der Bestand des Verfügungsschutzrechts im Ergebnis so eindeutig zugunsten des Verfügungsklägers zu beantworten sind, dass eine fehlerhafte, in einem etwa nachfolgenden Hauptsacheverfahren zu revidierende Entscheidung nicht ernstlich zu erwarten ist. Davon kann – angesichts der anhaltend hohen Widerrufs- und Vernichtungsquote erteilter Patente, nach der sich von 10 mit einem Einspruch oder einer Nichtigkeitsklage angegriffenen Schutzrechten nur etwa 3 im erteilten Umfang als rechtsbeständig erweisen (vgl. die Nachweise bei Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 15. Aufl., Kap. G Rn. 57) – regelmäßig nur ausgegangen werden, wenn das Verfügungspatent bereits ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat (Senat, InstGE 9, 140, 146 – Olanzapin; InstGE 12, 114 – Harnkatheterset; GRUR-RR 2011, 81, 82 – Gleitsattel-Scheibenbremse II; Urt. v. 07.11.2013, Az.: I-2 U 94/12, GRUR-RS 2014, 04902 – Desogestrel; Urt. v. 18.12.2014, Az.: I-2 U 60/14, BeckRS 2015, 01829 Rn. 17; Urt. v. 18.12.2015, Az.: I-2 U 35/15, GRUR-RS 2016, 6208 Rn. 18 – diagnostisches Verfahren; Urt. v. 31.08.2017, Az.: I-2 U 11/17, BeckRS 2017, 125974 Rn. 48; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 12 – Kombinationszusammensetzung; Urt. v. 26.09.2019, Az.: I-2 U 28/19, GRUR-RS 2019, 33227 = GRUR-RR 2020, 240 [Ls.] – MS-Therapie; GRUR-RR 2021, 249, 250 – Cinacalcet II GRUR-RR 2021, 400, 402 – MS-Therapie II). Um ein Verfügungsschutzrecht für ein einstweiliges, die Hauptsache vorwegnehmendes Verfügungsverfahren tauglich zu machen, bedarf es deshalb grundsätzlich einer positiven Entscheidung der dafür zuständigen, mit technischer Sachkunde ausgestatteten Einspruchs- oder Nichtigkeitsinstanzen. Ob sich an der Zulässigkeit dieser Handhabung durch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-44/21 (GRUR 2022, 811 – Phoenix Contact/Harting) etwas geändert hat (vgl. Kühnen, a.a.O., Rn. 81 ff; Deichfuß, GRUR 2022, 800; Keßler/Palzer, EuZW 2022, 562; Stierle, Mitt 2022, 277), bedarf im Streitfall keiner Entscheidung, weil sich der Erlass einer einstweiligen Unterlassungsverfügung – wie sogleich darzulegen sein wird – vorliegend ohne Rücksicht auf einen etwaigen Vorrang einer fachkundigen Rechtsbestandsentscheidung zum Verfügungspatent verbietet. - Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats kann von dem Erfordernis einer dem Verfügungskläger günstigen kontradiktorischen Rechtsbestandsentscheidung in Sonderfällen abgesehen werden. Dies gilt beispielsweise dann, wenn sich der Verfügungsbeklagte (oder ein anderer ernstzunehmender Wettbewerber) bereits mit eigenen Einwendungen am Erteilungsverfahren beteiligt hat, so dass die Patenterteilung sachlich der Entscheidung in einem zweiseitigen Einspruchsverfahren gleichsteht, wenn ein Rechtsbestandsverfahren deshalb nicht durchgeführt worden ist, weil das Verfügungsschutzrecht allgemein als schutzfähig anerkannt wird (was sich durch das Vorhandensein namhafter Lizenznehmer oder dergleichen widerspiegelt), wenn sich die Einwendungen gegen den Rechtsbestand des Verfügungsschutzrechts schon bei der dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren eigenen summarischen Prüfung als haltlos erweisen oder wenn (z. B. mit Rücksicht auf die Marktsituation oder die aus der Schutzrechtsverletzung drohenden Nachteile) außergewöhnliche Umstände gegeben sind, die es für den Verfügungskläger ausnahmsweise unzumutbar machen, den Ausgang des Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahrens abzuwarten (vgl. Senat, InstGE 12, 114, 121 – Harnkatheterset; Urt. v. 07.11.2013, Az.: I-2 U 94/12, GRUR-RS 2014, 04902 – Desogestrel; GRUR-RR 2013, 236, 240 – Flupirtin-Maleat; Urt. v. 18.12.2015, Az.: I-2 U 35/15, GRUR-RS 2016, 6208 Rn. 19 – diagnostisches Verfahren; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 12 – Kombinationszusammensetzung).
- Ein solcher Sachverhalt liegt regelmäßig bei Verletzungshandlungen von Generikaunternehmen vor. Während der von ihnen angerichtete Schaden im Falle einer späteren Aufrechterhaltung des Patents vielfach enorm und (mit Rücksicht auf den durch eine entsprechende Festsetzung von Festbeträgen verursachten Preisverfall) nicht wiedergutzumachen ist, hat eine (wegen späterer Vernichtung des Patents) unberechtigte Verfügung lediglich zur Folge, dass das Generikaunternehmen vorübergehend zu Unrecht vom Markt ferngehalten wird, was durch entsprechende Schadenersatzansprüche gegen den Patentinhaber vollständig ausgeglichen werden kann. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass das Generikaunternehmen für seine Marktpräsenz im Allgemeinen keine eigenen wirtschaftlichen Risiken eingeht (weil das Präparat dank des Patentinhabers medizinisch hinreichend erprobt und am Markt etabliert ist). Es hat deswegen eine Verbotsverfügung zu ergehen, auch wenn für das Verletzungsgericht mangels einer fachkundigen Rechtsbestandsentscheidung keine endgültige und eindeutige Sicherheit über den Rechtsbestand gewonnen werden kann, sofern das Verletzungsgericht (aufgrund der ihm angesichts der betroffenen technischen Materie möglichen eigenen Einschätzung) für sich die Überzeugung (im Sinne hinreichender Glaubhaftmachung) davon gewinnt, dass das Verfügungsschutzrecht rechtsbeständig ist, weil sich die mangelnde Patentfähigkeit seines Erfindungsgegenstandes nicht feststellen lassen wird. Hierfür müssen aus der Sicht des Verletzungsgerichts entweder die besseren Argumente für die Patentfähigkeit sprechen, so dass sich diese positiv bejahen lässt, oder es muss (mit Rücksicht auf die im Rechtsbestandsverfahren geltende Beweislastverteilung) die Frage der Patentfähigkeit mindestens ungeklärt bleiben, so dass das Verletzungsgericht, wenn es anstelle des Patentamtes oder des BPatG in der Sache selbst zu befinden hätte, dessen Rechtsbestand zu bejahen hätte (Senat, GRUR-RR 2013, 236, 240 – Flupirtin-Maleat; Urt. v. 07.11.2013, Az.: I-2 U 94/23, GRUR-RS 2014, 04902 – Desogestrel; Urt. v. 19.02.2016, Az.: I-2 U 54/15, BeckRS 2016, 6344 Rn. 13; Urt. v. 14.12.2017; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 12 – Kombinationszusammensetzung; GRUR-RR 2021, 249, 252 – Cinacalcet II; GRUR-RR 2021, 400, 403 – MS-Therapie II).
