4c O 18/21 – Nukleotid-Derivate

Düsseldorfer Entscheidungen Nr. 3267

Landgericht Düsseldorf

Urteil vom 07. Juli 2022, Az. 4c O 18/21

 

  1. I. Die Beklagten werden verurteilt,
  2. 1. es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung vom Gericht festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu € 250.000,00 – ersatzweise Ordnungshaft – oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, wobei die Ordnungshaft an ihren jeweiligen gesetzlichen Vertretern zu vollstrecken ist, zu unterlassen:
  3. eine chemische Verbindung mit der Formel I:
  4. wobei: R ausgewählt ist aus der Gruppe Alkyl, Aryl und Alkylaryl;
    R’ und R“ unabhängig ausgewählt sind aus der Gruppe H, Alkyl und Alkylaryl, oder R’ und R“ zusammen eine Alkylenkette bilden, so dass zusammen mit dem C-Atom, an das sie gebunden sind, ein cyclisches System bereitgestellt wird;
    Q aus der Gruppe -O- und -CH2-ausgewählt ist; X unabhängig ausgewählt ist aus der Gruppe F, Br und Methyl(-CH3); Y F ist;
    Ar eine monocyclische aromatische Ringgruppe oder eine fusionierte bicyclische aromatische Ringgruppe ist, wobei die Ringgruppen
    carbocyclisch oder heterocyclisch sind und gegebenenfalls substituiert sind;
    Z aus der Gruppe H, Alkyl und Halogen ausgewählt ist; und n 0 oder 1 ist,
    wobei, wenn n 0 ist, Z’ -NH2 ist und eine Doppelbindung zwischen Position 3 und Position 4 vorliegt, und
    wenn n 1 ist, Z’=O ist;
    oder ein pharmazeutisch unbedenkliches bzw. unbedenklicher Salz, Ester oder Salz eines derartigen Esters,
  5. insbesondere den Wirkstoff Sofosbuvir und ihn enthaltende Arzneimittel, insbesondere die Arzneimittel X
  6. in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken einzuführen oder zu besitzen;
  7. 2. der Klägerin in EDV auswertbarer, elektronischer Form Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie (die Beklagten) die unter Ziffer I.1. bezeichneten Handlungen seit dem 28. März 2018 begangen haben, und zwar unter Angabe:
  8. a) der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,
    b) der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,
    c) der Menge der ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden,
  9. wobei zum Nachweis der Angaben entsprechende Einkaufs- und Verkaufsbelege (nämlich Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in elektronischer Form vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;
  10. 3. der Klägerin Rechnung zu legen in welchem Umfang sie (die Beklagten) die unter Ziffer I.1. bezeichneten Handlungen seit dem 28. April 2018 begangen haben, und zwar unter Vorlage eines schriftlichen und eines mittels EDV auswertbaren, elektronischen, gesonderten Verzeichnisses, unter Angabe:
  11. a) der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen, -zeiten und -preisen unter Einschluss von Produktbezeichnungen sowie der Namen und Anschriften der Abnehmer,
    b) der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen, -zeiten, und -preisen unter Einschluss von Produktbezeichnungen sowie der Namen und Anschriften der Angebotsempfänger,
    c) der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet, und
    d) der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten und des erzielten Gewinns,
  12. wobei den Beklagten vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften der nichtgewerblichen Abnehmer und der Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von der Klägerin zu bezeichnenden, ihr gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten, in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen, vereidigten Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagten dessen Kosten tragen und ihn ermächtigen und verpflichten, der Klägerin auf konkrete Anfrage mitzuteilen, ob ein bestimmter Abnehmer oder Angebotsempfänger in der Aufstellung enthalten ist;
  13. 4. (nur die Beklagte zu 2)) die in der Bundesrepublik Deutschland im unmittelbaren oder mittelbaren Besitz oder Eigentum der Beklagten befindlichen, unter Ziffer I.1. bezeichneten Erzeugnisse auf ihre – der Beklagten zu 2) – Kosten zu vernichten oder an einen von der Klägerin zu benennenden Gerichtsvollzieher zum Zwecke der Vernichtung auf ihre Kosten herauszugeben;
  14. 5. die unter Ziffer I.1. bezeichneten, seit dem 28. März 2018 in Verkehr gebrachten Erzeugnisse:
  15. a) zurückzurufen, indem die Beklagten die gewerblichen Abnehmer unter Hinweis auf den gerichtlich festgestellten, patentverletzenden Zustand der Sache und unter Angabe des Urteils schriftlich auffordern, die Erzeugnisse zurückzusenden, verbunden mit der verbindlichen Zusage, etwaige Entgelte zu erstatten sowie notwendige Verpackungs- und Transportkosten sowie mit der Rückgabe verbundene Zoll- und Lagerkosten zu übernehmen und indem die Beklagten die Erzeugnisse wieder an sich nehmen; und
    b) endgültig aus den Vertriebswegen zu entfernen, indem die Beklagten diese Erzeugnisse entweder wieder an sich nehmen und mit ihnen gemäß Ziffer I.4. verfahren oder die Vernichtung derselben beim jeweiligen Besitzer veranlassen.
  16. II. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr aufgrund der seit dem 28. April 2018 begangenen Handlungen gemäß Ziffer I.1. entstanden ist und noch entstehen wird.
  17. III. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten.
  18. IV. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung hinsichtlich des Tenors zu I.1., 4. und 5. in Höhe von 25.000.000,- Euro, hinsichtlich des Tenors zu I.2. und I.3. jeweils in Höhe von 1.500.000,- Euro und hinsichtlich des Tenors zu III. in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar. Die Sicherheit kann auch durch eine unwiderrufliche, unbedingte, unbefristete und selbstschuldnerische Bürgschaft einer in der Europäischen Union als Zoll- oder Steuerbürgin anerkannten Bank oder Sparkasse erbracht werden.
  19. Tatbestand
  20. Die Klägerin ist eingetragene Inhaberin des Europäischen Patents EP X (nachfolgend Klagepatent, Anlage HE 1, deutsche Übersetzung Anlage HE 1a). Es wurde von der Klägerin noch unter der Firma X als Teilanmeldung zu der Anmeldung EP X vom 20. Juli 2004 unter Inanspruchnahme einer Priorität der GB X vom 21. Juli 2003 angemeldet. Die Veröffentlichung der Anmeldung erfolgte am 16. Dezember 2015, diejenige seiner Erteilung am 28. März 2018. In einem von X geführten Einspruchsverfahren wurde das Klagepatent in der mündlichen Verhandlung vom 8. Februar 2021 im Umfang des Hilfsantrages 13 aufrechterhalten. Auf die Gründe der Entscheidung, welche als Anlagen HE 4, deutsche Übersetzung HE 4a, zur Akte gereicht wurden, wird Bezug genommen.
  21. Patentanspruch 1 hatte in seiner erteilten Fassung folgenden Wortlaut:
  22. „Chemische Verbindung der Formel
  23. wobei: R ausgewählt ist aus der Gruppe Alkyl, Aryl und Alkylaryl;
    R’ und R“ unabhängig ausgewählt sind aus der Gruppe H, Alkyl und Alkylaryl, oder R’ und R“ zusammen eine Alkylenkette bilden, so dass zusammen mit dem C-Atom, an das sie gebunden sind, ein cyclisches System bereitgestellt wird;
    Q aus der Gruppe -O- und -CH2-ausgewählt ist;
    X unabhängig ausgewählt ist aus der Gruppe H, F, Cl, Br, I, OH und Methyl (-CH3);
    Y F ist;
    Ar eine monocyclische aromatische Ringgruppe oder eine fusionierte bicyclische aromatische Ringgruppe ist, wobei die Ringgruppen carbocyclisch oder heterocyclisch sind und gegebenenfalls substituiert sind;
    Z aus der Gruppe H, Alkyl und Halogen ausgewählt ist; und n 0 oder 1 ist,
  24. worin, wenn n 0 ist, Z ‚ -NH2 ist und eine Doppelbindung zwischen Position 3 und Position 4 vorliegt,
    und wenn n 1 ist, Z‘ =O ist;
    oder ein pharmazeutisch verträgliches Salz, ein pharmazeutisch verträglicher Ester oder ein pharmazeutisch verträgliches Salz eines solchen Esters einer Verbindung der Formel I.“
  25. In der ursprünglichen Anmeldung – WO 2005/XXX – war soweit vorliegend von Interesse:
  26. „X and Y are independently selected from the group comprising H, F, Cl, Br, I, OH and
    methyl (-CH 3 );“
  27. und
  28. „or a pharmaceutically acceptable derivative or metabolite of a compound of formula I“.
  29. Der Hilfsantrag 13, mit welchem die Einspruchsabteilung das Klagepatent im Einspruchsverfahren eingeschränkt aufrechterhalten hat, hat nachfolgenden Wortlaut:
  30. „Chemische Verbindung mit der Formel I:
  31. wobei: R ausgewählt ist aus der Gruppe Alkyl, Aryl und Alkylaryl;
    R’ und R“ unabhängig ausgewählt sind aus der Gruppe H, Alkyl und Alkylaryl, oder R’ und R“ zusammen eine Alkylenkette bilden, so dass zusammen mit dem C-Atom, an das sie gebunden sind, ein cyclisches System bereitgestellt wird;
    Q aus der Gruppe -O- und -CH2-ausgewählt ist;
    X unabhängig ausgewählt ist aus der Gruppe F, Br und Methyl (-CH3);
    Y F ist;
    Ar eine monocyclische aromatische Ringgruppe oder eine fusionierte bicyclische aromatische Ringgruppe ist, wobei die Ringgruppen carbocyclisch oder heterocyclisch sind und gegebenenfalls substituiert sind;
    Z aus der Gruppe H, Alkyl und Halogen ausgewählt ist; und n 0 oder 1 ist,
    worin, wenn n 0 ist, Z ‚-NH2 ist und eine Doppelbindung zwischen Position 3 und Position 4 vorliegt,
    und wenn n 1 ist, Z’=O ist;
    oder ein pharmazeutisch verträgliches Salz, ein pharmazeutisch verträglicher Ester oder ein pharmazeutisch verträgliches Salz eines solchen Esters einer Verbindung der Formel I.
  32. Nach der Entscheidung im Einspruchsverfahren erhob die Klägerin im April 2021 Klage gegen die Beklagten vor dem angerufenen Gericht. Gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung legte X am 4. Juni 2021 Beschwerde (Anlage BB 2) ein, über die noch nicht entschieden ist.
  33. Die Klägerin ist ein forschendes Pharmaunternehmen, das sich insbesondere mit der Entwicklung von Arzneimitteln auf dem Gebiet der Onkologie befasst. Ihre Firma X leitet sich von X ab und wird in der derzeitigen Form seit dem Jahr 2017 verwendet. Sie ist ein biopharmazeutisches Unternehmen mit dem Fokus auf der Behandlung von Krebserkrankungen. Dabei konzentriert sich die Klägerin auf sogenannte Phosphoramidit-Prodrug-Synthesetechnologien zur Weiterentwicklung herkömmlicher Chemotherapie-Arzneimittel. Ein dem Schutz des Klagepatentes unterfallendes Arzneimittel wird von der Klägerin nicht vertrieben.
  34. Die Beklagten sind Unternehmen der globalen X, einem der weltweit tätigen und forschenden Arzneimittelhersteller und -anbieter. X ist ein forschungsbasiertes, biopharmazeutisches Unternehmen mit Sitz in X das innovative Arzneimittel für die Behandlung schwerwiegender, lebensbedrohlicher Krankheiten entwickelt, wie u.a. HIV/AIDS, Leberkrankheiten, schwerwiegende Atemwegserkrankungen, kardiovaskuläre sowie entzündliche Erkrankungen und Krebs. Die Beklagten vertreiben in Deutschland mehrere Arzneimittel mit dem Wirkstoff Sofosbuvir. Sofosbuvir hat die nachfolgende Struktur und macht unstreitig von der Lehre nach dem Klagepatent Gebrauch:
  35. Der Wirkstoff Sofosbuvir, welcher zur Behandlung von Hepatitis C eingesetzt wird, ist in den von den Beklagten vertriebenen Arzneimitteln X(Monopräparat als Filmtablette und befilmtes Granulat), X (Sofosbuvir und Velpatasvir), X(Sofosbuvir und Ledipasvir als Filmtablette und befilmtes Granulat) und X (Sofosbuvir, Velpatasvir und Voxilaprevir) enthalten (vgl. Anlage HE 7 bis HE 12, nachfolgend: angegriffene Ausführungsformen). Die Beklagte zu 1) ist Zulassungsinhaberin und Lieferantin der angegriffenen Ausführungsformen, welche von der Beklagten zu 2) in Deutschland angeboten und in Verkehr gebracht werden. Der Wirkstoff Sofosbuvir steht durch das Patent EP 2 XXX XXX B1 (Anlage BB 6, nachfolgend Sofosbuvir-Patent) der Unternehmensgruppe der Beklagten unter Schutz, welches am 26. März 2008 angemeldet und am 21. Mai 2014 erteilt wurde. Das Sofosbuvir-Patent nimmt als früheste Priorität diejenige der US XXX P vom 30. März 2007 in Anspruch.
  36. Der Wirkstoff Sofosbuvir war in der Vergangenheit bereits Gegenstand eines Patentverletzungsrechtsstreits vor der Kammer (Az. 4c O 5/14) aus dem EP X (nachfolgend: A-Verfahren oder A-Patent) zwischen dem US-amerikanischen Unternehmen A und den Beklagten, welchen die Kammer mit Beschluss vom 12. März 2015 ausgesetzt hat. Patentanspruch 1 des A-Patentes hatte folgenden Wortlaut:
  37. Die Einspruchsabteilung hatte sich in dem Einspruchsverfahren gegen das A-Patent mit der Fragestellung zu befassen, ob Verbindungen, in denen X eine Methylgruppe und Y Fluor ist (und die „2′-Fluor-down-2-Me-up“-Konfiguration aufweisen), bereits zum Prioritätsdatum synthetisiert werden konnten. Dort kam sie zu dem Ergebnis, dass dem Fachmann zum Prioritätszeitpunkt am 27. Juni 2003 nicht bekannt war, wie er Verbindungen, die auch Gegenstand des Klagepatents sind, herstellen kann. Die Technische Beschwerdekammer kam in ihrer vorläufigen Einschätzung vom 13. Dezember 2021 zur gleichen Ansicht. Eine Entscheidung erfolgte nicht mehr, da die Patentinhaberin ihre Zustimmung zur Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung zurücknahm.
  38. X
  39. X
  40. Die Beklagten erhoben unter dem 11. April 2022 (Anlage BB 20) Klage auf Erteilung einer Zwangslizenz nach §§ 24, 81 PatG zum Bundespatentgericht, welche der Klägerin am 26. April 2022 zugestellt wurde und über welche naturgemäß noch nicht entschieden ist.
  41. Hepatitis ist eine Leberentzündung, die verursacht wird durch bestimmte Hepatitisviren (einschließlich HCV) und 1989 zum ersten Mal beschrieben wurde. HCV gehört zur Hepacivirusgruppe der Virusfamilie der Flaviviridae. Zur Familie der Flaviviridae gehören unter anderem auch das Gelbfiebervirus, das West-Nil-Virus, das Dengue-Fieber-Virus, Zika-Virus und die Viren, die Encephalitis (akute Gehirnentzündung) verursachen.
