I-2 U 20/21 – Waage mit Trageplatte V

Düsseldorfer Entscheidungen Nr. 3199

Oberlandesgericht Düsseldorf

Urteil vom 03. Februar 2022, I-2 U 26/21

Vorinstanz: 4b O 14/20

  1. I. Die Berufung gegen das am 29.06.2021 verkündete Urteil der 4b Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf wird zurückgewiesen.
    II. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.
    III. Das Urteil und das Urteil des Landgerichts sind vorläufig vollstreckbar.
    Die Beklagte darf die Zwangsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung i.H.v. 500.000,- € abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
    IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
    V. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 500.000,- € festgesetzt.
  2. Gründe
  3. I.
  4. Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen Verletzung des deutschen Teils des europäischen Patents EP 1 371 XXA (nachfolgend: Klagepatent) auf Unterlassung, Auskunftserteilung und Rechnungslegung, Rückruf sowie auf Feststellung der Schadenersatzpflicht dem Grunde nach in Anspruch.
  5. Das Klagepatent wurde am 07.06.2003 unter Inanspruchnahme der Priorität zweier deutscher Anmeldungen vom 14.06.2002 und 27.02.2003 von der B GmbH & Co. KG angemeldet. Die Offenlegung der Patentanmeldung erfolgte am 17.12.2003. Seit dem 27.08.2009 ist die Klägerin als Inhaberin des Klagepatents eingetragen. Der Hinweis auf die Erteilung des Klagepatents wurde am 23.09.2009 veröffentlicht. Der deutsche Teil des Klagepatents steht in Kraft.
  6. Auf einen gegen das Klagepatent erhobenen Einspruch hielt die Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts das Klagepatent mit Zwischenentscheidung vom 26.06.2011 beschränkt aufrecht. Die dagegen gerichteten Beschwerden wies die Technische Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts mit Entscheidung vom 18.01.2013 (Anlage K 11) zurück.
  7. Das Bundespatentgericht wies eine gegen das Klagepatent erhobene Nichtigkeitsklage mit Urteil vom 09.09.2014 ab. Die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung wies der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 28.03.2017 (Az.: X ZR 17/15; Anlage CMS K 2) zurück.
  8. Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 12.06.2020 eine weitere Nichtigkeitsklage (Az.: 6 Ni 27/20 (EP)) gegen das Klagepatent erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Am 26.10.2021 erging ein gerichtlicher Hinweis des Bundespatentgerichts nach § 83 Abs. 1 S. 1 PatG (Anlage B 10).
  9. Das Klagepatent trägt die Bezeichnung „Waage“. Sein Patentanspruch 1 ist wie folgt gefasst:
  10. „Waage (1) mit einer Tragplatte (4) zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse und mit einer elektrischen Schaltvorrichtung (16, 24) zur Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage (1), dadurch gekennzeichnet, dass die Schaltvorrichtung (16, 24) einen kapazitiven Näherungsschalter mit einer an der Tragplatte (4) angeordneten Elektrode (18, 38, 44) zur Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode (18, 38, 44) aufweist, wobei die Tragplatte (4) aus einem elektrisch nicht leitenden Material besteht und die Elektrode (18, 38, 44) unter der Tragplatte (4) angeordnet ist und die mit der elektrischen Schaltvorrichtung (16, 24) erfolgende Aus- oder Anwahl einer Funktion im Einschalten der Waage besteht.“
  11. Die nachfolgend verkleinert wiedergegebene Figur 1 der Klagepatentschrift zeigt eine erste erfindungsgemäße Waage in perspektivischer Ansicht:
  12. Die Beklagte ist ein französisches Unternehmen, das neben Medizinprodukten, Bad-, Küchen- und Schlafzimmerzubehör unter anderem auch mechanische und elektronische Küchenwaagen vertreibt. Sie bietet bundesweit im Internet digitale Küchenwaagen mit der Modellbezeichnung „C“ sowie „D“ (nachfolgend: angegriffene Ausführungsform) wie folgt an (die Abbildungen wurden S. 9 und 10 der Klageschrift entnommen):
  13. Die Klägerin erwarb im Rahmen eines Testkaufs ein Exemplar des Modells „D“ über die Webseite der Beklagten. Die Lieferung erfolgte nach Rösrath in Nordrhein-Westfalen.