- Aus der regelmäßigen Notwendigkeit einer positiven streitigen Rechtsbestandsentscheidung folgt umgekehrt aber auch, dass, sobald sie vorliegt, prinzipiell von einem ausreichend gesicherten Bestand des Verfügungspatents auszugehen ist (Senat, Urt. v. 19.02.2016, Az.: I-2 U 54/15, BeckRS 2016, 6344 Rn. 12; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 12 – Kombinationszusammensetzung; Urt. v. 26.09.2019, Az.: I-2 U 28/19, GRUR-RS 2019, 33227 = GRUR-RR 2020, 240 [Ls.] – MS-Therapie; GRUR-RR 2021, 249, 251 – Cinacalcet II). Das Verletzungsgericht hat – ungeachtet seiner Pflicht, auch nach erstinstanzlichem Abschluss eines Rechtsbestandsverfahrens selbst ernsthaft die Erfolgsaussichten der dagegen gerichteten Angriffe zu prüfen, um sich in eigener Verantwortung ein Bild von der Schutzfähigkeit der Erfindung zu – grundsätzlich die von der zuständigen Fachinstanz (DPMA, EPA, BPatG) nach technisch sachkundiger Prüfung getroffene Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Verfügungspatents hinzunehmen und, sofern im Einzelfall keine besonderen Umstände vorliegen, die gebotenen Schlussfolgerungen zu ziehen, indem es zum Schutz des Patentinhabers die erforderlichen Unterlassungsanordnungen trifft (Senat, Urt. v. 19.02.2016, Az.: I-2 U 54/15, BeckRS 2016, 6344 Rn. 12; Urt. v. 14.12.2017; Urt. v. 26.09.2019, Az.: I-2 U 28/19, GRUR-RS 2019, 33227 = GRUR-RR 2020, 240 [Ls.] – MS-Therapie; GRUR-RR 2021, 249, 251 – Cinacalcet II). Grund, die Rechtsbestandsentscheidung in Zweifel zu ziehen und von einem Unterlassungsgebot abzusehen, besteht nur dann, wenn das Verletzungsgericht die Argumentation der Einspruchs- oder Nichtigkeitsinstanz für nicht vertretbar hält oder wenn der mit dem Rechtsbehelf gegen die Einspruchs- oder Nichtigkeitsentscheidung unternommene Angriff auf das Verfügungspatent auf (z.B. neue) erfolgversprechende Gesichtspunkte gestützt wird, die die bisher mit der Sache befassten Stellen noch nicht berücksichtigt und beschieden haben (Senat, Urt. v. 06.12.2012, Az.: I-2 U 46/12, BeckRS 2013, 13744; GRUR-RR 2021, 249, 251 f. – Cinacalcet II). Demgegenüber ist es für den Regelfall nicht angängig, den Verfügungsantrag trotz erstinstanzlich aufrechterhaltenen Schutzrechts allein deshalb zurückzuweisen, weil das Verletzungsgericht seine eigene (laienhafte) Bewertung des technischen Sachverhaltes an die Stelle der Beurteilung durch die zuständige Einspruchs- oder Nichtigkeitsinstanz setzt (Senat, Urt. v. 18.12.2014, Az.: I–2 U 60/14, BeckRS 2015, 01829 Rn. 17; Urt. v. 19.02.2016, Az.: I-2 U 54/15, BeckRS 2016, 6344 Rn. 12; Urt. v. 14.12.2017; GRUR-RR 2021, 249, 252 – Cinacalcet II). Solches verbietet sich ganz besonders dann, wenn es sich um eine technisch komplexe Materie (z.B. aus dem Bereich der Chemie oder Elektronik) handelt, in Bezug auf die die Einsichten und Beurteilungsmöglichkeiten des technisch nicht vorgebildeten Verletzungsgerichts von vornherein limitiert sind.
- Ein verantwortungsvoller Umgang mit dem den Antragsgegner im Zweifel nachhaltig belastenden Mittel der Unterlassungsverfügung verlangt – umgekehrt – aber auch, dass das Vorliegen einer negativen streitigen Rechtsbestandsentscheidung die Annahme eines gesicherten Rechtsbestandes in der Regel ausschließt. So ist der Verfügungsgrund in aller Regel zu verneinen, wenn eine erstinstanzliche Entscheidung ergangen ist, die das Patent widerrufen oder für nichtig erklärt hat (Senat, InstGE 9, 140 – Olanzapin; InstGE 12, 114 – Harnkatheterset; Urt. v. 31.08.2017, Az.: I-2 U 11/17, BeckRS 2017, 125974 Rn. 50). Auch wenn ein Vorbescheid die Vernichtung oder eine aus der Benutzung hinausführende Beschränkung des Verfügungspatents in Aussicht stellt, wird sich das Verletzungsgericht mangels überlegener eigener technischer Sachkunde im Zweifel keine Überzeugung vom Rechtsbestand bilden können (Senat, GRUR-RR 2021, 249, 252 f. – Cinacalcet II; Urt. v. 04.03.2021, Az.: I-2 U 32/20, GRUR-RS 2021, 4506 Rn. 10 – Cinacalcet III; vgl. auch Urt. v. 26.09.2019, Az.: I-2 U 28/19, GRUR-RS 2019, 33227 Rn. 52 = GRUR-RR 2020, 240 [Ls.] – MS-Therapie). Dies gilt in gleicher Weise bei einer Rechtsbestandsentscheidung bezogen auf ein Stamm- oder Parallelpatent, wenn sich deren zur Schutzrechtsvernichtung führende Argumentation auf das Verfügungsschutzrecht übertragen lässt (vgl. Senat, Urt. v. 26.09.2019, Az.: I-2 U 28/19, GRUR-RS 2019, 33227 Rn. 52 = GRUR-RR 2020, 240 [Ls.] – MS-Therapie).
- b)
Davon ausgehend ist der Rechtsbestand des Verfügungspatents nicht in dem für den Erlass einer einstweiligen Verfügung ausreichenden Maße gesichert. - aa)
Es ist zwar zunächst festzustellen, dass eine Konstellation vorliegt, in der nach den dargestellten Maßstäben von dem Erfordernis einer positiven streitigen Rechtsbestandsentscheidung abgesehen werden kann. Denn die Entscheidung über die Erteilung des Verfügungspatents ist – (1) – unter Beteiligung Dritter ergangen und es handelt sich – (2) – unabhängig davon, dass die angegriffene Ausführungsform zum Zeitpunkt der Erteilung des Verfügungspatents bereits auf dem Markt war, um einen Generikafall im Sinne der oben dargestellten Grundsätze. Beide Gesichtspunkte suspendieren von dem Erfordernis einer positiven streitigen Rechtsbestandsentscheidung. - Dem Erlass einer vorläufigen Unterlassungsverfügung steht jedoch die Entscheidung der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts entgegen, mit der diese das zum Verfügungspatent weitestgehend inhaltsgleiche und wegen der Wirkstoffbegrenzung sogar enger gefasste Stammpatent widerrufen hat, was erwarten lässt, dass sich das Verfügungspatent im bereits laufenden Einspruchsverfahren gleichfalls als nicht rechtsbeständig erweisen wird.
- Bei der Einspruchsabteilung handelt es sich um einen im Vergleich zur Prüfungsabteilung höherrangigen, im Instanzenzug übergeordneten Spruchkörper, weshalb sich nicht die Entscheidungen zweier mindestens gleichrangiger Spruchkörper (gleichwertig) gegenüberüberstehen. Vielmehr liegt mit der Entscheidung der Einspruchsabteilung zum Stammpatent eine in einem kontradiktorischen Verfahren ergangene negative Rechtsbestandsentscheidung eines technisch fachkundigen Spruchkörpers vor, die – sofern sie auf das Verfügungspatent übertragbar ist und durch die nachfolgende Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer nicht in Frage gestellt wird – die Annahme eines gesicherten Rechtsbestandes regelmäßig ausschließt. Grund, die Entscheidung der Einspruchsabteilung in Frage zu stellen, besteht unter diesen Voraussetzungen nicht schon dann, wenn anstelle der Argumentation der Rechtsbestandsentscheidung mit ebenso oder wenigstens auch vertretbaren Erwägungen andere Schlussfolgerungen und damit verbunden eine andere Entscheidung möglich wären, sondern nur dann, wenn der Senat die Argumentation für nicht vertretbar hält oder wenn dem Einspruch gegen das Verfügungspatent (z.B. neue) erfolgversprechende Gesichtspunkte entgegengehalten werden, die die Einspruchsabteilung noch nicht berücksichtigt und beschieden hat. Dies gilt unabhängig davon, ob die mit dem Verfügungspatent befasste Einspruchsabteilung in derselben personellen Besetzung entscheiden wird, die über den Einspruch gegen das Stammpatent befunden hat.