  42. Eine HCV-Infektion greift die Leber an und verursacht zunächst ein leichtes oder asymptomatisches Krankheitsbild. Die chronische HCV-Infektion führt in der deutlichen Mehrzahl aller Fälle zu einer langsam progredienten chronischen Hepatitis, reduziert die Lebensqualität und ist mit einer erhöhten Morbidität und Letalität assoziiert. Von der Infektion an dauert es etwa 20-30 Jahre, bis sich die Leberschädigung manifestiert und klinisch in Erscheinung tritt. Die chronische Infektion kann zu einer irreversiblen Leberschädigung, der Leberzirrhose, führen. Es wird – konservativ – geschätzt, dass in Europa etwa 35 % der Leberzirrhosen und 32% der hepatozellulären Karzinome auf eine HCV-Infektion zurückzuführen sind. Die heute gebräuchlichen Medikamente gegen HCV sind Maviret, Zepatier und die angegriffenen Ausführungsformen X ist entsprechend der Fachinformation kontraindiziert bei (vgl. Anlage HE 26, Ziffer 4.3):
  43. Zwischen den Parteien unstreitig können ausschließlich die angegriffenen Ausführungsformen bei der Behandlung von Patienten mit dekompensierter schwerer Leberzirrhose eingesetzt werden und die Ausführungsform X bei DAA-Versagern.
  44. Die Klägerin vertritt die Ansicht, dass eine Beschränkung des Unterlassungsanspruchs wegen des Einwands der Unverhältnismäßigkeit ausscheiden müsse. Der Unverhältnismäßigkeitseinwand sei mit Blick auf die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit einer Zwangslizenz nach § 24 PatG nur subsidiär. Die Beklagten hätten
    X
    Entsprechende Patienteninteressen seien auch geschützt. Da es für die ganz überwiegende Mehrheit von Patienten mit HCV-Infektionen eine Alternative für die Behandlung mit den angegriffenen Ausführungsformen geben würde. Insofern bestünde daher eine klare Abgrenzungsmöglichkeit. So käme eine Beschränkung allenfalls in den Fällen in Betracht, in welchen der Einsatz von Maviret kontraindiziert sei. Den Beklagten sei auch vorzuwerfen, dass eine entsprechende Zwangslizenzklage viel zu spät erhoben worden sei. Schließlich sei die hiesige Klage seit mehr als einem Jahr anhängig und eine Entscheidung über eine Zwangslizenz in einem Eilverfahren nach § 85 PatG hätte daher schon erfolgen können.
    Der Rechtsbestand des Klagepatentes sei auch hinreichend gesichert. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung sei nicht offensichtlich unzutreffend.
  45. Die Klägerin beantragt, nachdem sie in der mündlichen Verhandlung vom 17. Mai 2022 Angaben zu Herstellungsmengen unter Ziffer I.2.c) zurückgenommen hat,
  46. zu erkennen, wie geschehen sowie
  47. Hilfsantrag I:
    Die Beklagten mit der Maßgabe zu verurteilen, dass die dort bezeichneten Handlungen zu unterlassen sind,
  48. soweit die Beklagten nicht durch geeignete Maßnahmen sicherstellen, dass Sofosbuvir-haltige Medikamente, insbesondere X
  49. nur in Fällen verwendet werden, in denen eine Sofosbuvir-freie Therapie mit direktantiviralen Wirkstoffen (DAAs), insbesondere einer Kombination der Wirkstoffe Glecaprevir und Pibrentasivir (Maviret), kontraindiziert bzw. nach den Fachinformationen nicht empfohlen ist,
    insbesondere indem sie
  50. (a) in sämtlichen Werbe- und Informationsmaterialien zu X, insbesondere auch auf den Internetseiten der Beklagten, einen ausdrücklichen, gut erkennbaren Warnhinweis aufnehmen, dass diese Präparate nur zu verwenden sind, soweit eine Sofosbuvir-freie Therapie mit direct acting antivirals (DAA) nach den Fachinformationen der in Frage kommenden Medikamente kontraindiziert oder nicht empfohlen wird,
  51. (b) sicherstellt, dass die Betreiber von pharmazeutischen Datenbanken wie die B GmbH einen entsprechenden Hinweis in den Datenbestand für X, aufnehmen, sowie
  52. (c) die betroffenen Kreise, insbesondere Vereinigungen der praktizierenden Hepatologen und Virologen, anschreibt und darauf hinweist, dass X nur zu verwenden ist, soweit eine Sofosbuvir-freie Therapie mit direktantiviralen Wirkstoffen (DAA) nach den
  53. Fachinformationen der in Frage kommenden Medikamente kontraindiziert oder nicht empfohlen wird;
  54. Hilfsantrag II:
  55. Die Beklagten werden nach Hilfsantrag I verurteilt, mit der weiteren Maßgabe, dass,
  56. den Beklagten eine Übergangsfrist von nicht mehr als vier Wochen eingeräumt wird,
  57. Hilfsantrag III:
  58. Die Beklagten werden nach Klageantrag I.1. mit der Maßgabe zu verurteilt,
  59. dass eine Vollstreckung für die Zeit von drei Monaten nach Verkündung des Urteils auszusetzen ist,
  60. Hilfsantrag IV:
  61. Die Beklagten werden nach Klageantrag I.1 verurteilt, mit der Maßgabe, dass
  62. die Beklagten das Unterlassungsgebot außer Kraft setzen können, indem sie einen Ausgleich in Höhe eines Betrages von nicht weniger als 36 Millionen Euro an die Klägerin zahlen.
  63. Hilfsantrag V:
  64. Die Beklagten werden verurteilt,
  65. einen Ausgleich in Höhe eines Betrages von nicht weniger als 36 Millionen Euro an die Klägerin zu zahlen.
  66. Die Beklagten beantragen,
  67. die Klage abzuweisen,
  68. hilfsweise: den Rechtsstreit gemäß § 148 ZPO bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung der Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts im parallelen Einspruchsbeschwerdeverfahren (T0795/21-3.3.01) auszusetzen.
  69. Ferner regen sie an,
  70. den Rechtsstreit gemäß § 148 ZPO bis zu einer Entscheidung des BPatG im parallelen Zwangslizenzverfahren 3 Li 1/22 auszusetzen.
  71. Die Beklagten vertreten die Ansicht, dass die Klage unbegründet sei. Der Unterlassungsanspruch wie auch die Ansprüche auf Vernichtung, Rückruf und Entfernung aus den Vertriebswegen seien wegen des Einwands der Unverhältnismäßigkeit ausgeschlossen. Die angegriffenen Ausführungsformen seien Eigenentwicklungen der Unternehmensgruppe der Beklagten und hätten die Behandlung des Hepatitis-C-Virus revolutioniert. Es handle sich gerade nicht um Generika, sondern um erfolgreiche Originalprodukte, die auf eigenen langjährigen sowie sehr kostenintensiven Forschungs- und Entwicklungsbemühungen der Beklagten beruhen würden. Die Klägerin habe demgegenüber keine eigenen Produkte zur Behandlung von HCV auf dem deutschen Markt und sei auf die Behandlung von Krebserkrankungen spezialisiert. Vor diesem Hintergrund sei es erkennbar unverhältnismäßig, die angegriffenen Ausführungsformen zum Schaden der Patienten vom Markt zu nehmen. Denn die angegriffenen Ausführungsformen, Polymerase-Inhibitoren, könnten ausschließlich bei Patienten mit fortgeschrittener Lebenzirrhose (Child-Pugh B oder C) bei DAA-Therapieversagern zum Einsatz kommen, was zwischen den Parteien unstreitig ist. Ferner gebe es noch andere Anwendungsfälle, bei welchen eine Behandlung mit Maviret kontraindiziert sei. Dazu gehöre die Behandlung von Kindern unter 12 Jahren. Auch sei der Einsatz von Maviret bei gleichzeitiger Anwendung von CYP3A4, bei Patienten mit HIV-Koinfektion und solchen die Immunsuppressiva oder Antipsychotika nehmen, nicht indiziert. Eine Alternative stehe auch nicht für Patientinnen, die orale Kontrazeptiva einnehmen, zur Verfügung. Gleiches gelte für Patienten mit (heimlichem) Opiodkonsum und Konsum von 4-Hydrxybutansäure (GHB) und Patienten, die eine geringe Compliance aufweisen würden.
    Hinzukomme, dass sich die Unverhältnismäßigkeit auch am Verhalten der Klägerin zeige: die Stammanmeldung (EP 1 XXX XXX), von der das Klagepatent abgeleitet ist, sei im Juli 2004 eingereicht worden. Sie beanspruchte nur Verbindungen, die 2′ F-F-substituiert waren – d. h. auf dem Krebsmittel Gemcitabin basieren – und entsprachen
  72. insoweit eher der Offenbarung und dem technischen Beitrag der Offenlegungsschrift. Erst im Februar 2015, nach dem technischen und kommerziellen Erfolg von X, habe die Klägerin die zum Klagepatent führende Teilanmeldung eingereicht und erst mit dieser einen breiteren Satz von Verbindungen, einschließlich 2′-CH3-F-substituierter Verbindungen, welche Sofosbuvir beinhalten – und der damit zum ersten Mal auch die angegriffenen Ausführungsformen betrifft, beansprucht.
    Ein Zwangslizenzverfahren vor dem Bundespatentgericht
    X
  73. Das Klagepatent werde sich im Beschwerdeverfahren überdies nicht als rechtsbeständig erweisen. Die Lehre nach dem Klagepatent beruhe auf einer unzulässigen Erweiterung, unzureichenden Offenbarung sowie fehlender Erfindungshöhe. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung sei nicht vertretbar.
  74. Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
  75. Entscheidungsgründe
  76. Die zulässige Klage ist begründet.
  77. A.
    Das Klagepatent hat Nukleotid-Derivate und deren Verwendung bei der Behandlung von Krebs zum Gegenstand.
  78. Zum Hintergrund der Erfindung schildert das Klagepatent, dass Nukleosid-Analoga wie Fluordesoxyuridin (1), Cytarabin (2) und Gemcitabin (3) sich als Krebsmedikamente bewährt haben. Nach Aktivierung zu ihrer 5′-Phosphatform wirken sie als Inhibitoren der DNA-Synthese.
  79. Als nachteilig hieran nennt es das Klagepatent, dass die freien bioaktiven Phosphatformen aufgrund ihrer schlechten Membranpermeation im Allgemeinen keine brauchbaren Arzneimittel darstellen. Um dies zu umgehen, wurde über eine Reihe von Ansätzen mit Phosphat-Arzneistoffvorläufern berichtet (Rosowsky et al., J. Med. Chem., 1982, 25, 171-8; Hong et al., J. Med. Chem., 1985, 28, 171-8; Kodama et al., Jpn. J. Cancer Res., 1989, 80, 679-85; Hong et al., 1979, 22, 1428-32; Ji et al., J. Med. Chem., 1990, 33, 2264-70; Jones et al., Nucleic Acids Res., 1989, 17, 7195-7201; Hunston et al., J. Med. Chem., 1984, 27, 440-4; Lorey et al., Nucleosides Nucleotides, 1997, 16, 1307-10; Farquhar et al., J. Med. Chem., 1983, 26, 1153-8; Shuto et al., Nucleosides Nucleotides, 1992, 11, 437-46; Le Bec et al., Tet. Letts., 1991, 32, 6553-6; Phelps et al., J. Med. Chem., 1980, 23, 1229-32). Im Allgemeinen weisen die Phosphat-Arzneistoffvorläufer biologische Eigenschaften und therapeutische Aktivitäten auf, die ähnlich zu denen des ursprünglichen Nukleosid-Analogons oder etwas niedriger als diese sind.
  80. Es wurden auf diesem Gebiet umfangreiche Arbeiten, hauptsächlich zu Didesoxynukleosiden, unter dem Gesichtspunkt der antiviralen Wirkung durchgeführt und über einen Ansatz unter Zuhilfenahme von Phosphoramidaten berichtet, der für die Bereitstellung von bioaktiven Phosphaten antiviraler Nukleoside weithin übernommen wurde. Ein Beispiel hierfür ist das Phosphoramidat (4), das von Anti-HIV-d4T (5) abgeleitet ist.
  81. In diesem Zusammenhang wurden die Auswirkungen von Änderungen des Phosphoramidats im Bereich des Esters, der Aminosäure und des Aryls sowie die Auswirkungen der Stereochemie der Aminosäure, des Phosphats und des Nukleosids beobachtet.
  82. Das Klagepatent beschreibt weiter, dass C et al. (Biochem Pharmacol., 2001, 61, 179-89) über die Anwendung der Methode mit Phosphoramidat-Arzneistoffvorläufern für antivirale Nukleoside auf das Anti-Herpes-Mittel Bromvinyl-2′-desoxyuridin (BVDU) (6) berichteten. Insbesondere haben sie festgestellt, dass das Phenylmethoxy
  83. alaninylphosphoramidat (7) eine erhebliche Aktivität gegen Krebs aufweist. Dies steht in deutlichem Gegensatz zum (antiviralen) Ausgangsnukleosid (6).
  84. Überraschenderweise wurde nun herausgefunden, dass andere Derivate von Oxyaminosäurephosphoramidatnukleosid-Analoga bei der Behandlung von Krebs wesentlich wirksamer sind als das Phenylmethoxyalaninylphosphoramidat (7).
  85. Die US 2 003 XXX XXX offenbart Verbindungen, Zusammensetzungen und Verfahren zur Behandlung von Krebs, Infektionskrankheiten, einer Autoimmunerkrankung oder einer entzündlichen Erkrankung.
  86. Das Klagepatent schlägt nun, ohne eine technische Aufgabe zu formulieren, in dem eingeschränkt aufrechterhaltenen Hilfsanspruch 13 nachfolgende Verbindungen vor:
  87. 1. Die chemische Verbindung hat die Formel I
  88. 2. R ist ausgewählt aus der Gruppe Alkyl, Aryl und Alkylaryl;
    3. R’ und R“ sind unabhängig ausgewählt aus der Gruppe H, Alkyl und Alkylaryl, oder R’ und R“ bilden zusammen eine Alkylenkette, so dass zusammen mit dem C-Atom, an das sie gebunden sind, ein cyclisches System bereitgestellt wird;
    4. Q ist aus der Gruppe -O- und -CH2-ausgewählt;
    5. X ist unabhängig ausgewählt aus der Gruppe F, Br, und Methyl(-CH3);
    6. Y ist F;
  89. 7. Ar ist eine monocyclische aromatische Ringgruppe oder eine fusionierte bicyclische aromatische Ringgruppe, wobei die Ringgruppen carbocyclisch oder heterocyclisch sind und gegebenenfalls substituiert sind;
    8. Z ist aus der Gruppe H, Alkyl und Halogen ausgewählt; und
    9. n ist 0 oder 1,
    a) wenn n 0 ist, ist Z’ -NH2 und zwischen Position 3 und Position 4 liegt eine Doppelbindung vor
    b) wenn n 1 ist, ist Z’=O.
  90. Die angegriffenen Ausführungsformen machen von der so beschriebenen Lehre nach dem Klagepatent unstreitig Gebrauch, so dass sich weitere Ausführungen hierzu erübrigen.
  91. B.
    Aus der Verletzung des Klagepatentes ergeben sich nachfolgende Rechtsfolgen:
  92. I.
    Da die Beklagten das Klagepatent widerrechtlich benutzt haben, sind sie gemäß Art. 64 EPÜ, § 139 Abs. 1 PatG zur Unterlassung der tenorierten Benutzungshandlungen verpflichtet. Gemäß § 139 Abs. 1 PatG kann der Verletzte denjenigen auf Unterlassung in Anspruch nehmen, der entgegen §§ 9 bis 13 PatG eine patentierte Erfindung benutzt.
  93. 1.