- Eine andere Sichtweise ist nicht deshalb geboten, weil der Erteilung des Verfügungspatents ausnahmsweise ein besonderes Gewicht beizumessen wäre. Die Verfügungsklägerin beruft sich insoweit darauf, dass die – sechs Jahre nach der Entscheidung der Einspruchsabteilung und unter Beteiligung eines ihrer Mitglieder als Prüferin erfolgte – Erteilung des Verfügungspatents aufgrund einer ausführlichen mündlichen Verhandlung und unter Berücksichtigung sowohl der Entscheidung der Einspruchsabteilung als auch des zwischenzeitlichen Vorbringens aller Beteiligten, darunter sie selbst, ergangen sei. Die Erteilung des Verfügungspatents aus diesen Gründen als der Entscheidung der Einspruchsabteilung gleichwertig zu behandeln, scheidet indes schon deshalb aus, weil weder über den Inhalt der nicht öffentlichen mündlichen Verhandlung noch über die Erwägungen der Prüfungsabteilung, die der Erteilung des Verfügungspatents zugrunde lagen, etwas Stichhaltiges bekannt ist. In einer Mitteilung der Prüfungsabteilung aus dem Juni 2022 (Anlage rop 13) heißt es hierzu lediglich ganz pauschal:
- „The arguments provided in the TIPAs in relation to Art. 56 EPC relate to the parent application. The present divisional application is a new application, independent from the parent. The arguments provided by the OD in relation to the parent have been considered and found that are not applicable to the present divisional.“
- In deutscher Übersetzung:
- „Die in den Einwendungen Dritter (TIPAs) vorgebrachten Argumente in Bezug auf Art. 56 EPÜ beziehen sich auf die Stammanmeldung. Die vorliegende Teilanmeldung ist eine neue Anmeldung, unabhängig von der Stammanmeldung. Die von der Einspruchsabteilung in Bezug auf die Stammanmeldung vorgebrachten Argumente wurden berücksichtigt und als auf die vorliegende Teilanmeldung nicht anwendbar befunden.“
- In welchem Umfang die Prüfungsabteilung die ihr zur Verfügung stehenden Tatsachen berücksichtigt hat und aus welchen genauen (den Erwägungen der Einspruchsentscheidung entgegenstehenden) Gründen sie zu der Auffassung gelangt ist, die sich auf die Stammanmeldung beziehenden Argumente seien auf die Teilanmeldung, aus der das Verfügungspatent hervorgegangen ist, „nicht anwendbar“, lässt sich daraus nicht entnehmen. Soweit die Verfügungsklägerin lediglich pauschal und ohne nähere Substantiierung vorträgt, sie habe mit ihrer Argumentation im Erteilungsverfahren zum Verfügungspatent die Prüfungsabteilung davon überzeugt, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung nicht nur überholt, sondern auch falsch sei, findet sich diese Sichtweise in der knappen Mitteilung der Prüfungsabteilung jedenfalls nicht wieder. Auch im Übrigen gibt der Sachvortrag der Verfügungsklägerin nicht konkret Aufschluss darüber, mit welchen Argumenten die Schlussfolgerungen der Einspruchsabteilung bei der Erteilung des Verfügungspatents für nicht tragfähig erachtet worden sind. Sollte die Prüfungsabteilung sich hierzu nicht gegenüber den Beteiligten verhalten haben, wäre der Verfügungsklägerin zwar nicht der Vorwurf mangelnden Sachvortrages zu machen; für den Senat bliebe es aber dabei, dass der Einspruchsentscheidung aufgrund der übergeordneten Stellung des Spruchkörpers im Instanzenzug ein prinzipiell höheres Gewicht beizumessen ist und es dabei so lange zu verbleiben hat, bis konkret nachvollziehbar ist, aufgrund welcher Erwägungen die Prüfungsabteilung ihr nicht gefolgt ist. Erst wenn diesbezüglich Klarheit herrscht, wäre der Senat in der Lage nachzuvollziehen, ob die abweichende Betrachtung der Prüfungsabteilung in einem Maße überzeugend ist, dass ihr – ausnahmsweise – der Vorrang vor der Einspruchsentscheidung einzuräumen ist, weil sich voraussichtlich auch die Einspruchsabteilung in ihrer künftigen Entscheidung über den Rechtsbestand des Verfügungspatents der Beurteilung der Prüfungsabteilung nicht verschließen können wird.
- Auch aus der teilweisen personellen Identität von Prüfungs- und Einspruchsabteilung lässt sich eine besondere Bedeutsamkeit des Erteilungsakts nicht ableiten. Der Vorrang der Einspruchsentscheidung beruht nämlich nicht auf einer überlegenen Sachkunde derjenigen Individuen, die die Entscheidung getroffen haben, sondern auf der organisatorischen Überordnung des Entscheidungsspruchkörpers im Instanzenzug.
- Soweit sich die Verfügungsklägerin auf eine aus der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-44/21 (GRUR 2022, 811 – Phoenix Contact/Harting) abzuleitende Vermutung der Rechtsbeständigkeit des Verfügungspatents beruft, folgt daraus ebenfalls nichts anderes. Selbst wenn eine solche Vermutung bestünde, wäre sie durch den rechtskräftigen Widerruf des Stammpatents widerlegt und führte sie überdies nicht dazu, die ohne dokumentierte Begründung ergangene Erteilungsentscheidung in ihrem Rang und ihrer Aussagekraft den ausführlichen Erwägungen der Einspruchsabteilung gleichzusetzen oder gar vorzuziehen. Weitere Ausführungen zu etwaigen aus der genannten Entscheidung zu ziehenden Schlussfolgerungen erübrigen sich, nachdem, wie dargestellt, eine Konstellation vorliegt, in der von dem Erfordernis einer kontradiktorischen Rechtsbestandsentscheidung nach der dargestellten Senatsrechtsprechung ohnehin abzusehen ist.
- bb)
Dies vorausgeschickt, steht die Entscheidung der Einspruchsabteilung zum Stammpatent der Annahme eines gesicherten Rechtsbestands des Verfügungspatents entgegen. Denn sie ist auf das Verfügungspatent übertragbar, wird durch die nachfolgende Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer nicht in Frage gestellt und erscheint zudem weder aus Gründen, die der Senat selbst feststellen kann, als nicht vertretbar, noch werden dem Einspruch gegen das Verfügungspatent (z.B. neue) erfolgversprechende Gesichtspunkte entgegengehalten, die die Einspruchsabteilung nicht berücksichtigt und beschieden hat. Aus seiner – notwendigerweise technisch laienhaften – Sicht hält der Senat die Erwägungen der Einspruchsabteilung darüber hinaus sogar nicht bloß für lediglich vertretbar, sondern für inhaltlich überzeugend und würde deshalb die Entscheidung, hätte er über den Rechtsbestand des Verfügungspatents zu entscheiden, genauso wie die Einspruchsabteilung zum Stammpatent treffen. Der Senat teilt daher die Auffassung des Landgerichts, dass das Verfügungspatent in dem anhängigen Einspruchsverfahren voraussichtlich keinen Bestand haben wird. - (1)
Dass die Erwägungen der Einspruchsabteilung auf die Lehre des Verfügungspatents übertragbar sind, stellt auch die Verfügungsklägerin zu Recht nicht in Abrede. Der einzige Unterschied zwischen den in Rede stehenden Ansprüchen 1 und 5 des Verfügungspatents sowie den Ansprüchen 1 und 7 des Stammpatents besteht – wie erörtert – darin, dass das Stammpatent auf DMF oder MMF als Wirkstoff bzw. Neuroprotektivum beschränkt ist, während das Verfügungspatent das Vorhandensein weiterer Wirkstoffe zulässt. Das widerrufene Stammpatent ist damit gegenüber dem Verfügungspatent sogar enger gefasst und der diesem entgegengehaltene Stand der Technik auf das Verfügungspatent deshalb erst recht anwendbar. - (2)
Die Entscheidung der Einspruchsabteilung wird durch die nachfolgende Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer nicht in Frage gestellt. Zwar hat die Technische Beschwerdekammer den von der Einspruchsabteilung angenommenen Widerrufsgrund der fehlenden erfinderischen Tätigkeit nicht geprüft, sondern die Beschwerde aus einem anderen Grund – unzulässige Erweiterung (Art. 123 Abs. 2 EPÜ) – zurückgewiesen. Hinweise darauf, dass die Bewertung der Einspruchsabteilung aus Sicht der Technischen Beschwerdekammer unzutreffend war, ergeben sich daraus indes nicht. Wie auch das Landgericht ausgeführt hat, handelt es sich bei der unzulässigen Erweiterung um einen selbstständigen, zum Widerruf führenden Einspruchsgrund (Art. 101 Abs. 1 S. 1, Art. 100 lit. c) EPÜ), der logisch prinzipiell vorrangig ist (weil sich die Frage von Neuheit und Erfindungshöhe sinnvoll erst mit Blick auf eine rechtlich zulässige Anspruchsfassung stellen und beantworten lässt) und dessen Vorliegen weitere Ausführungen entbehrlich macht. In der mündlichen Verhandlung vor der Technischen Beschwerdekammer ist, wie die Verfügungsklägerin unwidersprochen vorgetragen hat, die Frage der erfinderischen Tätigkeit dementsprechend nicht mehr erörtert worden. - Ob sich der Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer umgekehrt Hinweise darauf entnehmen lassen, dass der Widerrufsgrund der unzulässigen Erweiterung auch für das Verfügungspatent relevant sein könnte, kann – nachdem die unzulässige Erweiterung teilweise mit der Beschränkung des Stammpatents auf DMF oder MMF als einzigen Wirkstoff begründet wird und sich die Ausführungen damit jedenfalls nicht vollumfänglich übertragen lassen – offenbleiben.(3)
Auch angesichts der Einwände der Verfügungsklägerin vermag der Senat nicht festzustellen, dass die Bewertung der Einspruchsabteilung nicht vertretbar wäre, die in Bezug auf das Stammpatent – ausgehend von der Präsentation „D“ von B. (dortige Entgegenhaltung D11-A3; vorgelegt als Anlage TW 6; nachfolgend: E) – die erfinderische Tätigkeit (Art. 56 EPÜ) verneint hat. - Die Einspruchsabteilung hat unter Anwendung des sogenannten Aufgabe-Lösungs-Ansatzes den nächstliegenden Stand der Technik ermittelt, sodann die im Lichte dieser Lehre zu lösende Aufgabe bestimmt und schließlich die Frage geprüft, ob die beanspruchte Erfindung angesichts dessen für den Fachmann naheliegend war. Dabei hat die Einspruchsabteilung E als nächstliegenden Stand der Technik bestimmt und festgestellt, dass der Unterschied zwischen der Lehre des Stammpatents und E in der im Stammpatent beanspruchten niedrigeren Tagesdosis liege (nämlich 480 mg/Tag gegenüber 720 mg/Tag). Davon ausgehend hat die Einspruchsabteilung unter anderem ausgeführt, dass bei der Definition der objektiven technischen Aufgabe die von der Patentinhaberin und hiesigen Verfügungsklägerin geltend gemachte überraschende Wirkung einer Dosierung von 480 mg/Tag gegenüber 720 mg/Tag unberücksichtigt bleiben müsse, weil diese Wirkung nicht aus der Anmeldung in der eingereichten Fassung ableitbar sei und die von der Verfügungsklägerin eingereichten nachveröffentlichten Beweismittel daher außer Betracht zu bleiben hätten. Die objektive technische Aufgabe sei auf dieser Grundlage nicht in der Bereitstellung eines verbesserten oder optimierten Dosierungsschemas für die wirksame orale Behandlung von MS zu sehen, sondern dahin zu formulieren, dass es um die Bereitstellung einer alternativen Tagesdosis von DMF für die wirksame orale Behandlung von MS gehe. Vor die so formulierte Aufgabe gestellt, würde der Fachmann, so die Einspruchsabteilung, ausgehend von E allein oder in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen, dargestellt durch die D 25 (ICH Topic E 4 „F“, November 1994, vorgelegt in englischer Sprache als Anlage rop 17-D12; nachfolgend auch: G), zu der Lösung der Ansprüche gelangen.
- Die so hergeleitete Bewertung der Einspruchsabteilung beruht weder auf unvertretbaren Erwägungen noch lässt ein im Einspruchsverfahren gegen das Verfügungspatent unter Umständen zugrunde zu legender abweichender rechtlicher Prüfungsmaßstab ein anderes Rechtsbestandsergebnis erwarten.
- (a)
Es ist zunächst nicht zu erkennen, dass der Einspruchsabteilung bei der Definition der objektiven technischen Aufgabenstellung Fehler unterlaufen sind. Insbesondere hat die Einspruchsabteilung ausführlich und nachvollziehbar begründet, warum sie bei der Formulierung der Aufgabe den von der Verfügungsklägerin geltend gemachten überraschenden Effekt einer Dosierung von 480 mg/Tag, der sich nur aus nachveröffentlichten Nachweisen ableiten lässt, unberücksichtigt gelassen hat. - (aa)
Die Einspruchsabteilung hat darauf abgestellt, dass die Anmeldung in der eingereichten Fassung (vorgelegt als Anlage rop 11, in deutscher Übersetzung als Anlage rop 11a) nicht plausibel darstellt, dass mit der spezifischen Dosis von 480 mg/Tag DMF oder MMF als (einzigem) Wirkstoff die Aufgabe der wirksamen Behandlung von MS gelöst wird. Hierbei hat sie sich mit den in Betracht kommenden Passagen der Anmeldung auseinandergesetzt und ausgeführt, dass die einzige Stelle, die sich mit der oralen Verabreichung von DMF am Menschen befasst, zwar verschiedene potenziell wirksame Dosen nennt (vgl. Abs. [0116] der Anlage rop 11a: „0,1 g bis 1 g pro Tag, von 200 mg bis 800 mg pro Tag, von 240 mg bis 720 mg pro Tag oder von 480 mg bis 720 mg pro Tag oder 720 mg pro Tag“), keine von ihnen jedoch als plausible Lösung für die Herbeiführung einer unerwarteten oder überraschenden technischen Wirkung angesehen werden könne. Fehler in dieser Beurteilung sind nicht zu erkennen. - Der Anmeldung in ihrer eingereichten Fassung – einschließlich ihrer Ansprüche – lassen sich nach Auffassung des Senats auch im Übrigen keine Stellen entnehmen, die eine Dosierung von 480 mg/Tag DMF oder MMF als (bevorzugt) wirksam hervorheben. Vielmehr hat auch die Technische Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung zum Stammpatent festgestellt, dass sich die Dosis von 480 mg/Tag nicht aus der Vielzahl der Bereiche hervorhebt (vgl. Entscheidung TBK, S. 11, Ziff. 4.2). Zwar geht es dort um die im Rahmen der unzulässigen Erweiterung erörterte Frage, ob die Dosis von 480 mg/Tag als bevorzugte Dosis angegeben oder das Ergebnis einer Auswahl ist, weshalb sich die Ausführungen nicht unmittelbar auf die von der Einspruchsabteilung erörterte Plausibilität übertragen lassen. Es lässt sich aber jedenfalls feststellen, dass die Technische Beschwerdekammer die von der Beschwerdeführerin und hiesigen Verfügungsklägerin geltend gemachte Auffassung, der Fachmann erkenne anhand der Darstellung in Abs. [0116] den Wert von 480 mg als bekanntlich wirksam, ausdrücklich nicht teilt (Entscheidung TBK, S. 12, Ziff. 4.2.2).
- (bb)
Es kann dahinstehen, ob der von der Einspruchsabteilung bei Prüfung der erfinderischen Tätigkeit zur Anwendung gebrachte Maßstab einer sogenannten Ab-initio-Plausibilität, der jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung in der Rechtsprechung der Einspruchsabteilungen und Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts vielfach angewendet wurde (vgl. die Darstellung in der Entscheidung der Beschwerdekammer zur Vorlage an die Große Beschwerdekammer, Az.: T 0116/18, S. 26 ff., vorgelegt als Anlage rop 15, in deutscher Übersetzung als Anlage rop 15a), angesichts des von der Verfügungsklägerin vorgelegten Hinweises der Großen Beschwerdekammer vom 13.10.2022 in der Sache G 2/21 (Anlage rop 29, in deutscher Übersetzung als rop 29 a; nachfolgend zitiert als „Hinweis GB/EPA“ nach Anlage rop 29a) einer Korrektur bedarf. Selbst wenn dem – was derzeit völlig ungewiss ist – so sein sollte, ergibt sich für die Beurteilung des Verfügungspatents und seines Rechtsbestandes kein anderes Ergebnis. - Soweit die Große Beschwerdekammer zu der Vorlagefrage 1 ausführt, der Grundsatz der freien Beweiswürdigung scheine es nicht zu erlauben, Beweise per se außer Acht zu lassen, soweit sie von einer Partei zur Stützung einer angefochtenen und für die endgültige Entscheidung maßgeblichen Schlussfolgerung vorgelegt und geltend gemacht werden (Hinweis GB/EPA, S. 3 Rn. 12), steht diese Auffassung in Einklang mit den Ausführungen der Einspruchsabteilung. Wie oben ausgeführt, hat die Einspruchsabteilung die von der Verfügungsklägerin geltend gemachten nachveröffentlichten Nachweise nicht per se nicht zugelassen, sondern deren Nichtberücksichtigung auf der Grundlage der Offenbarung in der Stammanmeldung ausführlich begründet.
- Hingegen scheint die Große Beschwerdekammer zu den Vorlagefragen 2 und 3 in ihrer vorläufigen Rechtsauffassung die Berücksichtigung nachveröffentlichter Beweismittel unter anderen Voraussetzungen zuzulassen als es den Ausführungen der Einspruchsabteilung – zumindest teilweise – zugrunde liegt. Für den Senat ist es allerdings nicht überzeugend, dass die Einspruchsabteilung – wäre sie von dem dortigen Maßstab ausgegangen – zu dem Ergebnis hätte gelangen müssen, dass die nachveröffentlichten Beweise der Verfügungsklägerin zu berücksichtigen sind und dass ausgehend davon die objektive technische Aufgabe anders zu bestimmen gewesen wäre.
- Die Große Beschwerdekammer legt ihren Erläuterungen zugrunde, dass es im Kern um die Frage geht, was der Fachmann – unter Berücksichtigung seines allgemeinen Fachwissens – am Anmeldetag der ursprünglich eingereichten Anmeldung als technische Lehre der beanspruchten Erfindung entnimmt. Die geltend gemachte technische Wirkung muss auch in einem späteren Stadium von dieser technischen Lehre umfasst sein und dieselbe Erfindung verkörpern (Hinweis GB/EPA, S. 3 Rn. 15). Auf der Grundlage der Anmeldungsunterlagen und der hier offenbarten technischen Lehre ist alsdann eine behauptete technische Wirkung, die zur Begründung der erfinderischen Tätigkeit herangezogen wird, daraufhin zu beurteilen, ob der Fachmann in Anbetracht des allgemeinen Fachwissens einen erheblichen Grund gehabt hätte, sie (die behauptete erfindungsrelevante technische Wirkung) anzuzweifeln. Bestehen keine derartigen Zweifel, so scheint nach der vorläufigen Rechtsauffassung der Großen Beschwerdekammer der Rückgriff auf nachveröffentlichte (z.B. experimentelle) Daten als mögliche Quelle für die behauptete technische Wirkung zu dienen, um bei der Entscheidung über die Erfindungshöhe des beanspruchten Gegenstands zu entscheiden, ob sie von dieser technischen Wirkung überzeugt ist oder nicht. Demgegenüber erscheint es nach dem Hinweis der Großen Beschwerdekammer fraglich, ob ein solcher Nachweis auch dann erfolgreich herangezogen werden kann, wenn der Fachmann auf der Grundlage der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung und des allgemeinen Fachwissens erhebliche Zweifel an der behaupteten technischen Wirkung hat (Hinweis GB/EPA, S. 4 Rn. 16–18).