    Der geltend gemachte Unterlassungsanspruch nach § 139 Abs. 1 PatG ist nicht wegen des Einwands der Unverhältnismäßigkeit ausgeschlossen. Der Unverhältnismäßigkeitseinwand nach § 139 Abs. 1 Satz 3 PatG, der mit dem 2. Patentrechtsmodernisierungsgesetz vom 10. August 2021 (BGBl. v. 17. August 2021, Teil I Nr. 53) in das PatG eingeführt wurde, sieht vor:
  94. „Der Anspruch ist ausgeschlossen, soweit die Inanspruchnahme aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls und der Gebote von Treu und Glauben für den Verletzer oder Dritte zu einer unverhältnismäßigen, durch das Ausschließlichkeitsrecht nicht gerechtfertigten Härte führen würde. In diesem Fall ist dem Verletzten ein angemessener Ausgleich in Geld zu gewähren.“
  95. § 139 Abs. 1 Satz 3 PatG als Ausprägung von Treu und Glauben sanktioniert damit eine unzulässige Rechtsausübung. Voraussetzung ist, dass im Einzelfall die sofortige Befolgung des Unterlassungsgebots den Patentverletzer (oder Dritte) aufgrund besonderer Umstände über die mit der Unterlassung bestimmungsgemäß
  96. einhergehenden Beeinträchtigungen hinaus in einem Maße träfe und benachteiligte, das die unbedingte Untersagung als unzumutbar erscheinen lässt (BGH GRUR 2016, 1031 – Wärmetauscher). Dennoch darf die Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in § 139 PatG nicht zu einer Entwertung des Patentrechts führen; vielmehr soll die Einschränkung des Unterlassungsanspruchs – wie in der Rechtsprechung des BGH angelegt – auf besonders gelagerte Ausnahmefälle beschränkt bleiben (BT-Drucksache 19/25821 v. 13. Januar 2021, S. 31 und 52).
  97. Nach der Intention des Gesetzgebers handelt es sich bei § 139 Abs. 1 Satz 3 PatG um eine „gesetzgeberische Klarstellung“, wie der Regierungsentwurf an mehreren Stellen hervorhebt (BT-Drucksache 19/25821 v. 13. Januar 2021, S. 30 und 52, nachfolgend RegE). Auch für die Berücksichtigung von Drittinteressen stellt § 139 Abs. 1 Satz 3 PatG die bislang geltende Rechtslage lediglich klar. Entsprechend strenge Anforderungen legt der RegE an die Berücksichtigung von Drittinteressen an (BT-Drucksache 19/25821 v. 13. Januar 2021, S. 55):
  98. „Die Neuregelung sieht deshalb nunmehr ausdrücklich vor, dass neben den Interessen des Verletzten und des Verletzers auch die Interessen Dritter bei der Frage zu berücksichtigen sein können, ob der Unterlassungsanspruch ausnahmsweise aus Verhältnismäßigkeitserwägungen einzuschränken ist. Insoweit ist jedoch zu berücksichtigen, dass die bloße Beeinträchtigung von Interessen Dritter nicht ausreicht um den Unterlassungsanspruch des Verletzten auszuschließen. Denn auch (mittelbare) Nachteile für Dritte stellen eine regelmäßige Folge einer Unterlassungsverfügung dar, die grundsätzlich bei einer Patentverletzung hinzunehmen sind. Eine Beschränkung des Unterlassungsanspruchs kann deshalb nur in Fällen in Betracht kommen, in denen die Beeinträchtigung von Grundrechten Dritter für diese eindeutig eine solche Härte darstellt, die ausnahmsweise die uneingeschränkte Anerkennung des ausschließlichen Rechts und die Interessen des Patentinhabers zurücktreten lassen. Dies kann beispielsweise in Fällen relevant werden, in denen eine Unterlassungsverfügung dazu führt, dass die Versorgung von Patienten mit lebenswichtigen Produkten des Patentverletzers nicht mehr gewährleistet werden kann oder wichtige Infrastrukturen erheblich beeinträchtigt werden.“
  99. Auch nach der Reform des PatG kommt eine Berücksichtigung von Drittinteressen im Rahmen des Unterlassungsanspruchs damit nur im äußersten Einzelfall und allenfalls subsidiär nach Durchführung eines Zwangslizenzverfahrens in Betracht. Denn bereits aus rechtssystematischen Gründen darf der Unverhältnismäßigkeitseinwand durch Berücksichtigung von Patienteninteressen nicht zur Umgehung der Voraussetzungen einer Zwangslizenz führen. Entsprechendes hat die Schwesterkammer vor der Gesetzesreform mit Urteil vom 9. März 2017 (Az. 4a O 137/15) festgestellt:
  100. „Eine Zwangslizenz nach § 24 PatG ist gegenüber einer Aufbrauchfrist vorrangig. Die Regelung des § 24 PatG würde unterlaufen, wenn man nur auf der Basis der Interessen Dritter eine Aufbrauchfrist einräumt, ohne dass die Voraussetzungen von § 24 Abs. 1 PatG gegeben sind – also insbesondere, ohne dass der Patentverletzer sich erfolglos um eine Lizenz bemüht hat.“
  101. Hieran hat auch die Einführung des Satzes 3 zu § 139 Abs. 1 PatG nichts geändert. Der RegE selbst enthält hierzu zwar keine Ausführungen, sondern verweist lediglich auf die unterschiedlichen Rechtsfolgen der Institute (BT-Drucksache 19/25821 v. 13. Januar 2021, S. 55).
  102. In der Literatur (Kühnen, Hdb. der Patentverletzung, 14. Aufl. Kap. D 560) wird aber die Ansicht vertreten, dass die Durchführung eines Zwangslizenzverfahrens erforderlich ist, bevor entgegenstehende Drittinteressen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung geprüft werden. Insoweit heißt es:
  103. „Bei der Unverhältnismäßigkeit einer Unterlassungsverurteilung aufgrund entgegenstehender Drittinteressen von Patienten kann es deshalb nur darum gehen, dann, wenn ein Zwangslizenzverfahren keinen Erfolg gehabt hat oder haben kann, weniger einschneidend in die Rechte des Verletzten einzugreifen, um zB eine vorübergehende, behutsame Umstellung der Patienten oder den Abschluss eigener Forschungen für eine Alternativlösung im Interesse der Patienten zu ermöglichen. Gestützt auf den Einwand der Unverhältnismäßigkeit kommt deshalb wegen solcher Umstände, die Gegenstand der Prüfung im Zwangslizenzverfahren sind, kein dauerhafter Anspruchsausschluss in Betracht, sondern allenfalls eine weniger einschneidende vorübergehende Versagung des Anspruchs auf Unterlassung. Sie muss freilich – abgesehen davon, dass dem Verletzer eine Fortsetzung seines deliktischen Tuns gestattet wird, was als solches nicht von ausschlaggebender Bedeutung sein kann – von objektivem Nutzen sein, zB dergestalt, dass eine Patientengruppe, die aktuell mit dem Verletzungsgegenstand medizinisch behandelt wird und deren Umstellung auf ein anderes Medikament nicht möglich oder nicht zumutbar ist, geordnet zu Ende therapiert werden kann.“
  104. Dem ist zuzustimmen. Denn die Einführung des Unverhältnismäßigkeitseinwandes darf nicht dazu führen, dass die spezialgesetzliche Regelung des § 24 PatG mit dessen Voraussetzungen und der Zuständigkeit des BPatG unterlaufen wird. Ansonsten würden die technisch nicht fachkundig besetzten Verletzungsgerichte gezwungen, inzident das Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen zu prüfen, insbesondere die Frage des öffentlichen Interesses, welches eine tiefgehende Auseinandersetzung mit technischen und häufig wohl pharmakologischen Fragestellungen bedarf. Denn über den Unverhältnismäßigkeitseinwand wegen möglicher bestehender Drittinteressen, welche in vielen Fällen dem öffentlichen Interesse des § 24 PatG entsprechen dürften, würde die Prüfung des öffentlichen Interesses auf die – an sich
  105. – nicht zuständigen Verletzungsgerichte verlagert, was nicht die Intention des Gesetzgebers sein kann.
  106. Mit dieser Ansicht werden auch nicht die gesetzgeberischen Vorstellungen bei der Einführung des § 139 Abs. 1 Satz 3 PatG unterlaufen. Denn der Schutz der Dritten erfolgt – bei Vorliegen der Voraussetzungen für eine Zwangslizenz – umfassend, da dem Patentverletzer über eine Zwangslizenz ein umfängliches Nutzungsrecht eingeräumt wird und somit die betroffenen Dritten umfassend geschützt werden können. Der Patentverletzer wird durch das Erfordernis, eine Zwangslizenzklage zu erheben, auch nicht unangemessen in die Pflicht genommen. Vielmehr ist dieser als Sachwalter der Drittinteressen anzusehen, weil es nur ihm und nicht auch den Dritten zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen selbst möglich ist, eine Klage auf Zwangslizenz einzureichen. Aufgrund seiner Position als Sachwalter ist ihm die Erhebung einer Zwangslizenzklage ohne weiteres zumutbar, um diese Interessen zu schützen, die ja gerade durch seine patentverletzenden Handlungen und einen diese umfassenden Unterlassungstitel bedroht werden.
  107. Dementsprechend bleibt der von den Beklagten begehrte vollständige Ausschluss des Unterlassungsanspruchs mangels erfolgreich durchgeführten Zwangslizenzverfahrens vor dem BPatG ohne Erfolg.
  108. 2.
    Ein vollständiger oder auch nur teilweiser Ausschluss des Unterlassungsanspruchs hat vorliegend allerdings auch keinen Erfolg, wenn eine Subsidiarität des Unverhältnismäßigkeitseinwand gegenüber einer Zwangslizenzklage nicht zugrunde gelegt wird. Denn die Voraussetzungen für ein Durchgreifen des Unverhältnismäßigkeitseinwands, der zu einer vollständigen oder teilweisen Begrenzung des Unterlassungsausspruchs führen könnte, liegen nicht vor.
  109. Dem Unverhältnismäßigkeitseinwand liegt eine umfassende Gesamtabwägung zugrunde. In diese sind das Interesse des Patentinhabers am Unterlassungsanspruch, die Art und der Umfang des Eingriffs in das geschützte Recht, das angegriffene Produkt und das Verhältnis zur geschützten technischen Lehre/Komplexität, wirtschaftliche Auswirkungen des Nutzungsverbots beim Verletzer, subjektive Elemente auf Seiten von Patentinhaber und Verletzer sowie die Drittinteressen einzustellen.
  110. Auf Seiten des Patentinhabers ist in die Betrachtung einzubeziehen, ob bis zur Geltendmachung eines Unterlassungsanspruchs ungerechtfertigt abgewartet wird, so
  111. dass bereits erhebliche Investitionen auf Seiten des Verletzers getroffen wurden. Auf Seiten des Patentverletzers sind zwar kein objektives Verschulden, aber subjektive Elemente zu berücksichtigen und hierbei die Frage, ob zumutbare Vorkehrungen zur Vermeidung einer Verletzung getroffen wurden, wie das Bemühen um den Abschluss einer Lizenzvereinbarung, die Suche nach Ausweichlösungen und das vorprozessuale Verhalten. Der Schutz von Drittinteressen allein ist nicht ausschlaggebend. Denn nach der Konzeption des RegE muss auch der Verletzer, der sich auf die angebliche Unverhältnismäßigkeit des Unterlassungsanspruchs beruft, sein Verhalten an Treu und Glauben messen lassen. In diesem Zusammenhang kann sich der Verletzer nicht einfach hinter Drittinteressen verstecken, wenn die Herbeiführung der Nachfrage bedürftiger Dritter von ihm selbst geschaffen worden ist (vgl. Schacht, GRUR 2021, 440, 445, Anlage HE 21). Die Interessen Dritter können daher nicht unabhängig vom Verhalten des Patentverletzers berücksichtigt werden. Im eigenen Verhalten des Verletzers muss zum Ausdruck kommen, sich ernstlich für die Interessen der Patienten einsetzen zu wollen. Denn gerade bei lebenswichtigen Medikamenten muss der Verletzer den risikoärmsten Weg wählen, damit den Patienteninteressen Genüge getan werden kann. D.h. er muss sich um Alternativlösungen bemühen und wenn dies aufgrund regulatorischer Anforderungen nicht möglich ist, jedenfalls ernsthaft eine Lizenznahme ersuchen.
  112. Diese Grundsätze berücksichtigend gibt es keinen Anlass über den Unverhältnismäßigkeitseinwand weniger einschneidend in die Rechte der betroffenen Patienten einzugreifen.
  113. Im Rahmen der Gesamtabwägung ist der Klägerin kein „Fehlverhalten“ vorzuwerfen. Sie hat mit der klageweisen Geltendmachung ihrer Ansprüche nicht abgewartet, sondern kurz nach Vorliegen der erstinstanzlichen Entscheidung im Einspruchsverfahren Klage erhoben. Zwar wäre eine frühere Klageerhebung möglich gewesen. Das Klagepatent, welches am 20. Juli 2004 angemeldet wurde, wurde jedoch erst erteilt (28. März 2018) als die angegriffene Ausführungsform (vgl. X seit 15. Februar 2014) schon auf dem Markt war, so dass Investitionen auf Seiten der Beklagten schon getroffen waren. Gegen die Klägerin kann ferner nicht angeführt werden, dass sie selbst nicht mit einem Arzneimittel auf dem Markt ist, welches von der Lehre nach dem Klagepatent Gebrauch macht. X
  114. Die Beklagten können demgegenüber zwar grundsätzlich den Schutz der Patienten als Drittinteressen für sich beanspruchen, welche unstreitig im Hinblick auf die Patientengruppe mit schwerer dekompensierter Leberzirrhose und derjenige der DAA-
  115. Therapieversager mangels Alternativlösung auf die Behandlung mit den angegriffenen Ausführungsformen angewiesen sind.
  116. Es kann allerdings nicht festgestellt werden, dass sie ihren Pflichten nachgekommen sind und sich ernsthaft um eine Lizenznahme bemüht haben.
  117. Die Frage, ob sich der Lizenzsucher ausreichend um eine Lizenz bemüht hat, ist vergleichbar zu dem bei § 24 PatG vorausgesetzten Bemühen um eine Lizenz zu angemessenen geschäftsüblichen Bedingungen. Der Lizenzsucher muss sich dort zuerst um eine Lizenz zu angemessenen geschäftsüblichen Bedingungen bemüht haben, bevor er die Erteilung einer Zwangslizenz durch staatlichen Hoheitsakt beantragt. Seine Lizenzbemühungen müssen folglich auf die Erteilung einer üblichen Lizenz gerichtet sein, wie sie im Rahmen der freien Lizenzierbarkeit (§ 15 PatG, vgl. auch Art. 28 II TRIPS) vereinbart wird (vgl. BPatG, GRUR 2017, 313 – Isentress).
  118. Bei der Frage, ob sich der Lizenzsucher ausreichend um eine solche Lizenz zu angemessenen geschäftsüblichen Bedingungen bemüht hat, ist naturgemäß in erster Linie auf die Perspektive des Lizenzsuchers abzustellen. Von ihm werden nur Bemühungen um eine Lizenz zu Bedingungen verlangt werden können, die ein vernünftiger und wirtschaftlich handelnder Dritter an seiner Stelle zu tragen bereit wäre. Kein Bemühen um eine Lizenz zu angemessenen und geschäftsüblichen Bedingungen im Sinne des § 24 Abs. 1 PatG würde etwa dann vorliegen, wenn das Verhalten des Lizenzsuchers erkennbar von zielgerichteten Bemühungen um eine „normale“ rechtsgeschäftliche Lizenz abweicht und bei objektiver Sicht den Schluss zulässt, dass es ihm nicht darum ging, eine Lizenz zu üblichen Bedingungen zu erhalten, sondern er nur zum Schein verhandelt hat, um beispielsweise einen Rechtsstreit hinauszuzögern. Möglich wäre die Annahme solcher Scheinverhandlungen auch, wenn der Lizenzsucher erkennbar von vornherein nur an einer staatlich verliehenen Zwangslizenz interessiert war, etwa in Erwartung eines Abschlags wegen der Nichtausschließlichkeit der Lizenz oder wegen der bei Zwangslizenzen nach wie vor gegebenen Möglichkeit, das Patent mit der Nichtigkeitsklage anzugreifen. Bestehen hierfür zureichende Anhaltspunkte, so werden ausreichende Lizenzbemühungen im Sinne des § 24 Abs. 1 PatG zu verneinen sein.