- In Anwendung dieses Maßstabs hätte die Einspruchsabteilung also zunächst zu prüfen gehabt, was der Fachmann der ursprünglichen Anmeldung als technische Lehre der beanspruchten Erfindung entnimmt. Schließlich muss die geltend gemachte technische Wirkung nach der vorläufigen Auffassung der Großen Beschwerdekammer auch in einem späteren Stadium von dieser technischen Lehre umfasst sein und dieselbe Erfindung verkörpern. Bereits an dieser Stelle vermag der Senat nicht festzustellen, dass die Einspruchsabteilung unter Berücksichtigung des Gesamtinhalts der ursprünglichen Anmeldung zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass die technische Lehre der Erfindung auf die Bereitstellung einer wirksamen – gegebenenfalls geringeren – Dosierung von DMF oder MMF gerichtet ist. Mit möglichen Dosierungen bei oraler Verabreichung von DMF oder MMF an Menschen befasst sich die Stammanmeldung nur an einer einzigen Stelle, nämlich in Abs. [0116]. Nach der dortigen Darstellung ist die Dosierung indes innerhalb eines weiten Spektrums erlaubt und dem jeweiligen Einzelfall überlassen, wenn es heißt (Hervorhebung hinzugefügt):
- „Für DMF oder MMF kann eine wirksame Menge im Bereich von 1 mg/kg bis 50 mg/kg (z.B. von 2,5 mg/kg bis 20 mg/kg oder von 2,5 mg/kg bis 15 mg/kg) liegen. Die wirksamen Dosierungen variieren auch, wie Fachleute wissen, in Abhängigkeit von dem Verabreichungsweg, der Verwendung von Arzneimittelträgern und der Möglichkeit der gleichzeitigen Verwendung mit anderen therapeutischen Behandlungen, einschließlich der Verwendung anderer therapeutischer Mittel. Beispielsweise kann eine wirksame Dosis von DMF oder MMR [sic], die einem Patienten oral verabreicht werden soll, etwa 0,1 g bis 1 g pro Tag, 200 mg bis etwa 800 mg pro Tag (z.B. etwa 240 mg bis etwa 720 mg pro Tag; oder von etwa 480 mg bis etwa 720 mg pro Tag; oder etwa 720 mg pro Tag) betragen. …“
- Verstärkt wird der Eindruck einer weitgehend beliebigen Dosierbarkeit von DMF und MMF zusätzlich durch den sich unmittelbar anschließenden Hinweis im Abs. [0117], wo es heißt:
- „Die Dosierung (Anm.: nach Maßgabe von Abs. [0116]) kann von einem Arzt bestimmt und gegebenenfalls angepasst werden, um die beobachteten Wirkungen der Behandlung anzupassen. …“
- Selbst wenn man dies jedoch anders sieht, fehlt es – soweit dem Senat eine Beurteilung möglich ist – an einer auf die Dosierung von 480 mg/Tag gerichteten Behauptung einer technischen Wirkung in der ursprünglichen Anmeldung. Angesichts der Breite der in Abs. [0116] – völlig unterschiedslos und ohne jegliche Präferenz – genannten Bereiche möglicher Dosierungen mit Tagesdosen zwischen 0,1 g (= 100 mg) und 1 g (= 1000 mg) entnimmt der Fachmann dem Beschreibungstext keine konkrete Behauptung zu einer (überlegenen oder auch nur gleichrangigen) Wirksamkeit bestimmter dort genannter Dosierungen, erst recht keine solche Wirksamkeitsbehauptung für eine Tagesdosis von 480 mg. Anders als die Verfügungsklägerin geltend macht, stellt Abs. [0116] der Anmeldeschrift die konkret erwähnten Dosierungen innerhalb des mit der Eingangsformulierung aufgespannten Bereichs nicht als irgendwie vorteilhafte und deshalb bevorzugte Ausführungsvarianten dar, sondern als lediglich untereinander gleichrangige Beispiele für eine therapeutisch wirksame Dosis. Sollte man auch dies anders sehen, hält es der Senat für wahrscheinlich, dass der Fachmann unter Zugrundelegung des in dem Hinweis der Großen Beschwerdekammer dargestellten Maßstabs erheblichen Anlass zu Zweifeln an der behaupteten Wirksamkeit eines einzelnen, im Beschreibungstext in keiner Weise hervorgehobenen Wertes gehabt hätte.Mehrere, nachfolgend zitierte Stellen in der Entscheidung der Einspruchsabteilung deuten zudem darauf hin, dass diese zwar einen anderen Maßstab zugrunde gelegt hat, im Ergebnis aber von einer vergleichbaren Sichtweise ausgegangen ist (Hervorhebung jeweils hinzugefügt):
- Zu dem genannten Abs. [0116] führt die Einspruchsabteilung aus (S. 32, Ziff. 8.5):
- „Obwohl die Anmeldung in der eingereichten Fassung die Information enthält, dass die Dosis von 480 mg/Tag eine wirksame orale Dosis von DMF oder MMF sein kann, offenbart sie nicht die Tatsache, dass die Aufgabe mit der oralen Dosierung von 480 mg/Tag wirksam gelöst wurde.“
- Zur Abgrenzung von der von der Patentinhaberin und hiesigen Verfügungsklägerin angeführten Entscheidung T 1642/07 heißt es in der Entscheidung der Einspruchsabteilung (S. 33, Ziff. 8.6.3):
- „P zitierte u.a. T 1642/07 als Grundlage für die Anerkennung nachveröffentlichter Nachweise zur Bestätigung eines in der Anmeldung angekündigten Effekts. Der vorliegende Fall unterscheidet sich von T 1642/07 dadurch, dass im vorliegenden Fall keiner der Effekte angekündigt wurde. …“
- In Bezug auf die geltend gemachte überraschende Wirkung der Dosis von 480 mg/Tag heißt es (S. 32, Ziff. 8.5 am Ende):
- „Infolgedessen und unter Anwendung der Kriterien aus dem Rechtsprechungsbuch … kann die nachträglich geltend gemachte überraschende Wirkung von 480 mg/Tag gegenüber 720 mg/Tag DMF bei der Formulierung der objektiven technischen Aufgabe nicht berücksichtigt werden, da diese Wirkung nicht aus der Anmeldung in der eingereichten Fassung ableitbar ist.“
- (b)
Selbst wenn man aber unterstellt, dass die Einspruchsabteilung unter Zugrundelegung des im Hinweis der Großen Beschwerdekammer genannten Maßstabs aufgrund der Berücksichtigung nachveröffentlichter Beweismittel zu dem Ergebnis gelangt wäre, die objektive technische Aufgabe liege in der Bereitstellung eines verbesserten oder optimierten Dosierungsschemas für die wirksame orale Behandlung von MS (vgl. Einspruchsentscheidung, S. 32, Ziff. 8.6), vermag der Senat nicht zu erkennen, dass dies ein anderes Ergebnis als den mangelnden Rechtsbestand nach sich gezogen hätte. Denn die Einspruchsabteilung führt aus, dass der Fachmann in Anbetracht der Nebenwirkungen, die mit der in den Folien von E als wirksam dargestellten Tagesdosis von 720 mg verbunden sind, eine ausreichende Motivation für die Optimierung des Dosierungsschemas durch Routineversuche hatte (S. 33, Ziff. 8.7.1). Auf dieser Grundlage wäre er entweder mit E als einem allgemeinen Rahmen für weitere Studien zur Dosisoptimierung (S. 33, Ziff. 8.7.1 am Ende) oder unter Heranziehung der G gemäß D 25, die die Standardschritte der Dosisoptimierung widerspiegeln (S. 34, Ziff. 8.7.2), in naheliegender Weise zu der Dosierung von 480 mg/Tag gelangt. Dass und inwiefern sich diese Beurteilung bei der, wie dargestellt, abweichend bestimmten technischen Aufgabe geändert hätte, vermag der Senat nicht zu erkennen. Auch im Übrigen hält der Senat die Ausführungen, mit denen die Einspruchsabteilung zu dem Ergebnis gelangt ist, dass der Fachmann ausgehend von E in naheliegender Weise zu der Lehre des Stammpatents gelangt wäre, für nachvollziehbar und überzeugend. - (aa)
Die Einspruchsabteilung geht in ihrer Begründung davon aus, dass die Folien von E dem Fachmann eine ausreichende Motivation für die Optimierung des Dosierungsschemas durch Routineversuche bieten, weil sich aus diesen nur für eine Tagesdosis (nämlich 720 mg/Tag) eine eindeutig nachgewiesene Wirksamkeit ableiten lässt, diese Dosis jedoch mit Nebenwirkungen im Magen-Darm-Trakt verbunden ist. - Unabhängig von der zwischen den Parteien unter Vorlage von Privatgutachten eingehend diskutierten Frage, ob sich aus den Folien von E eine (gegebenenfalls statistisch relevante) Dosisabhängigkeit der Nebenwirkungen entnehmen lässt oder eine Dosisabhängigkeit der Nebenwirkungen von DMF oder MMF zum Prioritätstag allgemeines Fachwissen war, lässt sich jedenfalls nicht feststellen, dass die Einspruchsabteilung den Folien von E in unvertretbarer Weise eine Dosisabhängigkeit der Nebenwirkungen entnommen und davon ausgehend falsche Schlüsse gezogen hätte. Vielmehr ist in der Entscheidung der Einspruchsabteilung nur die Rede davon, dass die Tagesdosis von 720 mg/Tag mit Nebenwirkungen verbunden sei (Einspruchsentscheidung, S. 33, Ziff. 8.7.1; vgl. auch S. 31, Ziff. 8.2). Den von den Parteien und vom Landgericht angestellten Vergleich der Nebenwirkungen bei den unterschiedlichen in der den Folien von E zugrunde liegenden Studie untersuchten Dosierungen stellt die Einspruchsabteilung nicht an. Soweit es in der von der Verfügungsklägerin vorgelegten eidesstattlichen Versicherung von Prof. E (Anlage rop 25, dort S. 2, Ziff. 2.1) heißt, aus Ziff. 8.7.1 der Einspruchsentscheidung gehe hervor, dass eine dosisabhängige Wirkung in Bezug auf unerwünschte Nebenwirkungen bestehe und dass dies eine Motivation für die Senkung der Dosis von 720 mg/Tag sei, wird diese Einschätzung nicht näher begründet. Eine fehlerhafte Deutung des in den Folien von E dargestellten Nebenwirkungsprofils und eine darauf aufbauende unvertretbare Einschätzung der Motivation des Fachmanns vermag der Senat auf dieser Grundlage nicht zu erkennen.
- Dass die Schlussfolgerungen der Einspruchsabteilung unvertretbar wären, kann der Senat auch in Bezug auf die von der Verfügungsklägerin vorgebrachten weiteren Argumente, wonach der Fachmann auf der Grundlage der Folien von E keine hinreichende Erfolgserwartung im Hinblick auf eine Verringerung der Dosis gehabt hätte und angesichts der zur Verfügung stehenden gut verträglichen Behandlung bei einer Dosis von 720 mg/Tag von einer erneuten Dosisfindungsstudie – jedenfalls in Richtung einer Verringerung der Dosis – abgesehen hätte, nicht erkennen. Die Überlegungen der Einspruchsabteilung erscheinen vielmehr nachvollziehbar und – jedenfalls aus pharmazeutischer Laiensicht, zu der der Senat allein in der Lage ist – plausibel.
- Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Frage, was der Fachmann den Ergebnissen der in den E-Folien vorgestellten Studie am Prioritätstag entnommen und ob er hiervon ausgehend weitere Untersuchungen angestellt hätte, in besonderem Maße einer Nachprüfung durch den Senat entzogen ist. Denn während sich ein Verletzungsgericht bei komplexen technischen Gegenständen ein zumindest einigermaßen fundiertes eigenes Bild gegebenenfalls insoweit machen kann, als es darum geht, ob der Gegenstand des Verfügungspatents in der zugrunde liegenden Ursprungsanmeldung eindeutig und unmittelbar offenbart gewesen ist und sich möglicherweise auch die Neuheitsfrage noch halbwegs eigenständig überblicken lässt, hängt die Entscheidung darüber, ob der Fachmann in naheliegender Weise vom vorbekannten Stand der Technik zu der Erfindung gelangen konnte, von einem tiefgreifenden technischen Verständnis und Einblick in das Fachwissen, die Fähigkeiten sowie die Denk- und Vorgehensweise eines Durchschnittsfachmanns im Prioritätszeitpunkt ab. Dazu besitzt auch ein erfahrenes Verletzungsgericht, jedenfalls wenn es sich nicht um einfach mechanische, sondern – wie hier – um komplexe (z.B. pharmazeutische oder nachrichtentechnische) Erfindungen handelt, in aller Regel keinerlei eigene Expertise. Hingegen ist es die tagtägliche Aufgabe von Einspruchsabteilungen, Beschwerdekammern und Nichtigkeitssenaten, sich auf dem ihnen jeweils zugewiesenen, engen technischen Fachgebiet Gedanken darüber zu machen, welche Vorkenntnisse der einschlägige Fachmann zum maßgeblichen Zeitpunkt besessen hat, mit welchem Wissenshorizont er deshalb den Stand der Technik wahrgenommen und mit welcher Strategie er diesen fortzuentwickeln versucht hat. Aufgrund ihrer stetigen und im Zweifel langjährigen Befassung mit genau diesen Fragestellungen haben die Spruchkörper der Rechtsbestandsinstanzen einen reichen Erfahrungsschatz, der die Handhabung des Kriteriums der erfinderischen Tätigkeit auf eine rechtssichere Basis stellt. Schon vor diesem Hintergrund verbietet es sich, dass ein Verletzungsgericht, welches weder über ein annähernd vergleichbares Wissen noch über Erfahrungen bezüglich der Entwicklungsarbeit von Technikern verfügt, seine eigene, notwendigerweise gänzlich laienhafte Einschätzung über die Überlegungen einer fundierten Einspruchsentscheidung stellt. Anlass, sich über eine fachkundig begründete Entscheidung hinwegzusetzen, besteht erst dann, wenn dem Rechtsbestandsspruchkörper Interpretationen oder Schlussfolgerungen nachgewiesen werden, die objektiv nachweisbar unzutreffend sind und seiner Würdigung die Grundlage entziehen (vgl. bereits Senat, GRUR-RR 2021, 249, 256 – Cinacalcet II).
- Letzteres ist auch unter Berücksichtigung der Einwände der Verfügungsklägerin, insbesondere der eidesstattlichen Versicherung von Prof. E (Anlage rop 25), nicht feststellbar. Zwar gelangt Prof. E in Bezug auf die Frage, was der Fachmann den Folien am Prioritätstag entnommen und welche Schritte er davon ausgehend unternommen hätte, zu anderen Ergebnissen als die Einspruchsabteilung. So führt Prof. E unter anderem aus, dass auf der Grundlage der Studie zu erwarten gewesen sei, dass eine niedrigere Dosis als 720 mg/Tag zu einer geringeren Wirksamkeit führen würde (Anlage rop 25, S. 4, Ziff. 3.3) und dass der Fachmann keine Dosisoptimierung vornehmen würde, indem er die einzig wirksame Dosis nach der Phase-2b-Studie senkt (Anlage rop 25, S. 4, Ziff. 4.2). Es ist einzuräumen, dass den Erklärungen von Prof. E als einem der Leiter der in den Folien gewürdigten Studie Gewicht zukommt und ihnen, wie es auch das Landgericht gesehen hat, grundsätzlich Anhaltspunkte für das fachmännische Verständnis zum Prioritätstag entnommen werden können. Indes handelt es sich bei den Erklärungen von Prof. E nicht um unparteiische Äußerungen, sondern um qualifizierten Sachvortrag der Verfügungsklägerin, die naturgemäß ein Interesse an einer abweichenden Beurteilung der Studienergebnisse hat. Schon deswegen können die parteigutachterlichen Bemerkungen für den Senat, dem – wie ausgeführt – eine fundierte technische Sachkunde auf dem in Rede stehenden komplexen Gebiet fehlt, nicht denselben Stellenwert bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten des Verfügungspatents besitzen, wie er der eingehend begründeten Entscheidung der persönlich und sachlich unabhängigen Einspruchsabteilung zukommt. Das gilt umso mehr, als Prof. E in seiner eidesstattlichen Versicherung (Anlage rop 25, S. 1, Ziff. 1.4) selbst ausdrücklich darauf hinweist, dass er bereits im Einspruchsverfahren gegen das Stammpatent drei Erklärungen abgegeben hat. Jedenfalls die Erklärung vom 16.10.2014 (Anlage rop 17-D7) lag bereits der Einspruchsabteilung vor und gibt die wesentlichen Aspekte der Argumentation von Prof. E wieder, ohne dass die Einspruchsabteilung dem jedoch gefolgt wäre. Es handelt sich also nicht darum, dass die in die Einschätzung von Prof. E gestellten Überlegungen etwa erstmals präsentiert werden und die technisch fachkundige Einspruchsabteilung mit ihnen noch nicht konfrontiert gewesen ist. Vielmehr verhält es sich genau umgekehrt so, dass das wesentliche Vorbringen der Verfügungsklägerin zur Erfindungshöhe bereits vor der Einspruchsabteilung ausgebreitet, von dieser aber als nicht tragfähig beurteilt worden ist. Diese Bewertung hat das Verletzungsgericht hinzunehmen, solange – wie hier – nicht feststellbar ist, dass die Interpretationen der Einspruchsabteilung objektiv nachweisbar unzutreffend sind, und auch nicht ersichtlich ist, dass aus einem feststehenden Sachverhalt technisch objektiv falsche Schlüsse gezogen worden sind.