  119. Die Anforderungen an ernsthafte Bemühungen um eine Lizenz zu angemessenen geschäftsüblichen Bedingungen sind daher bei international geführten Verhandlungen angesichts der Vielgestaltigkeit von möglichen Verhandlungssituationen, -hintergründen, -mentalitäten, -kulturen usw. nicht zu eng anzusetzen. Insbesondere
  120. wird man jedem Lizenzsucher Spielräume für individuelle unternehmerische Erwägungen ebenso wie auch Verhandlungsspielräume einräumen müssen (BPatG, a.a.O. – Isentress).
  121. Legt man diese Grundsätze, was sachgerecht ist, dem vorliegenden Sachverhalt zugrunde kann ein ernsthaftes Bemühen der Beklagten um eine Lizenz zu angemessenen geschäftsüblichen Bedingungen nicht festgestellt werden.
  122. X
  123. X
  124. X
  125. In Anbetracht dieses X Bemühens, welches sich auch darin zeigt, dass die Beklagten kein Eilverfahren nach § 85 PatG vor dem BPatG angestrengt haben, was man allerdings von einem Sachwalter der Dritt-/Patienteninteressen erwarten kann und auch vor dem Hintergrund, dass X
  126. ist auf Seiten der Beklagten ein hinreichendes Bemühen nicht zu erkennen, so dass der Unverhältnismäßigkeitseinwand weder eine vollständige noch eine teilweise Versagung des Unterlassungsanspruchs begründen kann. Der Kammer ist dabei bewusst, dass dies für einzelne Patientengruppen eine große Härte bedeutet, die gerade durch den Einwand der Unverhältnismäßigkeit abgemildert werden sollte. Bei der Frage der Drittinteressen und insbesondere des Interesses von betroffenen Patienten darf jedoch, wie ausgeführt, das Verhalten des Patentverletzers nicht außer Betracht bleiben und dies führt vorliegend dazu, dass eine umfängliche Unterlassung auszusprechen ist.
  127. 2.
    Die Klägerin hat gegen die Beklagten dem Grunde nach einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz, der aus Art. 64 EPÜ i.V.m. § 139 Abs. 2 PatG folgt. Als Fachunternehmen hätten die Beklagten die Patentverletzung bei Anwendung der im Geschäftsverkehr erforderlichen Sorgfalt zumindest erkennen können, § 276 BGB.
  128. Da überdies durch die rechtsverletzenden Handlungen der Beklagten die Entstehung eines Schadens hinreichend wahrscheinlich ist, der durch die Klägerin aber noch nicht beziffert werden kann, weil sie den Umfang der rechtsverletzenden Benutzungshandlungen ohne ihr Verschulden nicht im Einzelnen kennt, ist ein rechtliches Interesse der Klägerin an der Feststellung der Schadensersatzverpflichtung anzuerkennen, § 256 ZPO.
  129. Der Verletzer haftet für schuldhafte Benutzungshandlungen in der Zeit nach Veröffentlichung des Hinweises auf die Patenterteilung einschließlich einer einmonatigen Karenzzeit.
  130. 3.
    Der Anspruch auf Auskunft über die Herkunft und den Vertriebsweg der angegriffenen Ausführungsformen ergibt sich aufgrund der unberechtigten Benutzung des Erfindungsgegenstands unmittelbar aus Art. 64 EPÜ i.V.m. § 140b Abs. 1 PatG, der Umfang der Auskunftspflicht aus Art. 64 EPÜ i.V.m. § 140b Abs. 3 PatG. Die weitergehende Auskunftspflicht folgt aus Art. 64 EPÜ i.V.m. §§ 242, 259 BGB. Damit die Klägerin in die Lage versetzt wird, ihren Schadensersatzanspruch zu beziffern, steht ihr gegen die Beklagten ein Anspruch auf Auskunft im zuerkannten Umfang zu. Die Klägerin ist auf die Angaben angewiesen, über die sei ohne eigenes Verschulden nicht verfügt; die Beklagten werden durch die von ihnen verlangten Auskünfte nicht unzumutbar belastet.
  131. Die Klägerin kann Auskunft und Rechnungslegung – auch zusätzlich – in elektronischer Form beanspruchen (vgl. Kühnen, Hdb, der Patentverletzung, 14. Aufl. Kap. D Rn. 884). Angesichts der weitgehenden Digitalisierung der Geschäftswelt kann der Gläubiger des Auskunfts- und Rechnungslegungsanspruchs regelmäßig vom Schuldner desselben verlangen, die Auskunft und Rechnungslegung in elektronisch auswertbarer Form zu erhalten. Als elektronisch auswertbare Form ist hierbei eine Form zu verstehen, bei der die Daten von einem Computer unmittelbar ausgewertet werden können – also beispielsweise Microsoft Excel. Nicht genügend ist dagegen die Übermittlung von digitalisierten Fotos oder Scans schriftlicher Dokumente (außer im Rahmen der Belegvorlage; so auch: LG Düsseldorf, Mitt. 2018, 73 Rn. 224 f. = BeckRS 2017, 142249; a.A.: OLG Karlsruhe, Urt. v. 24. Februar 2016 – 6 U 51/14, BeckRS 2016, 14986 Rn. 57; LG Mannheim, Urt. v. 3. August 2018 – 7 O 150/17, BeckRS 2018, 30053 Rn. 44). Es entspricht den heutigen Gepflogenheiten im Geschäftsverkehr, dass die entsprechenden Daten beim Schuldner bereits digital verfügbar sind. Dementsprechend ist es ihm regelmäßig möglich und zumutbar, dem
  132. Gläubiger dasjenige elektronische Element zu überlassen, das ohnehin die Basis einer Auskunftserteilung und Rechnungslegung in Papierform bildet. Der Schuldner wird hierdurch offensichtlich nicht belastet und dem Gläubiger wird die Verwertung der Auskünfte zum Zwecke der weiteren Rechtsverfolgung entscheidend erleichtert. Liegen die entsprechenden Daten dem Schuldner ausnahmsweise nur in analoger Form vor, ist es ihm ein Leichtes, dies im Verletzungsprozess einzuwenden und seinen Einwand mit entsprechendem Sachvortrag zu untermauern. Unterbleibt dies, wie hier, besteht regelmäßig kein Grund, dem Gläubiger einen Anspruch auf Auskunftserteilung und Rechnungslegung in elektronischer Form zu versagen (OLG Düsseldorf, Urt. v. 25. Juni 2020, I-2 U 54/19, GRUR-RS 2020, 44647).
  133. Der Wirtschaftsprüfervorbehalt war auch auf Angebotsempfänger zu erstrecken, wobei es sich hierbei um eine rein redaktionelle Änderung handelt, da die Klägerin bereits beantragt hatte, dass der Wirtschaftsprüfer auf konkrete Anfrage mitzuteilen hat, „ob ein bestimmter Abnehmer oder Angebotsempfänger in der Aufstellung enthalten ist“, und es sich daher um ein offensichtliches Versehen handelt, dass die Angebotsempfänger nicht genannt wurden.
  134. Weiterhin war durch Streichung des Worts „insbesondere“ vor der Aufzählung der zu machenden Angaben klarzustellen, dass die aufgezählten Daten abschließen die geschuldete Rechnungslegung definieren und nicht nur beispielshaft sind.
  135. Soweit die Beklagten mit der Duplik ferner geltend gemacht haben, dass die Auskunft- und Rechnungslegung vor dem Hintergrund schutzbedürftiger Geheimhaltungsinteressen zu beschränken sei, wird diesem durch den Umstand entsprochen, dass sich die Klägerin in der mündlichen Verhandlung damit einverstanden erklärt hat (vgl. Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 17. Mai 2022),
    X
    so dass etwaigen Geheimhaltungsinteressen der Beklagten hinreichend Genüge getan wird.
  136. 4.
    Der gegen die Beklagten gerichtete Anspruch auf Rückruf und Entfernung aus Art. 64 EPÜ i.V.m. § 140a Abs. 3 PatG ist vorliegend ebenso zuzuerkennen, wie derjenige auf Vernichtung gegen die Beklagte zu 2). Die Beklagten haben gegenüber den genannten Ansprüchen den Unverhältnismäßigkeitseinwand erhoben, der allerdings – wie ausgeführt – keinen Erfolg hat. Andere Argumente, welche die Unverhältnismäßigkeit der Ansprüche auf Rückruf/Entfernung und Vernichtung begründen könnten, wurden nicht vorgetragen.
  137. Sofern sich die Beklagten dagegen wenden, dass der Anspruch auf Entfernung aus den Vertriebswegen – Antrag zu Ziffer. I.5.b) – unbestimmt sei, entspricht die Formulierung dem Gesetzeswortlaut des § 140a Abs. 3 PatG, was nach gängiger Praxis den Bestimmtheitsgrundsätzen genügt (vgl. OLG Karlsruhe, Urt. v. 8. April 2015, 6 U 92/13).
  138. C.
    Es besteht keine Veranlassung zur Aussetzung des Rechtsstreits, da es nicht hinreichend wahrscheinlich ist, dass die geltend gemachte Fassung des Klagepatents wegen der Widerrufsgründe der unzulässigen Erweiterung, der unzureichenden Offenbarung und mangelnder Erfindungshöhe von der Technischen Beschwerdekammer vollständig vernichtet werden wird (nachfolgend I.). Ferner besteht kein Anlass zur Aussetzung wegen der von den Beklagten erhobenen Zwangslizenzklage zum Bundespatentgericht (nachfolgend II.).
  139. I.
    Nach Auffassung der Kammern (Mitt. 1988, 91 – Nickel-Chrom-Legierung, BlPMZ 1995, 121 – Hepatitis-C-Virus), die durch das Oberlandesgericht Düsseldorf (GRUR 1979, 188 – Flachdachabläufe; Mitt. 1997, 257, 258 – Steinknacker) und den Bundesgerichtshof (GRUR 1987, 284 – Transportfahrzeug; GRUR 2014, 1237 ff. – Kurznachrichten) bestätigt wurde, stellen ein Einspruch gegen das Klagepatent oder die Erhebung der Nichtigkeitsklage als solche noch keinen Grund dar, den Verletzungsrechtsstreit auszusetzen, da dies faktisch darauf hinauslaufen würde, dem Angriff auf das Klagepatent eine den Patentschutz hemmende Wirkung beizumessen, die dem Gesetz fremd ist (§ 58 Abs. 1 PatG). Die Interessen der Parteien sind vielmehr gegeneinander abzuwägen.
  140. Wenn das Klagepatent mit einem Einspruch oder mit einer Patentnichtigkeitsklage angegriffen ist, verurteilt das Verletzungsgericht, wenn es eine Verletzung des in Kraft stehenden Patents bejaht, grundsätzlich nur dann wegen Patentverletzung, wenn es eine Nichtigerklärung nicht für (hinreichend) wahrscheinlich hält; andernfalls hat es die Verhandlung des Rechtsstreits nach § 148 ZPO auszusetzen, bis jedenfalls erstinstanzlich über die Nichtigkeitsklage entschieden ist (BGH, GRUR 2014 1238 – Kurznachrichten). Denn eine – vorläufig vollstreckbare – Verpflichtung des Beklagten zur Unterlassung, Auskunftserteilung, Rechnungslegung, zum Rückruf sowie zur Vernichtung patentgemäßer Erzeugnisse ist regelmäßig nicht zu rechtfertigen, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten steht, dass dieser Verurteilung durch die Nichtigerklärung des Klagepatents die Grundlage entzogen werden wird. Der aus
  141. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) in Verbindung mit den Grundrechten folgende und damit verfassungsrechtlich verbürgte Justizgewährungsanspruch gebietet es, dem Verletzungsbeklagten wirkungsvollen Rechtsschutz zur Verfügung zu stellen, wenn er sich gegen den Angriff aus dem Klagepatent mit einem Gegenangriff auf den Rechtsbestand dieses Patents zur Wehr setzen will. Dies erfordert nicht nur eine effektive Möglichkeit, diesen Angriff selbst durch eine Klage auf Nichtigerklärung bzw. durch Erhebung eines Einspruchs führen zu können, sondern auch eine angemessene Berücksichtigung des Umstands, dass in diesem Angriff auch ein – und gegebenenfalls das einzige – Verteidigungsmittel gegen die Inanspruchnahme aus dem Patent liegen kann. Wegen der gesetzlichen Regelung, die für die Ansprüche nach §§ 139 ff. PatG lediglich ein in Kraft stehendes Patent verlangt und für die Beseitigung dieser Rechtsposition nur die in die ausschließliche Zuständigkeit des Patentgerichts fallende Nichtigkeitsklage zur Verfügung stellt, kann der Angriff gegen das Klagepatent anders als in anderen Rechtsordnungen nicht als Einwand im Verletzungsverfahren oder durch Erhebung einer Widerklage auf Nichtigerklärung geführt werden. Dies darf indessen nicht dazu führen, dass diesem Angriff jede Auswirkung auf das Verletzungsverfahren versagt wird. Die Aussetzung des Verletzungsstreits ist vielmehr grundsätzlich, aber auch nur dann geboten, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass das Klagepatent dem erhobenen Einspruch/der anhängigen Nichtigkeitsklage nicht standhalten wird (BGH, GRUR 2014, 1238 – Kurznachrichten).
  142. Wurde das Klagepatent bereits in einem Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren bestätigt, so hat das Verletzungsgericht grundsätzlich die von der zuständigen Fachinstanz (DPMA, EPA, BPatG) nach technisch sachkundiger Prüfung getroffene Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Klagepatents hinzunehmen.
  143. Grund, die parallele Rechtsbestandsentscheidung in Zweifel zu ziehen und von einer Verurteilung vorerst abzusehen, besteht nur dann, wenn das Verletzungsgericht die Argumentation der Einspruchs- oder Nichtigkeitsinstanz für nicht vertretbar hält oder wenn der Angriff auf den Rechtsbestand nunmehr auf (z.B. neue) erfolgversprechende Gesichtspunkte gestützt wird, die die bisher mit der Sache befassten Stellen noch nicht berücksichtigt und beschieden haben (OLG Düsseldorf, Urt. v. 6. Dezember 2012, Az.: I-2 U 46/12, BeckRS 2013, 13744; Kühnen, a.a.O. Kap. E, Rn. 720). Im Regelfall ist es nicht angängig, den Verletzungsrechtsstreit trotz der erstinstanzlichen Aufrechterhaltung des Schutzrechts auszusetzen und von einer Verurteilung (vorerst) abzusehen, indem das Verletzungsgericht seine eigene Bewertung des technischen Sachverhaltes an die Stelle der ebenso gut vertretbaren Beurteilung durch die zuständige Einspruchs- oder Nichtigkeitsinstanz setzt (zum Verfügungsverfahren:
  144. OLG Düsseldorf, Urt. v. 31. August 2017, Az.: I-2 U 71/16, BeckRS 2017,129336; Urt. v. 05. Juli 2018, Az.: I-2 U 41/17; Urt. v. 19. Februar 2016, Az.: I-2 U 55/15, BeckRS 2016, 06345; Urt. v. 18. Dezember 2014, Az.: I-2 U 60/14, BeckRS 2015, 01029; Urt. v. 10. November 2011, Az.: I-2 U 41/11). Geht es nicht darum, dass z.B. Passagen einer Entgegenhaltung von der Einspruchsabteilung oder dem Bundespatentgericht übersehen und deshalb bei seiner Entscheidungsfindung überhaupt nicht in Erwägung gezogen worden sind, sondern dreht sich der Streit der Parteien darum, welche technische Information dem im Bestandsverfahren gewürdigten Text aus fachmännischer Sicht zu entnehmen ist und welche Schlussfolgerungen der Durchschnittsfachmann hieraus aufgrund seines allgemeinen Wissens zu ziehen imstande gewesen ist, sind die Rechtsbestandsinstanzen aufgrund der technischen Vorbildung und der auf dem speziellen Fachgebiet gegebenen beruflichen Erfahrung ihrer Mitglieder eindeutig in der besseren Position, um hierüber ein Urteil abzugeben. Es ist daher prinzipiell ausgeschlossen, dass sich das Verletzungsgericht mit (notwendigerweise laienhaften) eigenen Erwägungen über das Votum der technischen Fachleute hinwegsetzt (OLG Düsseldorf, Urt. v. 22. März 2019, Az.: I-2 U 31/16, BeckRS 2019, 6087).