- (bb)
Entsprechendes gilt für die Erwägungen dazu, ob der Fachmann – auch aus ethischen Erwägungen – davon abgesehen hätte, eine geringere als die erwiesenermaßen wirksame Dosis von 720 mg/Tag in weiteren Dosisfindungsstudien einzusetzen, weil bei MS mit fortschreitenden Hirnläsionen irreparable Schäden drohen. Auch insoweit ist es nicht angängig, wenn der Senat seine eigenen – laienhaften – Überlegungen an die Stelle derjenigen der fachkundigen Einspruchsabteilung setzt, die eine Optimierung des Dosierungsschemas aus der Sicht des Fachmanns für veranlasst gehalten hat. Aus den von der Verfügungsklägerin zitierten Passagen in den G lässt sich solches auch nicht in einer Deutlichkeit entnehmen, aufgrund derer der Senat selbst feststellen könnte, dass die Einspruchsabteilung von einer unzutreffenden Grundlage ausgegangen wäre. In den zitierten Passagen der G heißt es in deutscher Übersetzung: - „Die Wahl des Studiendesigns und der Studienpopulation bei Dosis-Wirkungs-Studien hängt von der Entwicklungsphase, der zu untersuchenden therapeutischen Indikation und der Schwere der Erkrankung in der interessierenden Patientengruppe ab. Beispielsweise kann das Fehlen einer geeigneten Rettungstherapie für lebensbedrohliche oder schwere Erkrankungen mit irreversiblen Folgen die Durchführung von Studien mit Dosen unterhalb der maximal verträglichen Dosis aus ethischen Gründen ausschließen.“ (S. 5, vorletzter Absatz)
- „Parallele Dosis-Wirkungs-Studien mit Placebo oder placebokontrollierten Titrationsstudien (sehr wirksame Studien, die typischerweise bei Angina pectoris, Depressionen, Bluthochdruck usw. eingesetzt werden) wären bei der Untersuchung einiger Krankheiten, wie lebensbedrohlicher Infektionen oder potenziell heilbarer Tumore, nicht akzeptabel, zumindest wenn wirksame Behandlungen bekannt sind. […] Andererseits kann die Verwendung niedriger, möglicherweise unwirksamer Dosen oder die Titration bis zur gewünschten Wirkung inakzeptabel sein, da ein anfänglicher Misserfolg in diesen Fällen eine für immer verlorene Chance auf Heilung bedeuten kann.“ (S. 4, Ziff. 2, zweiter Absatz)“
- Der Senat vermag weder festzustellen, dass der im ersten zitierten Absatz genannte Fall des Fehlens einer geeigneten Rettungstherapie vorliegt, noch dass MS den im zweiten Absatz angesprochenen Krankheiten wie lebensbedrohlichen Infektionen oder potenziell heilbaren Tumoren, bei denen ein anfänglicher Misserfolg eine für immer verlorene Chance auf Heilung bedeuten kann, unterfällt.
- Soweit die Verfügungsklägerin geltend macht, eine weitere Dosisfindungsstudie habe bewusst die Möglichkeit in Kauf genommen, dass Probanden mit einer nicht ausreichenden Wirkstoffdosis versorgt werden und deshalb therapeutisch unbehandelt bleiben, gegebenenfalls mit der Folge, dass sie irreversible Beeinträchtigungen davon tragen, ist der übergeordnete Nutzen einer solchen Studie abzuwägen, die im Falle eines erfolgreichen Nachweises der Wirksamkeit einer geringeren Dosis unzählige Patienten davon befreit hätte, über lange und unabsehbare Zeit eine deutlich zu hohe Wirkstoffdosis einzunehmen mit der zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgeräumten Gefahr größerer Nebenwirkungen und zumindest der unter therapeutischen Gesichtspunkten unnötig hohen Belastung bei der Verstoffwechselung des Wirkstoffs.
- (cc)
Weiter kann der Senat nicht erkennen, dass die Einspruchsabteilung mit ihrer Annahme, die von E vorgestellten Ergebnisse der ausführlichen klinischen Phase II-Studie am Menschen zeigten, dass mit der Dosierung von 720 mg/Tag bereits ein „Aktivitätsplateau“ erreicht sei, von einer objektiv falschen Grundlage ausgegangen ist, die ihre Ausführungen im Übrigen als unvertretbar erscheinen ließen. Die Parteien gehen übereinstimmend davon aus, dass sich den Folien von E ein Plateau in dem Sinne, dass mit einer Erhöhung der Dosierung über 720 mg/Tag eine Verbesserung der Wirksamkeit nicht mehr zu erwarten ist, nicht entnehmen lässt. Ob darin ein Widerspruch zu den Ausführungen der Einspruchsabteilung liegt, kann jedoch offenbleiben. Die Einspruchsabteilung stützt sich auf diese Aussage nur für die Argumentation, dass es sich (bei der Durchführung weiterer Routineversuche) nicht um einen „try and see“-Ansatz handelt, weil bereits die Ergebnisse einer ausführlichen klinischen Phase II-Studie am Menschen vorliegen. Diese Aussage ist, wie sogleich noch näher zu erläutern sein wird, unabhängig von einem für den Fachmann erkennbaren Wirksamkeitsplateau zutreffend. Überdies geht es bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ohnehin nur um das Auffinden einer gegenüber 720 mg/Tag geringeren Dosierung, so dass es letztlich auf die Frage, ob der Fachmann auch eine höhere Dosierung in Betracht gezogen hätte, nicht ankommt. - (4)
Es lässt sich schließlich nicht feststellen, dass im Einspruchsverfahren gegen das Verfügungspatent (z.B. neue) erfolgversprechende Aspekte entgegengehalten werden, die von der Einspruchsabteilung in dem das Stammpatent betreffenden Verfahren noch nicht berücksichtigt werden konnten. Insbesondere lag zwar die von der Verfügungsklägerin vorgelegte Erklärung von Prof. E gemäß Anlage rop 17-D11 (Entgegenhaltung D 73 im Einspruchsbeschwerdeverfahren) im Verfahren vor der Einspruchsabteilung noch nicht vor und wurde von der Beschwerdekammer, die sich nur mit dem Widerrufsgrund der unzulässigen Erweiterung befasst hat, jedenfalls in ihrer Entscheidung nicht gewürdigt. Dass diese Erklärung jedoch der Entscheidung der Einspruchsabteilung zum Stammpatent die Grundlage entzieht und eine andere Entscheidung im Einspruchsverfahren gegen das Verfügungspatent derart eindeutig gebietet, dass es der Senat mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln selbst feststellen könnte, ist nicht feststellbar. Das gilt auch für die von der Verfügungsklägerin im Verhandlungstermin herausgestellten Erwägungen von Prof. E dazu, dass die Annahme eines Aktivitätsplateaus bei 720 mg/Tag nicht zutreffend ist. Insoweit wird auf die Ausführungen unter (3) (b) (cc) Bezug genommen. - (5)
Letztlich kann aber sogar unterstellt werden, dass Prof. E darin zu folgen ist, dass die von ihm geleitete Studie eine signifikante Wirksamkeit von DMF bei der Behandlung von MS nur für die Tagesdosis von 720 mg ergeben hat, während sich die niedrigeren Dosierungen von 120 mg/Tag und 360 mg/Tag als therapeutisch unwirksam erwiesen haben. Weiter kann unterstellt werden, dass die Studie für den Fachmann keinen Zusammenhang zwischen der Wirkstoffdosis und dem Auftreten von Nebenwirkungen erkennbar gemacht hat und es daher – eben wegen der Verfügbarkeit einer gut wirksamen und zugleich mit vergleichsweise geringen, erträglichen Nebenwirkungen versehenen DMF-Dosis von 720 mg/Tag – schon aus rein wirtschaftlichen Erwägungen heraus keinen Grund gab, kostspielige Studien der Phase III mit einer geringeren DMF-Dosis zu unternehmen. Dabei kann auch dahinstehen, ob die Annahme, mit einer geringeren Wirkstoffmenge werde sich das Nebenwirkungsrisiko nicht nennenswert verringern, überhaupt belastbar ist. Prof. E weist selbst darauf hin, dass die Behandlungsgruppen der Studie relativ klein waren und deshalb nominelle Unterschiede zwischen den Gruppen mit Vorsicht zu interpretieren sind. Nach Auffassung des Senats mag aufgrund dessen anzunehmen sein, dass die Studienergebnisse nicht – positiv – für ein dosisabhängiges Auftreten von Nebenwirkungen sprechen, dass ein solcher Zusammenhang, den der Fachmann prinzipiell in Erwägung ziehen wird, damit aber noch nicht mit Gewissheit ausgeschlossen war. - Nach Einschätzung des Senats besteht für den Fachmann im Allgemeinen zwischen der Wirkstoffmenge und etwaigen Nebenwirkungen ihrer Verabreichung ein naheliegender Zusammenhang, der auch im Streitfall die Überlegung nahelegt, die Nebenwirkungen durch eine geringere Wirkstoffdosis günstig zu beeinflussen. Diesen Weg zu beschreiten verbietet sich für den Fachmann nicht deshalb, weil sich aus der WO 2006/037XXF A2 im Zusammenhang mit der Behandlung von Psoriasis ergeben hat, dass die mit der Einnahme von DMF verbundenen Nebenwirkungen vorteilhaft durch eine bestimmte pharmazeutische Formulierung beeinflusst werden können. Zum einen handelt es sich lediglich um eine weitere Option für den Fachmann, Nebenwirkungen zu beherrschen, die nicht davon abbringen wird, dasjenige zu tun, was üblicherweise einen günstigen Einfluss auf Nebenwirkungen verspricht, nämlich die Herabsetzung der Wirkstoffdosis. Zum anderen legt die Verfügungsklägerin selbst Wert auf die Feststellung, dass die Wirkmechanismen von DMF in der Behandlung von Psoriasis und MS ganz verschiedene sind. Von daher konnte aus fachmännischer Sicht durchaus zweifelhaft erscheinen, ob sich die pharmakokinetischen Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Therapie von Psoriasis zum Erfolg geführt haben, auch bei der MS-Behandlung als wirkungsvoll erweisen. Dass und weshalb dem so sein sollte, lässt sich auch dem Vorbringen der Verfügungsklägerin nicht entnehmen.