  145. Ausgehend von diesen Grundsätzen kommt eine Aussetzung des Rechtsstreits bis zum rechtskräftigen Abschluss des Einspruchsbeschwerdeverfahrens vorliegend nicht in Betracht. Die von den Beklagten gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung erhobenen Einwände führen die nicht fachkundig besetzte Kammer nicht zu der Auffassung, dass die Entscheidung nicht mehr vertretbar wäre. Die mit der Entscheidung geäußerte Auffassung der Einspruchsabteilung erscheint der Kammer nachvollziehbar. Neue Einwände gegen den Rechtsbestand des Klagepatents im hier streitgegenständlichen Umfang haben die Beklagten (bisher) nicht erhoben. Im Einzelnen:
  146. 1. Unzulässige Erweiterung
  147. Die Kammer vermag zunächst nicht festzustellen, dass der Einwand der unzulässigen Erweiterung durch die Einspruchsabteilung unzureichend gewürdigt und beurteilt worden ist.
  148. Die Beklagten vertreten die Ansicht, dass durch die Präzisierung, dass Y gleich F ist, von der Klägerin eine zweifache Auswahl getätigt worden sei: erstens dadurch, dass gerade Y und nicht X beschränkt wurde; und zweitens dadurch, dass Y gerade auf F beschränkt wurde anstelle einer der anderen Alternativen für diese Position. Ferner sei eine Auswahl aus der ursprünglichen Definition von X vorgenommen worden. Eine
  149. weitere Auswahl sei von der Klägerin getätigt worden, indem präzisiert wurde, dass die Verbindung ein Salz oder Ester anstelle eines Metabolits oder eines anderen Derivats sein kann. Anspruch 1 wie ursprünglich eingereicht spezifiziere, dass „X und Y unabhängig ausgewählt werden aus der Gruppe umfassend H, F, Cl, Br, I, OH und Methyl (-CH3)“. Im Laufe des Prüfungsverfahrens sei dieser Text geändert worden, um zu präzisieren, dass „X unabhängig ausgewählt wird aus der Gruppe umfassend H, F, Cl, Br, I, OH und Methyl (-CH 3); Y ist F“. Die Entscheidung, Y als eine konkrete Alternative (F) aus einer Liste mehrerer Alternativen (H, F, Cl, Br, I, OH und Methyl) zu spezifizieren, stelle offensichtlich eine Listenauswahl dar. Nachdem bereits die Substituenten H, OH und I in den vorherigen Hilfsanträgen entfernt worden seien, habe die Klägerin in ihrem Hilfsantrag 13 (Anlage AR 13) auch die weitere Alternative, dass X gleich Cl ist, gestrichen; dadurch wird X so definiert , dass es nur aus F, Br und Methyl (Me) ausgewählt wird. Zusammen mit den Auswahlen, die getroffen werden müssen, dass Y fix F ist, stelle dies entgegen Artikel 123 Abs. 2 EPÜ eine grundlegend neue technische Lehre dar.
  150. Grundsätzlich gilt, dass, um den Voraussetzungen von Art. 123 Abs. 2 EPÜ zu entsprechen, eine europäische Patentanmeldung oder ein europäisches Patent nicht in einer Weise geändert werden darf, die dazu führt, dass nun ein Gegenstand erfasst wird, der über den Inhalt der eingereichten Anmeldung hinausgeht. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern lautet das Leitprinzip, dass das Streichen von in jeweiligen Listen aufgezählten Bedeutungen von Substituenten in einer generischen chemischen Formel nicht zum Herausgreifen einer bestimmten Kombination von jeweils einer einzigen spezifischen, ursprünglich nicht offenbarten Substituentenbedeutung führen darf. In der grundlegenden Entscheidung T 615/95 enthielt der Anspruch drei unabhängige Listen größeren Umfangs, in denen unterschiedliche Bedeutungen für drei Reste in einer allgemeinen Formel aufgelistet waren. Die ursprüngliche Bedeutung wurde aus allen drei Listen gestrichen. Eine solche Streichung wurde als zulässig erachtet, da die Streichungen nicht zur Abgrenzung einer Kombination bestimmter Bedeutungen führten; der verbleibende Gegenstand war eine allgemeine Gruppe von Verbindungen. Insofern gilt, dass eine Verkleinerung einer allgemeinen Gruppe nicht zu beanstanden ist, sofern keine spezielle, ursprünglich nicht offenbarte Kombination bestimmter Bedeutungen der jeweiligen Reste, d.h. keine neue Erfindung entsteht (vgl. auch T 859/94).
  151. Dass die Einspruchsabteilung von diesen Grundsätzen abgewichen ist, ist nicht zu erkennen. Mit Blick auf eine mehrfache Listenauswahl hat die Einspruchsabteilung nachvollziehbar dargelegt, dass man zunächst Y und X als getrennte Listen betrachten müsse und die Beschränkung von X auf F, Br und Methyl dazu führt, dass der
  152. Anspruch weiterhin generisch bleibt. Nicht offensichtlich unzutreffend ist daher die Annahme, dass lediglich eine Verkleinerung der Markush-Formel unter Beibehaltung der generischen Form vorgenommen wurde. Daran ändert auch die Auswahl des Substituenten Y auf F nichts. Denn hierdurch wird nicht eine bestimmte Kombination herausgegriffen, sondern der Rest bleibt generisch unabhängig von der Anzahl der nunmehr noch vorhandenen Kombinationsmöglichkeiten.
  153. Soweit die Beklagten darauf verweisen, dass statt der ursprünglichen 49-Kominationsmöglichkeiten der Substituenten X und Y, nunmehr nur noch drei Varianten im aufrechterhaltenen Anspruch des Hilfsantrages AR 13 zur Verfügung stehen würden, steht dieser Umstand den vorstehend dargestellten Grundsätzen nicht entgegen. Denn die Beschränkung der möglichen Anzahl von Verbindungen ist nicht erheblich, solange der Rest generisch bleibt, was vorliegend der Fall ist.
  154. Soweit die Parteien zur Begründung ihrer jeweiligen Ansicht auf unterschiedliche Entscheidungen der Technischen Beschwerdekammer verweisen, betrifft naturgemäß keine der aufgezeigten Entscheidungen die vorliegende Sachverhaltskonstellation. Insofern kann auch nicht abgeschätzt werden, welcher Entscheidungspraxis die Technische Beschwerdekammer im vorliegenden Fall zuneigen wird. Es ist insoweit auch nicht zu erkennen, dass die T 1160/18 vom 6. September 2021, auf welche die Beklagten mehrfach verwiesen haben, von der Technischen Beschwerdekammer als einzig maßgeblich erachtet wird. In der T1160/18 wurde im relevanten Anspruch eine Tagesdosis von 480 mg aus 8 unterschiedlichen Parameter-Endpunkten der ursprünglichen Offenbarung ausgewählt. Als ein weiteres Merkmal enthielt der erteilte Anspruch 1 eine Liste aus 14 Krankheiten, die behandelt werden sollten, wohingegen in der Beschreibung bzw. den Ansprüchen der ursprünglichen Anmeldung jedoch mindestens 20 Indikationen aufgelistet waren. Diese Auswahl stellt laut der Technischen Beschwerdekammer eine unzulässige Erweiterung dar.
  155. Ob die Technische Beschwerdekammer die dortige Schlussfolgerung auch im vorliegenden Fall ziehen wird, ist zumindest fraglich. Denn in der T 1160/18 stand keine Markush-Formel zur Beurteilung, sondern eine klassische Auswahl einer Kombination aus zwei unabhängigen Listen von Tagesdosierungen einerseits und Krankheiten andererseits, wobei die Tagesdosierung zudem einen aus einem Bereich entnommenen Endwert darstellte. Der der T 1160/18 zugrundliegende Sachverhalt unterscheidet sich daher von dem vorliegenden. Demgegenüber hat die Technische Beschwerdekammer in der T 783/09 ausgeführt, dass auch eine Beanspruchung von nur drei Kombinationen aus ursprünglich 44 keinen Verstoß gegen Art. 123 Abs. 2 EPÜ darstellt, sondern zulässig sein kann, insbesondere wenn – wie auch im vorliegenden Fall – den drei Kombinationen keine besondere Qualität gegenüber den 41 anderen zukommt.
  156. Eine unzulässige Erweiterung stellt auch nicht die Beschränkung auf ein pharmazeutisch verträgliches Salz, einen pharmazeutisch verträglichen Ester oder ein pharmazeutisch verträgliches Salz eines solchen Esters der Verbindung der Formel I dar, wie auch die Einspruchsabteilung unter Ziffer 3.2 der angefochtenen Entscheidung festgestellt hat. Ursprünglich wurde von der Klägerin ein pharmazeutisch verträgliches Derivat oder ein pharmazeutisch verträglicher Metabolit einer Verbindung der Formel I als zur Erfindung gehörig angemeldet. Die Formulierung „pharmazeutisch verträglicher Metabolit“ wurde später vollständig gestrichen und die Formulierung „pharmazeutisch verträgliches Derivat“ durch die auf Seite 4 Zeilen 12 bis 14 der Stammanmeldung WO 2005/XXX, nachfolgend unterstrichene Formulierung: by „a pharmaceutically acceptable derivative“ is meant any pharmaceutically acceptable salt, ester or salt of such ester or any other compound which upon administration to a recipient is capable of providing (directly or indirectly) a compound of formula (I)“ ersetzt. Insoweit mag zwar auch hier eine teilweise Beschränkung auf die vorstehend unterstrichene Formulierung vorgenommen worden sein. Allerdings bleibt nach der Streichung eine generische Formulierung zurück, was auch die Einspruchsabteilung angenommen hat.
  157. Ebenso wenig ist eine unzulässige Erweiterung mit Blick auf die Stereochemie an der C2-Position zu erkennen. Insofern ist von Seiten der Beklagten geltend gemacht worden, dass durch die Darstellung der Stereochemie an der Position C2 als nicht bestimmt der Schutzbereich der Markush-Formel erweitert wurde. Das überzeugt nicht, wie die Einspruchsabteilung nachvollziehbar erläutert hat. Denn eine unzulässige Erweiterung liegt bereits nicht vor, da die Strukturformel I sowohl in den Anmeldeunterlagen wie auch in der erteilten und eingeschränkt aufrechterhaltenen Fassung vollständig übereinstimmen.
  158. Ferner kann dem Klagepatent nicht entnommen werden, dass die Markush-Formel der Formel I eine konkrete Orientierung in der Weise zeigt, dass sich der Substituent X oberhalb und der Substituent Y unterhalb der Zeichenebene in der Hayworth-Projektion befinden müssen. Eine konkrete Anordnung lässt sich der Formel nicht entnehmen. Vielmehr dürfte die Stereochemie der Substituenten in der C2-Position offen sein, da die Striche in der C2-Position, welche die Anordnung der Substituenten X und Y wiedergeben, eine nicht näher definierte Richtung aufweisen, was daran deutlich wird, dass die Anordnung der Substituenten an den weiteren C-Atomen der Ribose klar definiert sind – nach oben oder unten.
  159. Die Beklagten verweisen für ihre gegenteilige Ansicht auf den vom Klagepatent in Bezug genommenen Stand der Technik in Abs. [0002]. Dort wird auf Nukleosidanaloga Bezug genommen und in der Figur 2 Cytarabin – wie einleitend bei der Beschreibung des Standes der Technik gezeigt – zeichnerisch dargestellt. Zwar ist dort die Hydroxylgruppe in der C2-Position schräg gezeichnet und dem Fachmann insoweit auch bekannt, dass die Struktur von Cytarabin „2‘-OH-oben“ entspricht. Daraus kann allerdings nicht der Schluss gezogen werden, dass im Anspruch in der Markush-Formel in der C2-Position X auch nach oben und Y nach unten gerichtet sein muss. Zweifelhaft hieran ist bereits der Umstand, dass ein offen gefasster Anspruch – hier die Markush-Formel – allein mit Blick auf den Stand der Technik und das dortige fachmännische Verständnis ausgelegt und hier beschränkt wird. Die zeichnerische Darstellung von X und Y in der Markush-Formel I im Anspruch, welcher für die Auslegung maßgeblich ist, die im Vergleich zu den weiteren Positionen an der Ribose keine konkrete Ausrichtung zeigt, verdeutlicht demgegenüber, dass die konkrete Anordnung offen ist, was vor dem Hintergrund, dass X und Y in der angemeldeten Fassung ursprünglich die gleichen Substituenten aufwiesen, auch Sinn macht. Insofern kann das von der Einspruchsabteilung getroffene Ergebnis nicht als offensichtlich unrichtig angenommen werden.
  160. 2. Unzureichende Offenbarung
  161. Es kann ferner nicht festgestellt werden, dass die Einspruchsabteilung den Einwand der unzureichenden Offenbarung nach Art. 83 EPÜ unzutreffend gewürdigt hat.
  162. Um Artikel 83 EPÜ zu genügen, muss es möglich sein, die Erfindung auf der Grundlage der ursprünglichen Anmeldungsunterlagen ohne erfinderisches Zutun und ohne unzumutbaren Aufwand nachzuarbeiten (T 692/05). Der Fachmann kann die in der Anmeldung enthaltenen Informationen durch sein allgemeines Fachwissen vervollständigen (T 206/83, T 212/88), aber Informationen, die erst durch eine umfassende Recherche gefunden werden können, sind nicht dem allgemeinen Fachwissen zuzurechnen (T 206/83, T 654/90). Dokumente, die nicht zum allgemeinen Fachwissen gehören und auf die in der Anmeldung in der eingereichten Fassung nicht Bezug genommen wird, können nicht zur Klarheit und Vollständigkeit der Offenbarung beitragen. Nach der Rechtsprechung der Technischen Beschwerdekammern ist bei der Beurteilung der Frage, ob die Erfindung hinreichend deutlich und vollständig offenbart ist, ein Herumexperimentieren in gewissen Grenzen vertretbar, zum Beispiel auf einem noch unerforschten Gebiet oder wenn große technische Schwierigkeiten vorliegen. Die Beschreibung oder das allgemeine Fachwissen müssen jedoch dem
  163. Fachmann eine brauchbare Anleitung liefern, die ihn nach Auswertung anfänglicher Fehlschläge zwangsläufig und ohne Umwege zum Erfolg führt (T 226/85; T 14/83; T 48/85; T 307/86 und T 326/04). Wenn der Fachmann nur durch Herumexperimentieren feststellen kann, ob er die vielen Parameter so gewählt hat, dass sich ein befriedigendes Ergebnis einstellt, ist dies ein unzumutbarer Aufwand (T 32/85).
  164. Die Darlegungslast für den Einwand unzureichender Offenbarung und damit auch für die Ausführbarkeit durch den Fachmann liegt beim Einsprechenden. Dieser muss nachweisen, dass bei Abwägen der Wahrscheinlichkeit ein fachkundiger Leser des Patents anhand seines allgemeinen Fachwissens nicht in der Lage wäre, die Erfindung auszuführen. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Einspruchsabteilung die genannten Grundsätze unzutreffend oder gar nicht angewandt hat.
  165. Die Einspruchsabteilung vertritt zusammengefasst die Ansicht (vgl. Anlage HE 4a unter Ziffer 4.), dass die offenbarte Synthese der Beispielverbindungen CPF-31, CPF-40 und CPF-41 unter Verwendung von „Gemcitabin“ (das ein 2′,2′-Difluor-Substitutionsmuster aufweist) als Ausgangsnukleosid den Fachmann veranlassen würde, eine analoge Route zu erwägen, mit der ein Nukleosid mit dem in der Diskussion stehenden 2′-Me-2′-F-Substitutionsmuster erhalten wird. Die Einspruchsabteilung fand den Nachweis, dass die analoge Gemcitabin-Route durchführbar ist, ohne dass eine Auswahl getroffen werden muss – weder beim Ausgangsmaterial noch bei den Reagenzien oder Bedingungen – überzeugend und konnte der Ansicht nicht folgen, dass die Durchführung einer analogen Synthese in 8-10 Schritten einen unzumutbaren Aufwand darstellt, obwohl die analoge Route über viele nicht offengelegte Schritte führt.
  166. Diese Begründung ist ohne weiteres nachvollziehbar und es ist für die Kammer eine offensichtliche Unrichtigkeit nicht feststellbar.
  167. Das Klagepatent offenbart unstreitig, wie ein Nukleosid phosphoramidiert wird. Nach dem in Abs. [0085] des Klagepatentes beschriebenen Standardverfahren 5 (Synthese von Phosphoramidat-Derivaten) wird ein Nucleosid der Formel III mit einer Phosphoramidatgruppe der Formel IV umgesetzt, wie nachfolgende, dem Klagepatent
    entnommene Zeichnung zeigt.
  168. Das Klagepatent offenbart drei konkrete anspruchsgemäße Verbindungen, die ausgehend von dem Nucleosid Gemcitabin mit dem Standardverfahren 5 synthetisiert wurden, nämlich die Verbindungen CPF 31 (Abs. [0193]):
  169. CPF 40 ([0195]) und CPF 41 ([0197]). Alle drei Verbindungen weisen an der 2‘-Position des Pentoserings zwei Fluoratome auf. Ausgangspunkt für alle drei Verbindungen ist Gemcitabin. Gemcitabin ist im Klagepatent daher als einziger Ausgangspunkt für eine erfindungsgemäße Difluorverbindung genannt.
  170. Hiervon ausgehend konnte der Fachmann entweder eine Synthese über die Difluor-Verbindung wählen, wobei ihm dabei unweigerlich bewusst war, dass es erheblicher Anstrengungen bedarf das Substitutionsmuster einer Difluor-Verbindung aufgrund deren Inertheit zu verändern. Dies ist – wie zwischen den Parteien unstreitig ist – nur unter extremen Reaktionsbedingungen unter der Gefahr zu bewerkstelligen, dass Nebenreaktionen an den weiteren Substituenten erfolgen. Diese könnten zwar über Schutzgruppen vor den Reaktionsbedingungen geschützt werden, was allerdings mit erheblichem Aufwand verbunden ist.
  171. Als Alternative ist es daher ohne weiteres nachvollziehbar, was auch die Einspruchsabteilung angenommen hat, dass der Fachmann eine Abänderung der Gemcitabin-Route und zwar von deren Beginn an, in Betracht ziehen würde.
  172. Die Gemcitabin-Herstellung war dem Fachmann aufgrund der Primärliteratur „XXX“ (Anlage D 88)
  173. und den dort genannten Veröffentlichung von XXX (Anlagen D 54und D 90) bekannt. Der Fachmann musste daher lediglich die Ausgangsverbindung ändern, wenn er ein alternatives Substitutionsmuster in der 2‘-Position erzielen wollte. Die Ausgangsverbindung für Gemcitabin ist der Bromdifluoressigsäureethylester BrCF2COOEt, die Ausgangsverbindung für Sofosbuvir der Bromfluormethylessigsäureethylester BrCFMeCOOEt. Letzteren konnte der Fachmann aufgrund seines Fachwissens ohne weiteres herstellen oder ihn in der CAS-Datenbank nachschlagen, wo er seit Mai 1987 unter der Nummer 108221-67-6 geführt wird und auch eine Herstellvorschrift referenziert ist (vgl. Anlage D 93). Weitere Anpassungen der Hertel-Synthese, welche in der allgemeinen Fachliteratur, dem Merck-Index (Anlage D 88) als Primärliteratur zitiert ist, waren nicht erforderlich, wie die nachfolgende, von der Einspruchsabteilung in der angefochtenen Entscheidung wiedergegebene Darstellung zeigt:
  174. Die linke Seite zeigt die Gemcitabin-Synthese, wie sie aus dem Stand der Technik bekannt war; die rechte Darstellung gibt den Weg für die analoge Gemcitabin-Synthese wieder, bei welcher zunächst die Verbindung 7 mit BrCFMeCOOEt umgesetzt wird. Bei beiden Synthesen, der Gemcitabin-Route und der analogen Gemcitabin-Route wird ein Lacton (5 bzw. 6) erhalten, welches zu Gemcitabin bzw. der 2’-Fluor/Me-Verbindung führt.
  175. Der Einwand der Beklagten, dass in der CAS-Datenbank (Anlage D 94) – wie nachfolgend wiedergegeben – „nur“ die Umsetzung mit Butyraldehyd (BuCHO), einem einfachen geradkettigen Aldehyd, offenbart würde, überzeugt nicht.
  176. Die Reformatsky-Reaktion von BrCFMeCOOEt funktioniert mit dem gleichen Aldehyd und unter den gleichen Bedingungen genauso wie die Reformatsky-Reaktion von BrCF2COOEt in der Hertel-Synthese (Anlage D 54), und es ist nicht aufgezeigt worden, dass diese Standardreaktion gerade mit dem Aldehyd aus der Gemcitabin-Synthese nicht funktionieren sollte; entsprechendes zeigt auch die Erklärung von X (Anlage D 87).
  177. Der Fachmann konnte daher statt als Ausgangspunkt den Bromdifluoressigsäureethylester BrCF2OOEt die Bromfluormethyl-Verbindung einsetzen. Die weiteren Reaktionsschritte bedurften keiner Anpassung. Resultat dieser Reaktionsfolge ist dann eine 2’F/Me-substitutierte Verbindung, welche über das vom Klagepatent genannte Standardverfahren 5 zu der erfindungsgemäßen phosphoramidierten Verbindung führt.
  178. An der vorstehenden Ansicht ändert auch der Verweis der Beklagten auf das A-Verfahren nichts. Die Beklagten machen in diesem Zusammenhang geltend, dass unabhängige zeitlich relevante Belege dafür bestehen würden, was erfahrene Chemiker zu der betreffenden Zeit tatsächlich getan haben, als sie mit demselben Problem konfrontiert waren, nämlich 2′-Fluor-2′-Methylnucleoside zu synthetisieren. Insofern nehmen die Beklagten Bezug auf das A-Patent betreffende Entscheidungen (vgl. u.a. Anlage D 10, D 11, D 22, D 44, D 119, D 120 und D 121).
  179. Diesen Umstand hat die Einspruchsabteilung unter Ziffer 4.4b) der Anlage HE 4a adressiert und ausgeführt:
  180. „Die Einspruchsabteilung konnte diesem Argument nicht folgen, da jede Entscheidung [Gerichtsverfahren und Einspruchsverfahren bezüglich EPXXX B1 (D1), von dem A Pharmaceutical die Patentinhaberin ist] nicht res iudicata für den vorliegenden Fall ist. Weder ist D1 eine Teilanmeldung dieses Streitpatents, noch ein Familienmitglied, noch sind die Anmelder des Streitpatents und von D1 dieselben, noch ist der Grad an Offenbarung zwischen dem Streitpatent und D1 der gleiche.“
  181. Insofern wird deutlich gemacht, dass es sich um unterschiedliche Sachverhalte handelt und, was die Kammer aus eigener Anschauung beurteilen kann, die jeweiligen Patente – Klagepatent und A-Patent – unterschiedliche Inhalte aufweisen.
  182. So wird Gemcitabin im A-Patent an keiner Stelle genannt, so dass für eine etwaige Synthese der Zielverbindung Sofosbuvir schon ein unterschiedlicher Ausgangspunkt besteht. Zur Begründung einer anderen Ansicht kann auch nicht pauschal auf das fachmännische Wissen zum Prioritätszeitpunkt abgestellt werden, was mit Blick auf das A-Patent dazu führte, dass die Herstellung der angegriffenen Ausführungsform einen unzumutbaren Aufwand darstellt. Dies entspricht der Ansicht, die auch die Kammer in ihrem Aussetzungsbeschluss vertreten hat.
  183. Mit Blick auf das A-Patent gab es weder einen Ausgangspunkt noch einen Syntheseweg, welcher zum allgemeinen Fachwissen gehörte. Dort wurden zwei Routen, welche als Zucker- und Nukleosid-Route beschrieben wurden, genannt. Das dortige Patent nannte keinen Syntheseweg für die beanspruchte Erfindung und insbesondere nicht für ein Nukleosid mit einer Substitution in der 2‘-Position Methyl-oben und Fluor-unten. Ging man von der Zuckerroute aus, musste ein Fachmann, wenn er im Wege der Retrosynthese und unter Zuhilfenahme des in den Schemata 3 und 9 gezeigten Syntheseweges versuchte einen Weg zu der bevorzugten Verbindung zu finden, zunächst die Hydroxyl-Gruppe in der 2‘-Position in eine Carbonyl-Gruppe oxidieren. Dies wird in Abs. [0149] beschrieben, ohne jedoch eine Angabe zu den
    Reaktionsbedingungen und einzusetzenden Reagenzien. Anschließend müsste eine Methylierung an der 2’ Position erfolgen, was in Abs. [0118] beschrieben wird. Hieran schließt sich die komplexe Fluorierung an der 2‘-Position mit dem Ziel einer Methyl-Gruppe oben und einem Fluor unten. Hierzu gibt das Patent keinen Anhaltspunkt und es war im Stand der Technik keine Standardprozedur beschrieben. Anschließend musste dann noch eine Kopplung mit einer Nukleinbase erfolgen. Gleiches gilt für die Nukleosid-Route. Insoweit gab das Schema 4 des A-Patentes keinen Anhalt auf einen möglichen Syntheseweg. Der Fachmann war dort allein auf sein Fachwissen angewiesen. Im Gegensatz zur Lehre der Erfindung nach dem Klagepatent wird in dem A-Patent Gemcitabin nicht erwähnt. Die Offenbarung dieses Patents gibt dem Fachmann daher keinen Hinweis auf Gemcitabin als Ausgangspunkt. A hat daher im Wesentlichen vorgetragen, dass die Fachperson von einer anderen Verbindung (im Einspruchsverfahren mit „Compound 22“ bezeichnet) ausgegangen wäre, die bereits das gewünschte Pentose-Gerüst aufweist, jedoch am C2‘-Atom ein 2’Me/2‘OH Substitutionsmuster aufweist. Durch Fluorieren dieser Verbindung unter geeigneten Bedingungen hätte man ebenfalls das Nucleosid von Sofosbuvir erhalten. Diesen Weg, der im Einspruchsverfahren gegen das Klagepatent als „Route 22“ bezeichnet wird (vgl. etwa Anlage HE 4, 4.3), hat die Einspruchsabteilung im vorliegenden Fall nicht für offenbart erachtet und wurde in den zitierten Entscheidungen auch nicht auf Grund allgemeinem Fachwissen als ausführbar angesehen, da der Fachmann nicht ohne weiteres insbesondere auf das Fluorierungsmittel DAST gekommen wäre.
  184. Insofern ist nicht zu erkennen, dass die Einspruchsabteilung, den relevanten Zeitraum betreffende und relevante Belege für alle Routen, die erfahrene Chemiker zu der betreffenden Zeit tatsächlich ausprobiert haben, übersehen hat.
  185. Von Beklagtenseite wird ferner darauf verwiesen, dass viele andere Möglichkeiten der Synthese bestanden hätten, was die Einspruchsabteilung nicht in den Blick genommen habe, so dass eine „Einbahnstraßensituation“ nicht habe angenommen werden können. Dies überzeugt nicht, da nicht dargelegt wurde, welche Alternativrouten dem Fachmann unter Rückgriff auf sein allgemeines Fachwissen zur Verfügung gestanden hätten. Soweit es sich nicht um allgemeines Fachwissen gehandelt hätte, wäre nicht zu ersehen, welchen Anhalt das Klagepatent für eine alternative Synthese gegeben hätte. Soweit die Beklagten auf das A-Verfahren verweisen, kann auf die vorstehenden Ausführungen verwiesen werden.
  186. Vielmehr kann der von der Einspruchsabteilung vertretenen Ansicht (Anlage HE 4a):
  187. „Die Einspruchsabteilung kann der Patentinhaberin in der Ansicht folgen, dass das Erwähnen von „Gemcitabin“ als Ausgangsmaterial für die beanspruchten
  188. Verbindungen den Fachmann veranlassen konnte, eine analoge Route für andere (nicht offenbarte) Derivate in Betracht zu ziehen.“
  189. ohne weiteres beigetreten werden.
  190. Der weitere Hinweis der Beklagten, dass die Einspruchsabteilung die Ausführungen von Professor X in seiner Erklärung nach Anlage D 105 nicht berücksichtigt habe, der unter anderem ausgeführt hat:
  191. „Fluor und Methyl sind sehr unterschiedliche Elemente. Fluor ist das elektronegativste Element und ist klein. Das Vorhandensein von Fluor in einem Molekül oder einer Reaktion wird voraussichtlich eine große elektronische Auswirkung haben, da es stark elektronenziehend ist, aber eine geringe Auswirkung auf die sterische Hinderung. Im Gegensatz dazu ist eine Methylgruppe eine leicht elektronenziehende Gruppe. Sie ist wesentlich größer als ein Fluoratom und hat einen entsprechend größeren Einfluss auf sterische Faktoren in einem Molekül oder einer Reaktion. Das Ersetzen eines Fluoratoms durch eine Methylgruppe stellt keinen geringen Unterschied dar und hat erhebliche Auswirkungen auf chemische Umwandlungen.“
  192. führt auch nicht zu einer anderen Sichtweise.
  193. Die Ausführungen sind mit Sicherheit in der Sache zutreffend, stehen jedoch der Annahme, dass der Fachmann als Ausgangspunkt für die Synthese von Sofosbuvir die analoge Gemcitabin-Route ergriffen hätte, nicht entgegen. Denn die von X (Anlage D 87) im Auftrag der Patentinhaberin durchgeführte Synthese zeigt, dass dieser Grundsatz auf die analoge Gemcitabin-Synthese keine Auswirkungen hat, da eben nicht ein Fluor-Atom in der 2‘-Position ausgehend von Gemcitabin durch eine Methyl-Gruppe ausgetauscht wurde, sondern bereits eine andere Ausgangsverbindung gewählt wurde.
  194. Auch der Verweis der Beklagten, die Einspruchsabteilung habe fehlerhaft Dokumente berücksichtigt, die kein allgemeines Fachwissen sind, um die mangelhafte Offenbarung der Anmeldung in der eingereichten Fassung in Bezug auf die bekannte Gemcitabin-Synthese zu heilen, bleibt ohne Erfolg. Ausgangspunkt der Synthese ist der Merck-Index (Anlage D 88), der unter Verweis auf die Primärliteratur die Herstellung von Gemcitabin beschreibt. Mit Blick auf den dort beschriebenen Herstellungsweg musste der Fachmann gerade nicht Dokumente in Betracht ziehen, die kein allgemeines Fachwissen sind. Er musste lediglich im Rahmen seiner Überlegungen, eine analoge Gemcitabin-Route zu entwickeln, eine andere Ausgangsverbindung wählen, die jedoch im CAS-Index seit 1987 auch mit Blick auf ihre Herstellung beschrieben ist. Eine fehlerhafte Berücksichtigung ist daher nicht
  195. erkennen, wenn der Fachmann als ersten Ausgangspunkt auf die allgemeine Fachliteratur – hier den Merck-Index – zurückgreift, welche dann Bezug nimmt auf weitere Fachliteratur.