- Selbst wenn der Fachmann tatsächlich davon ausgehen musste, dass sich durch eine geringere Wirkstoffmenge die Gefahr von Nebenwirkungen nicht reduziert, bleibt es jedenfalls eine Tatsache, dass die Studie zwar die Wirksamkeit einer DMF-Tagesdosis von 720 mg belegt hat, dass jedoch keine Anhaltspunkte dafür bestanden, dass mit dieser Menge – zufällig – die geringste signifikant wirksame Dosierung von DMF getroffen und gefunden war. Immerhin waren bei der Studie mehrere mögliche Dosierungsschritte zwischen der unwirksamen Dosierung (360 mg/Tag) und der nachgewiesen wirksamen Dosierung (720 mg/Tag) übersprungen worden, nämlich Dosierungen von 480 mg/Tag und 600 mg/Tag, von denen nicht von vornherein auszuschließen war, dass sich für sie oder für eine von ihnen eine therapeutische Wirksamkeit herausstellt. Vielmehr bestand für das Gegenteil eine gewisse Erfolgserwartung allein deshalb, weil es sich um einen wirklichen Glücksgriff gehandelt hätte, wenn mit der – unter Auslassung mehrerer möglicher geringerer Dosen – getesteten Tagesdosis von 720 mg zufälligerweise die erste und niedrigste therapeutisch wirksame Dosis gefunden worden wäre. Technisch-wissenschaftlich betrachtet bestand daher erheblicher Grund zu der Annahme, dass mit der Studie die Wirksamkeitsgrenze noch nicht ermittelt war, sondern diese weiter ihrer Aufklärung harrte. Dem in einer weiteren geeigneten Studie nachzugehen und die Wirksamkeitsgrenze von DMF um ihrer selbst willen aufzuklären, mag unter rein wirtschaftlichen Erwägungen (wegen der damit verbundenen Kosten) möglicherweise unvernünftig gewesen sein. Erfinderisch wird das Vorhaben dadurch aber noch nicht. Nach dem Ergebnis der Studie lag die verbliebene Wissenslücke klar zutage und es war ebenso offensichtlich, was zu tun war, um sie zu schließen.
- Anders als die Verfügungsklägerin argumentiert, geht es insoweit nicht darum, eine weitere Dosierungsform in eine außerordentlich umfangreiche und langwierige Studie der Phase III aufzunehmen, sondern sich z.B. in einer Phase II b-Studie, wie sie auch der vorbekannten Studie von E zugrunde liegt, Gewissheit darüber zu verschaffen, ob und welche geringere Wirkstoffdosis therapeutisch zielführend ist. Der Nutzen einer solchen geringeren Wirkstoffdosis lag, wie Prof. E in anderem Zusammenhang selbst einräumt, darin, dass ein Patient weniger Tabletten am Tag einzunehmen hat und dass er auch mit Blick auf die Verstoffwechselung des Medikaments in der Leber, potenziell toxische Abbauprodukte und der Auswirkungen auf die Nieren und andere Organe von einer geringeren Dosis profitieren würde (vgl. Anlage rop 17-D7, S. 4, Ziff. 15). Dieser Gesichtspunkt hat vorliegend deshalb ganz besonderes Gewicht, weil von einer MS-Erkrankung betroffene Patienten Medikamente über außerordentlich lange Zeiträume, gegebenenfalls sogar Jahrzehnte, einzunehmen haben.
- Die Verfügungsklägerin kann dem auch nicht mit Erfolg entgegenhalten, eine Aufklärung der unteren Wirksamkeitsgrenze sei lebensfremd und dürfe deshalb bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht zugrunde gelegt werden. Selbst wenn alle vorstehend erörterten Nutzen aus einer geringeren Wirkstoffdosis außer Betracht zu bleiben hätten, findet pharmazeutische Forschung nicht nur aus rein kommerziellen Interessen durch auf dem Markt tätige Unternehmen statt, sondern gleichermaßen in wissenschaftlichen Einrichtungen, deren Motivation sich nicht aus möglichen Erträgen gewonnener Erkenntnisse erklärt.
- Vor diesem Hintergrund hat der Senat Bedenken, der Verfügungsklägerin in ihrer Argumentation zu folgen, dass der Fachmann als Alternative allenfalls eine Dosierung geringfügig unterhalb von 720 mg/Tag in Erwägung gezogen hätte, mit der von vornherein eine Wirksamkeitserwartung verbunden war. Gerade weil die Reduzierung der Wirkstoffdosis um einen größeren Schritt die Vorteile für eine Vielzahl von an MS erkrankten Patienten signifikant vergrößert hätte, kann es für einen Fachmann nahegelegen haben, auch die Dosis von 480 mg, zu deren Wirksamkeit aus dem Stand der Technik noch nichts bekannt war, in seine Erwägungen einzubeziehen. Es mag zutreffen, dass die Dosierungsschritte nicht im Abstand von 120 mg stattfinden mussten, sondern prinzipiell auch anders hätten gewählt werden können. Nachdem sich die bisherigen Studien der bisherigen 120 mg-Schritte bedient haben, kann jedenfalls darin, dieses Dosierungsschema aufzugreifen und beizubehalten, nichts Erfinderisches gesehen werden. Gleiches gilt für den Umstand, dass die mit jeder Tablette verabreichte Wirkstoffmenge im Falle einer geänderten Gesamtdosis variiert worden wäre (statt 3 x 120 mg: 2 x 240 mg). Zum einen ist ein solches Vorgehen nicht zwingend, weil dem Patienten auch vier Tabletten mit einer Wirkstoffmenge von 120 mg hätten verabreicht werden können. Zum anderen hat auch Prof. E bei der Durchführung seiner Studie in der Variation der mit jeder Tablette verabreichten Wirkstoffmenge keinen Hinderungsgrund gesehen, und die Ergebnisse seiner Studie, bei der er bereits Einzeldosen von 240 mg/Tag vorgesehen hatte, bieten für derartige Bedenken auch keine Anhaltspunkte.
- Soweit die Verfügungsklägerin der Annahme, für den Fachmann habe Anlass bestanden, die Wirksamkeitsgrenze von DMF um ihrer selbst willen aufzuklären, entgegengehalten hat, in der Rechtsprechung des Europäischen Patentamts werde der sogenannte „try and see“-Ansatz abgelehnt, greift dies nicht durch. Die Überlegung, dass der Fachmann zumindest eine „try and see“-Haltung eingenommen hätte, kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Patentamts ein Grund dafür sein, das Konzept der „angemessenen Erfolgserwartung“ nicht anzuwenden und die erfinderische Tätigkeit unabhängig davon zu verneinen, weil der Fachmann es vorziehen würde zu prüfen, ob die von ihm ersonnene mögliche Lösung funktioniert, statt das Projekt aufzugeben, weil sein Erfolg nicht sicher ist (siehe Rechtsprechungsbuch, 10. Aufl., I. D. 7.2 „try and see“-Situation unter Verweis u.a. auf T 333/97, T 377/95 vom 24. April 2001, T 1045/98, T 1396/06, T 2168/11). Im vorliegenden Fall fehlt es jedoch, wie erörtert, ausgehend vom Stand der Technik gerade nicht an einer angemessenen Erfolgserwartung des Fachmanns, so dass es – wie es auch die Einspruchsabteilung angenommen hat – auf die Annahme eines „try and see“-Ansatzes nicht ankommt. Abgesehen davon lässt sich weder der zitierten Darstellung im Rechtsprechungsbuch noch den von dem patentanwaltlichen Vertreter der Verfügungsklägerin in der mündlichen Verhandlung zitierten Entscheidungen (T-239/16, T-847/07, T-2506/12) entnehmen, dass der „try and see“-Ansatz in der Rechtsprechung des Europäischen Patentamts grundsätzlich nicht mehr verfolgt würde. Entscheidend ist vielmehr stets, ob der Fachmann nach den Umständen des Einzelfalls eine „try and see“-Haltung einnehmen würde (vgl. auch Rechtsprechungsbuch, a.a.O., zur Würdigung der Entscheidung T-847/07).
- III.
- Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
- Eines Ausspruches zur vorläufigen Vollstreckbarkeit bedurfte es nicht, weil das vorliegende Urteil als zweitinstanzliche Entscheidung im Verfahren der einstweiligen Verfügung keinem Rechtsmittel mehr unterliegt (§ 542 Abs. 2 S. 1 ZPO) und ohne besonderen Ausspruch endgültig vollstreckbar ist.