  196. Letztlich stellt auch die Ansicht der Beklagten, dass die Anzahl der nicht offenbarten Schritte und die Zeit, die für die Durchführung dieser Schritte erforderlich wäre, keinen relevanten Faktor für die Beurteilung der Frage dar, ob für den Fachmann ein unzumutbarer Aufwand bestanden hätte. Die Einspruchsabteilung vertritt insofern die Ansicht (Anlage HE 4a, Ziffer 4.5):
  197. „Die Einsprechende bestritt, dass es „allgemeines Fachwissen“ ist, Syntheserouten analog zu einer offenbarten Route durchzuführen, die über nicht weniger als 8-10 nicht offenbarte Schritte verläuft, die nicht im Stand der Technik beschrieben sind. Die Einsprechende trug vor, dass dies einen „unzumutbaren Aufwand“ darstellen würde, der eine Zurückweisung aufgrund unzureichender Offenbarung rechtfertigen würde. Die Einsprechende trug vor, dass dies einen unzumutbaren Aufwand darstellt, der den Fachmann vor viele Entscheidungen stellt, ohne eine Anleitung zu geben.
  198. Die Einspruchsabteilung konnte diesem Argument nicht folgen, da die Rechtsprechung der Beschwerdekammern II.C.6.6.5 bezüglich „nicht offenbarter Schritte“ ausdrücklich besagt:
  199. „Das EPÜ enthält keine Vorschrift, wonach die beanspruchte Erfindung dann, wenn ihre Ausführung nicht ausdrücklich beschrieben ist, mithilfe einiger weniger nicht offenbarter Zusatzschritte nacharbeitbar sein muss. Das einzige wesentliche Erfordernis, das erfüllt sein muss, besteht vielmehr darin, dass jeder dieser weiteren Schritte für den Fachmann so nahe liegt, dass eine detaillierte Beschreibung im Lichte seines allgemeinen Fachwissens überflüssig ist (T 721/89).“
  200. In Anwendung dieses rechtlichen Rahmens auf den vorliegenden Fall erwog die Einspruchsabteilung, dass nicht die absolute Anzahl der nicht offenbarten Schritte relevant sei, sondern wie offensichtlich sie seien. Wie bereits erwähnt, betrachtete Einspruchsabteilung den Weg von der aus dem Stand der Technik bekannten Verbindung „7“ (siehe D98) zum finalen Zwischenprodukt 1a, 1b als festgelegt, wenn das Konzept der analogen Gemcitabin-Synthese einmal im Sinn war. Dies bedeutet, dass „nicht viele Entscheidungen zu treffen sind, bei denen der Fachmann eine Anleitung benötigt“, und die Einspruchsabteilung konnte daher keiner der Argumente der Einsprechenden folgen.“
  201. Ferner wird unter Ziffer 4.7 ausgeführt:
  202. „Die Einsprechende trug vor, dass die „analoge Gemcitabin-Route“ eher ein Forschungsprojekt erheblicher Komplexität ist und deswegen einen unzumutbaren Aufwand für die Person darstellt, die versuche, die Erfindung über die Breite des Anspruchs auszuführen.
  203. Die Einspruchsabteilung konnte auch diesem Argument der Einsprechenden nicht folgen, da – wie unter Punkt 4.5 erklärt – nicht die Anzahl der Schritte entscheidend ist. Dies trifft auch für den Zeitrahmen zu, der zur Durchführung dieser nicht offenbarten Schritte benötigt wird. Für die Einspruchsabteilung war relevant, dass es mit dem Konzept der analogen Synthese im Hinterkopf keine Entscheidungen zu treffen gab. Die analoge Synthese startete von einer aus dem Stand der Technik bekannten Verbindung (Verbindung 7, siehe D98).“
  204. Damit hat die Einspruchsabteilung die Grundsätze ihrer Entscheidung mit Blick auf die Rechtsprechung der Technischen Beschwerdekammern begründet und es ist insofern nicht zu erkennen, dass es andere Grundsätze gibt, welche die Einspruchsabteilung verkannt hat.
  205. Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, dass eine offensichtliche Unrichtigkeit der Entscheidung der Einspruchsabteilung mit Blick auf den Einwand der unzureichenden Offenbarung nicht festgestellt werden kann.
  206. 3. Erfinderische Tätigkeit
  207. Zuletzt vermag die Kammer auch nicht festzustellen, dass die Einspruchsabteilung die Frage der erfinderischen Tätigkeit unzutreffend beurteilt hat.
  208. Die Einspruchsabteilung nahm als Ausgangspunkt die US 2003/0XXXXXX A1 (D36) als nächstliegenden Stand der Technik (closest prior art/CPA). Diese offenbart in ihrem Anspruch 12 eine Verbindung, die der im Klagepatent offenbarten Verbindung CPF-2 entspricht ([0107]):
  209. Dieses Molekül weist in struktureller Hinsicht zwei Unterschiede zu den vom Klagepatent beanspruchten Verbindungen auf. Erstens weist es keinen Fluor-Substituent an der 2′ Position des Pentoserings auf und zweitens eine Bromvinylgruppe an der Position Z im Gegensatz zu den beanspruchten Verbindungen.
  210. Dabei kann vorweggeschickt werden, dass der Begriff Alkyl, wie ihn das Klagepatent für den Substituenten Z vorsieht, nicht auch Bromvinyl umfasst. Entsprechendes hat schon die Einspruchsabteilung unter Ziffer 5.1 (Anlage HE 4a) festgestellt und im Zuge des Einspruchsverfahrens wurde die Beschreibung angepasst und klargestellt, dass der Begriff Alkyl keine ungesättigten und substituierten Kohlenwasserstoffreste umfasst (vgl. Ersatzseite 75 des Anhangs zu Anlage HE 4). Zwar mag im Unteranspruch 10 wie auch in der Beschreibung in Abs. [0015] und [0017] Alkyl breiter definiert sein. Unter einem Alkyl nach der IUPAC-Nomenklatur ist demgegenüber eine CnH2n+1-Verbindung zu verstehen, so dass der Begriff Alkyl klar auf Alkylverbindungen ohne Doppelbindungen und Substituenten begrenzt ist, so dass insoweit kein Anlass besteht ihn vor dem Hintergrund der Beschreibung und des Unteranspruchs anderweitig auszulegen, was nunmehr klargestellt wurde.
  211. Die Einspruchsabteilung hat dann anhand der Daten in der Tabelle auf Seite 63 ff. des Klagepatents die Wirksamkeit der beanspruchten Beispielsverbindungen (CPF-31, 40 und -41) – allesamt mit 2’F/2’F -Substitutionsmuster – mit der des nächstliegenden Stands der Technik (Verbindung CPF-2) verglichen:
  212. Die Einspruchsabteilung hat daraus den Schluss gezogen, dass jede der drei anspruchsgemäßen Beispielsverbindungen (CPF-31, CPF-40 und CPF-41) jeweils bezüglich mindestens einer der drei getesteten Zelllinien einen besseren EC-Wert (Effective Concentration) aufweist als die Verbindung CPF-2 (je kleiner der EC-Wert, desto wirksamer die Verbindung). CPF-40 und CPF-41 etwa wirken deutlich stärker gegen Brustkrebs als CPF-2 (3,1 bzw. 9,2 µM ggü. 34 µM). CPF-31 wirkt deutlich stärker gegen Prostatakrebs (0,22 µM ggü. 19 µM).
  213. Anhand der von der Klägerin/Patentinhaberin gemäß D51 und D115 vorgelegten Daten stellte die Einspruchsabteilung des Weiteren fest, dass eine zytotoxische Wirkung für die ebenfalls beanspruchten Verbindungen mit einem 2’Me/2’F-Substitutionsmuster belegt ist. Auf dieser Grundlage sah die Einspruchsabteilung eine Wirksamkeit auch bei einem 2’Br/2’F-Substitutionsmuster als plausibel an.
  214. Dass diese Ansicht offensichtlich unzutreffend ist, vermag die Kammer nicht festzustellen.
  215. Ausgangspunkt ist, dass für die Frage der Zytotoxizität kein absoluter CC/IC 50-Wert maßgebend ist, sondern es ausreicht, wenn eine Zytotoxizität überhaupt gezeigt werden kann, wovon auch die Einspruchsabteilung ausgegangen ist. Es genügt daher, wenn das Zellwachstum in in-vitro-Tests gehindert wird oder die Zelle vollständig abstirbt, wofür jeder bestimmbare IC50-Wert ausreicht, der zwangsläufig von der Konzentration des Wirkstoffs abhängig ist. So zeigt die aus dem nächstliegenden Stand der Technik D 36 bekannte Verbindung NB1011 in der Veröffentlichung von C et al., Enzyme-catalyzed therapeutic agent (ECTA) design: activation of the antitumor ECTA compound NB 1011 by thymidylate synthase, Biochemical Phramacology 61 (2011) 179-189 (Anlage D 104) in Tabelle 3 hohe IC50-Werte, während Tabelle 9 wiederum zeigt, dass in vivo eine Wirksamkeit von NB 1011 bei verschiedenen Krebsarten gezeigt werden konnte. Insofern entbehrt die Annahme eines absoluten IC50-Wertes einer wissenschaftlichen Grundlage. Daher kommt es nicht darauf an, ob eine entsprechende Verbindung in der pharmazeutischen Industrie als Antikrebsmittel herangezogen werden würde, wovon der Gutachter der Beklagten Professor X in seiner als Anlage D 129 vorgelegten Stellungnahme ausgeht. Seiner Ansicht nach dürften entsprechende Verbindungen einen IC 50 von nicht mehr als 5 µM haben (Anlage D 129, Rn. 13). Hierauf kommt es allerdings bei der Beurteilung der Wirksamkeit erfindungsgemäßer Verbindungen mit Blick auf eine Zytotoxizität nicht an. Es genügt vielmehr, wenn die Verbindungen eine gewisse Aktivität zeigen.
  216. Die Beklagten machen demgegenüber geltend, dass alle relevanten Entgegenhaltungen IC50-Werte kleiner 10 µM aufzeigen würden, was die Einspruchsabteilung mit Blick auf die zytotoxische Wirkung der 2’Cl-Verbindung auch von Relevanz gesehen habe.
  217. Die Einspruchsabteilung ist dort mit Blick auf die Veröffentlichung von XXX et al., 2′-Chloro,2′-fluoro Ribonucleotide Prodrugs with Potent Pangenotypic Activity against Hepatitis C Virus Replication in Culture, J. Med. Chem., 2017, 60, 5424-5437 (Anlage
  218. D 107) zu der Ansicht gelangt, dass die 2‘Cl/2’F-Verbindung keine zytotoxische Aktivität zeige. Dabei wird auf Seite 5428 verwiesen, wo ausgeführt wird, dass eine zytotoxische Wirkung nicht habe festgestellt werden können. Eine entsprechende Aussage ist auch auf Seite 5427 getroffen worden.
  219. Diese Begründung steht der Annahme, dass es genügt, wenn überhaupt eine zytotoxische Wirkung gemessen werden kann, nicht entgegen. Denn in der D 126 wird als CC50-Wert in Huh7-Zellen größer 10 µM und in den weiteren Zellen größer 100 µM genannt, mithin also unbestimmte Werte, welche nachvollziehbar von der Einspruchsabteilung als nicht ausreichend erachtet wurden. Ein Widerspruch zu der Annahme, dass die Messung irgendeiner Zytotoxizität ausreicht, kann daher nicht festgestellt werden. Vielmehr kann festgestellt werden, dass der Ausgangspunkt der Einspruchsabteilung, dass irgendeine Art von krebshemmender Aktivität gezeigt wird, nachvollziehbar ist.
  220. Geht man von diesem Grundsatz aus, hat die Einspruchsabteilung vertretbar angenommen, dass das Klagepatent die objektive Aufgabe der Bereitstellung alternativer krebshemmender Phosphoramidate-Verbindungen löst.
  221. a) 2‘-Me/F-Verbindung
    Hinsichtlich der 2‘-Me/F-Verbindung vertritt die Einspruchsabteilung die Ansicht (Anlage HE 4a, Ziffer 5.7.1):
  222. „Die Einspruchsabteilung erkannte D51 als Nachweis dafür an, dass Sofosbuvir gegen SKBR3-Brustkrebszellen aktiv war, da es eine IC50 von 5-50 µM zeigte. Die Einspruchsabteilung konnte das Vorbringen von D108 durch die Einsprechende als Beleg dafür, dass Sofosbuvir keine krebshemmende Aktivität aufweist, nicht nachvollziehen. Im Gegensatz zu D51, in der Daten präsentiert werden, zeigt D108 keine Daten, sondern drückt die Meinung einer Partei aus, die vom Umfang des Patents betroffen ist. Nach Ansicht der Einspruchsabteilung versucht D108, die Daten von D51 als nicht reproduzierbar zu diskreditieren, da es „unmöglich sei, irgendeine sinnvolle Schlussfolgerung daraus zu ziehen“. Die Einspruchsabteilung hält solche Behauptungen in D108 für nicht wissenschaftlich und voreingenommen. Die Einspruchsabteilung könnte sich der in D115 geäußerten Ansicht anschließen, dass es sich bei dem strittigen Sulforhodamin-B-Assay um einen Standard-Assay handelt, der von einem Fachmann bei Bedarf sehr wohl hätte reproduziert werden können. Sulforhodamin-B-Assay-Kits sind im Handel z. B. von Merck erhältlich. Selbst wenn es irgendwelche Unsicherheiten beim Erstellen des Assays gegeben hätte, hätte darüber hinaus ein Zytotoxizitätswert gemessen werden können, falls gewünscht – wenn nicht mit einem Sulforhodamin-B-Assay, dann mit jedem anderen Assay, wozu Dr. Keegan, der Autor von D108, sicherlich in der Lage ist. D108 antwortete jedoch nicht mit Daten, sondern mit Behauptungen, obwohl die Partei, die die Behauptung aufstellt (d. h. die Einsprechende), die Beweislast trägt. Die
  223. Einspruchsabteilung fand daher, dass D51 einen akzeptablen Beweis dafür liefert, dass Sofosbuvir eine Aktivität gegen Brustkrebszelllinien aufweist. Für die Einspruchsabteilung war es unerheblich, wie hoch der absolute IC50-Wert ist. Für die Einspruchsabteilung reichte es aus, dass Sofosbuvir irgendeine Art von krebshemmender Aktivität zeigt.“
  224. Dieser Ansicht vermögen die Beklagten nicht die Ergebnisse neuer Untersuchungen entgegen zu halten. Als Anlage D 135 wurden Ergebnisse von Untersuchungen des Biology Departments der Beklagten vorgelegt:
  225. Gezeigt wird damit, dass die angegriffene Ausführungsform IC50-Werte von 64 µM bei der Brustzelllinie SKBR3 zeigt. Mithin kann über die Anlage D 135 nicht nachgewiesen werden, dass die angegriffene Ausführungsform über keinerlei Zytotoxizität verfügt, da jedenfalls eine gewisse Zytotoxizität gemessen wurde.
  226. Ferner soll die D 138 (A 143A) zeigen, dass die angegriffene Ausführungsform in 56 Krebszelllinien keine Aktivität zeigt. Unabhängig von der Frage, ob diese neuen Dokumente im Beschwerdeverfahren überhaupt zugelassen werden, mögen diese zwar zeigen, dass die angegriffene Ausführungsform bei den dort untersuchten Zelllinien keine Zytotoxizität zeigt. Die Brustzelllinie SKBR3, für welche auch die Beklagten einen IC50-Wert von 64 µM ermittelt haben, wurde jedoch nicht untersucht, so dass das in der D 138 gefundene Ergebnis dem nicht entgegenstehen kann.
  227. Die Klägerin hat demgegenüber mit verschiedenen Erklärungen ihres Mitarbeiters Professor X (Anlage D 51) aufgezeigt, dass die angegriffene Ausführungsform gegen die Brustkrebszelllinie SKBR3 eine Zytotoxizität aufweist. In der zweiten Erklärung von Professor X (Anlage D 115) hat dieser Daten und Methoden näher spezifiziert (siehe Anhang zu D115) und einen IC50-Wert von 27 +/-3 µM gegen SKBR3 Brustkrebszellen angegeben, der mit einem Standardverfahren bestimmt worden war (D115, Rn. 7).
  228. Dieser Wert wird von Professor X, dem Privatgutachter der Beklagten, nicht in Frage gestellt, sondern lediglich deutlich gemacht, dass er Sofosbuvir nicht als Krebsmedikament auswählen würde. Hierauf kommt es jedoch – wie oben ausgeführt – nicht an. Es genügt eine gewisse Aktivität, welche ohne weiteres festgestellt werden konnte, auch von den Beklagten.
  229. Soweit die Beklagten geltend machen, die Einspruchsabteilung habe XXX et al., Role of Mitochondrial RNA Polymerase in the Toxicity of Nucleotide Inhibitors of Hepatitis C Virus, Antimicrob Agents Chemother, 2016. Vol. 60, 806ff. (Anlage D 37) nicht gewürdigt, bleibt dieser Einwand ohne Erfolg. Denn die D 37 besagt lediglich, dass Sofosbuvir nicht gegen die darin erwähnten Krebszelllinien wirkt. Die Auswirkungen auf die Brustzelllinie SKBR3 wurden hingegen nicht untersucht. Gleiches folgt mit Blick auf die Veröffentlichung von Zhou et al., 2′-Chloro, 2′-fluoro Ribonucleotide Prodrugs with Potent Pangenotypic Activity against Hepatitis C Virus Replication in Culture, J.Med.Chem. 2017, 60, 5424-5437 (Anlage D 107). Dort wurde nicht die zytotoxische Aktivität gegen zahlreiche Krebszelllinien untersucht, sondern vielmehr die Wirksamkeit von Testverbindungen gegen das Hepatitis C Virus. Die in D107 untersuchten Huh-7 Zellen sind Leberkrebszellen. Sie werden nach den Ausführungen der Klägerin in solchen Studien nicht deswegen eingesetzt, weil sie Krebszellen sind, sondern weil sie sehr empfindlich auf eine HCV Infektion reagieren und mit HCV Replikon-Systemen kompatibel sind. Die Daten in Tabelle 1 der D107 zeigen, dass gegen diese Huh-7 Zellen sowohl die dort besonders interessierende Verbindung 16 als auch die Verbindung 20 und Sofosbuvir eine gewisse zytotoxische Aktivität zeigen, weil dort ein CC 50-Wert von „>10“ angegeben wird, wohingegen in Bezug auf andere Verbindungen und Zelllinien entweder konkrete Werte oder „>100“ µM angegeben werden. Die Zusammenschau der Daten führt somit zu dem Schluss, dass Sofosbuvir jedenfalls eine gewisse Wirkung gegen die Huh 7-Krebszelllinie bei Konzentrationen oberhalb von 10 µM aufweisen.
  230. Sowohl die Untersuchungen der Beklagten wie auch diejenigen der Klägerin zeigen daher eine gewisse Zytotoxizität von Sofosbuvir. Diese mag zwar nicht in einem Ausmaß vorliegen, dass sie als Antikrebsmittel kommerziell eingesetzt werden könnte. Hierauf kommt es allerdings nicht an.
  231. b) 2‘-Br/F-Verbindung
    Die obigen Ausführungen, wonach die Einspruchsabteilung vertretbar eine zytotoxische Wirkung von Sofosbuvir festgestellt hat, gelten auch für die 2’-Fluor/Brom-Verbindung.
  232. Mit Bezug auf die 2‘-Br-2‘-F-Variante führt die Einspruchsabteilung unter Ziffer 9.5 aus (Anlage HE 4a):
  233. „Die Einspruchsabteilung kam zu dem Schluss, dass HiA-13 erfinderisch ist. Die Einspruchsabteilung sah es als erwiesen an, dass die beanspruchten Varianten „2′,2′-Difluor“ und „2′-Me-2′-F“ eine Form von krebshemmender Aktivität besitzen. In Bezug auf die beanspruchte Variante „2′-Br-2′-F“ hatte die Einspruchsabteilung weder einen Beleg dafür, dass diese Verbindungen die zugrunde liegende Aufgabe lösen, noch hatte die Einspruchsabteilung einen Nachweis dafür, dass diese Variante die zugrunde liegende Aufgabe NICHT löst. Die Einspruchsabteilung gab der Patentinhaberin den Vorteil des Zweifels und nahm an, dass solche Substitutionsvarianten die zugrundeliegende Aufgabe der Bereitstellung von krebshemmenden Verbindungen lösten. Die Einspruchsabteilung fand die Lösung der objektiven technischen Aufgabe, alternative krebshemmende Phosphoramidat-Nukleoside bereitzustellen, erfinderisch gegenüber D36 oder Gemcitabin als nächstliegenden Stand der Technik.“
  234. Die Einwendungen der Beklagten gegenüber diesen Ausführungen führen nicht zu der Feststellung, dass das gefundene Ergebnis offensichtlich unrichtig ist.
  235. Die Beklagten verweisen in diesem Zusammenhang auf XXX et al., Discovery of a Series of 2′-α-Fluoro,2′-β-bromo-ribonucleosides and Their Phosphoramidate Prodrugs as Potent Pan-Genotypic Inhibitors of Hepatitis C Virus, J Med Chem, 2019, 62(4), 1859-1874 (Anlage D 127), welche im Beschwerdeverfahren vorgelegt wurde und welche aufzeigt, dass Untersuchungen der 2’Br/F-Variante IC50-Werte größer 10 bzw. 100 µM ergeben, wie der nachfolgend wiedergegebenen Tabelle entnommen werden kann.
  236. Demgegenüber macht der Experimental Report der D GmbH (Anlage A 140) deutlich, dass die 2’Br/2’F-Verbindung 28 aus A126 in den Krebszelllinien MV4-11, SK-BR-3 und SK-ES-1 sehr wohl eine zytotoxische Aktivität (IC50) im Bereich von 29-52 µM hat, wie die nachfolgende Tabelle zeigt:
  237. Da mithin eine zytotoxische Wirkung festgestellt werden kann, ist die Feststellung der Einspruchsabteilung, dass eine erfinderische Tätigkeit besteht, nicht unvertretbar. Die Einspruchsabteilung hat in diesem Zusammenhang ausgeführt:
  238. „Ausgehend von D36 als nächstliegendem Stand der Technik vertrat die Einspruchsabteilung die Auffassung, dass die beanspruchten Verbindungen gegenüber der strukturell nächstgelegenen Verbindung CPF-2 (siehe Punkt 5.4 für die Argumentation, davon auszugehen) zwei strukturelle Unterschiede aufweisen:
    An der Position der Variablen „Z“ weisen die beanspruchten Varianten „H, Alkyl, Halogen“ auf, während CPF-2 „2-Bromovinyl“ aufweist.
    An der Position des C2′-Kohlenstoffatoms weisen die beanspruchten Verbindungen:
    „2′,2′-Difluor“, „2′-Br-2′-F“ und „2′-Me-2′-F“ auf, während CPF-2 „2′-H-oben-2′-F-unten“ offenbart.
    Während für einige „2′,2′-Difluor“-Varianten eine technische Wirkung gegenüber der aus dem Stand der Technik bekannten Verbindung CPF-2 nachgewiesen wurde (siehe Punkt 5.5), liegen für „2′-Br-2′-F“ und „2′-Me-2′-F“ keine Vergleichsdaten vor, so dass die Einspruchsabteilung nicht auf eine technische Wirkung im gesamten beanspruchten Bereich schließen kann.
    Die Einspruchsabteilung war daher der Ansicht, dass die objektive technische Aufgabe als die „Bereitstellung alternativer krebshemmender Phosphoramidat-Nukleoside“ formuliert werden müsse.
    Aus dem Obigen folgt, dass es die Einspruchsabteilung für glaubhaft hält, dass diese Aufgabe über den beanspruchten Bereich gelöst ist.
    Die Einspruchsabteilung ist der Ansicht, dass der Lösung der objektiven technischen Aufgabe eine erfinderische Tätigkeit innewohnt, da die beanspruchten Verbindungen keine Auswahl aus der Lehre der Markush-Formel von D36 darstellen. Die beanspruchten Verbindungen umfassen keine Verbindungen mit „Bromvinyl“-Gruppe an der Position der Variablen „Z“, wohingegen D36 diese Gruppe als relevant lehrt, da sie in allen beispielhaften Verbindungen vorhanden ist. Schließlich führt auch die Tatsache, dass es zwei strukturelle Unterschiede gibt, nicht dazu, dass die Lösung der objektiven technischen Aufgabe naheliegend ist.
    Die Einspruchsabteilung befand die Ansprüche von HiA-13 ebenfalls als erfinderisch gegenüber „Gemcitabin“ als nächstliegendem Stand der Technik. Der technische Unterschied ist die Phosphoramidat-Einheit, von der bekannt ist, dass sie eine Veränderung des pharmakologischen Profils bewirkt (erhöhte Potenz, verringertes Toxizitätsprofil, Überwindung der Krebsresistenz; siehe Streitpatent, Figuren 1-4).“
  239. Gegen diese weiteren Feststellungen haben die Beklagten keine Einwände erhoben.
  240. II.
    Auch die Zwangslizenzklage vom 11. April 2022 (Anlage BB 20), welche der Klägerin am 26. April 2022 zugestellt wurde, rechtfertigt keine Aussetzung. In die nach § 148 ZPO gebotene Ermessensentscheidung ist zum einen einzustellen, dass die Zwangslizenzklage erst sehr spät erhoben wurde und auch kein Antrag nach § 85 PatG gestellt wurde. Die vorliegende Klage wurde im April 2021 eingereicht – nachdem die Unternehmensgruppe der Beklagten das Klagepatent ohne Erfolg im Einspruchsverfahren vor dem Einspruchsverfahren angegriffen hat. Die Beklagten haben auch bereits in der Klageerwiderung vom 17. August 2021 im Zusammenhang mit dem Vorbringen zur Verhältnismäßigkeit diejenigen Umstände vorgebracht, die nun im Wesentlichen Gegenstand der Zwangslizenzklage sind. Dafür, dass die Zwangslizenzklage erst kurz vor dem Verhandlungstermin eingereicht wurde, sind keine Rechtfertigungsgründe zu erkennen. Insbesondere erscheint es nicht überzeugend, dass X
  241. Hinzukommt, dass die Beklagten eine Entscheidung im Eilverfahren nach § 85 Abs. 1 PatG bereits zum jetzigen Zeitpunkt hätten herbeiführen können. Die Beklagten haben von einer Einlegung abgesehen und sich einen solchen Antrag lediglich für den Fall vorbehalten, dass „das Verletzungsgericht einen Unterlassungsanspruch ausurteilen und die Beklagte [die hiesige Klägerin] diesen vollstrecken könnte“ (Anlage BB 20, Seite 3 Rn. 3). Eine Entscheidung hätte bei rechtzeitiger Einlegung auch im vorliegenden erstinstanzlichen Verletzungsrechtsstreit vorliegen können. In dem Verfahren XXX betrug die Verfahrenslaufzeit bis zu einer erstinstanzlichen Entscheidung beim BPatG sieben Monate.
  242. Zum anderen ist in die Ermessensentscheidung X. Auf die insoweit erfolgten Ausführungen kann verwiesen werden.
  243. Eine Aussetzung aufgrund einer Zwangslizenzklage nach § 24 Abs. 2 PatG, wie in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, kommt auch nicht mit Blick auf das Sofosbuvir-Patent der Beklagten in Betracht. Insoweit ist eine Vorgreiflichkeit nicht zu erkennen. Entsprechende, einen Anspruch nach § 24 Abs. 2 PatG begründende Tatsachen sind bisher nicht Gegenstand der Zwangslizenzklage (Anlage BB 20). Im Übrigen X.
  244. D.
    Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
  245. Der Streitwert des Rechtsstreits wird auf 30.000.000,00 € festgesetzt. Davon entfällt 2.000.000,00 EUR auf die Feststellung der gesamtschuldnerischen Pflicht zur Schadensersatzleistung (Antrag zu Ziffer II.).
  246. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 709, 108 ZPO.
  247. Für eine höhere Vollstreckungssicherheit besteht kein Raum. Die Beklagten haben in der mündlichen Verhandlung nicht dargelegt, welcher voraussichtliche Vollstreckungsschaden bis zu einer Entscheidung im Berufungsverfahren erfolgen kann. Relevant für die Vollstreckungssicherheit, die einen Schadensersatzanspruch nach § 717 Abs. 2 ZPO abdecken soll, ist nicht eine Umsatzerwartung, sondern nur die Gewinne, die den Beklagten bei Einstellung der Vertriebshandlungen bis zum Ende der Berufungsinstanz entgehen werden. Hierzu haben die Beklagten auch nach Hinweis durch die Kammer in der mündlichen Verhandlung keine Angaben gemacht. Schriftsätzlich wurde für 2021 ein Umsatz von 66.000.000,00 € bzw. 56.000.000,00 € angegeben, der als Vollstreckungssicherheit jedoch nicht zugrundegelegt werden kann, da es eben auf einen etwaigen entgangenen Gewinn ankommt. Es ist nicht nachvollziehbar, dass den Beklagten konkretere Angaben zu einem etwaigen Gewinn anhand von öffentlich zugänglichen Daten nicht möglich sind. Insofern kommt eine Festsetzung nicht in der begehrten Höhe in Betracht.
  248. Auch der von der Klägerin beantragten Höhe der Vollstreckungssicherheit für den Unterlassungsanspruch in Höhe von 9.500.000,00 € kann nicht entsprochen werden. Die von der Klägerin vorgeschlagene Vollstreckungssicherheit in Höhe von 9.500.000,00 € für den Unterlassungsanspruch spiegelt nicht den vorgeschlagenen und festgesetzten Streitwert in Höhe von 30.000.000,00 € wieder. Üblicherweise beträgt der Unterlassungsanspruch 2/3tel des Gesamtstreitwertes, mithin nicht 9.500.000,00 €.
  249. Von der Kammer ist daher eine Vollstreckungsteilsicherheit in Höhe von 25.000.000,00 € für die Ansprüche auf Unterlassung, Rückruf/Entfernung und Vernichtung festgesetzt worden, was dem üblichen Anteil am Gesamtstreitwert entspricht. Für eine getrennte Festsetzung von Teilsicherheiten mit Blick auf Unterlassung, Rückruf/Entfernung und Vernichtung besteht keine Veranlassung. Denn mit der Vollstreckung des Vernichtungs- oder Rückrufanspruchs wird de facto auch der Unterlassungsanspruch in wesentlichem Umfang mit durchgesetzt, so dass eine einheitliche Festsetzung geboten ist.
  250. Die nicht nachgelassenen Schriftsätze der Beklagten vom 10. Juni 2022 und 27. Juni 2022 fanden bei der Entscheidung keine Berücksichtigung. Eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung ist nicht geboten, §§ 296a, 156 ZPO.

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