  14. Die Klägerin sieht im Angebot und im Vertrieb der angegriffenen Ausführungsform in der Bundesrepublik Deutschland eine wortsinngemäße Verletzung des Patentanspruchs 1 des Klagepatents.
  15. Die Beklagte hat erstinstanzlich die Aktivlegitimation der Klägerin sowie eine Verletzung des Klagepatents durch die angegriffene Ausführungsform in Abrede gestellt und die Einrede der Verjährung erhoben. Sie hat zudem die Ansicht vertreten, etwaige Ansprüche der Klägerin seien verwirkt und das Klagepatent werde sich im Nichtigkeitsverfahren als nicht rechtsbeständig erweisen.
  16. In der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht hat die Klägerin die Klage zurückgenommen, soweit sie Ansprüche vor dem 19.02.2010 geltend gemacht hat.
  17. Mit Urteil vom 29.06.2021 hat das Landgericht Düsseldorf eine Verletzung des Klagepatents bejaht und wie folgt erkannt:
  18. I. Die Beklagte wird verurteilt,
  19. 1. es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes in Höhe von bis zu 250.000,00 €, ersatzweise Ordnungshaft, oder einer Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, wobei die Ordnungshaft an ihrem Präsidenten zu vollziehen ist, zu unterlassen
  20. Waagen mit einer Tragplatte zur Aufnahme einer zu wiegenden Masse und mit einer elektrischen Schaltvorrichtung zur Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage,
  21. in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in den Verkehr zu bringen, zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken einzuführen oder zu besitzen,
  22. bei denen die Schaltvorrichtung einen kapazitiven Näherungsschalter mit einer an der Tragplatte angeordneten Elektrode zur Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode aufweist, wobei die Tragplatte aus einem elektrisch nicht leitenden Material besteht und die Elektrode unter der Tragplatte angeordnet ist und die mit der elektrischen Schaltvorrichtung erfolgende Aus- oder Anwahl einer Funktion im Einschalten der Waage besteht;
  23. 2. der Klägerin darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang sie (die Beklagte) die zu Ziffer I.1. bezeichneten Handlungen seit dem 19.02.2010 begangen hat, und zwar unter Angabe
  24. a) der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,
  25. b) der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,
  26. c) der Menge der ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden;
  27. wobei
  28. zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Kaufbelege (nämlich Rechnungen, hilfsweise Lieferscheine) in Kopie vorzulegen sind, wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;
  29. 3. der Klägerin darüber Rechnung zu legen, in welchem Umfang sie (die Beklagte) die zu Ziffer I.1. bezeichneten Handlungen seit dem 19.02.2010 begangen hat, und zwar unter Angabe
  30. a) der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie den Namen und Anschriften der Abnehmer,
  31. b) der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie den Namen und Anschriften der gewerblichen Angebotsempfänger,
  32. c) der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, deren Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet,
  33. d) der nach den einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten und des erzielten Gewinns,
  34. wobei
  35. der Beklagten vorbehalten bleibt, die Namen und Anschriften der nichtgewerblichen Abnehmer und der Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von der Klägerin bezeichneten, ihr gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten, in der Bundesrepublik Deutschland vereidigten Wirtschaftsprüfer mitzuteilen, sofern die Beklagte dessen Kosten trägt und ihn ermächtigt und verpflichtet, der Klägerin auf konkrete Anfrage mitzuteilen, ob ein bestimmter Abnehmer oder Angebotsempfänger in der Aufstellung enthalten ist;
  36. 4. die unter Ziffer I.1. bezeichneten, seit dem 19.02.2010 in der Bundesrepublik Deutschland in Verkehr gebrachten Erzeugnisse gegenüber den gewerblichen Abnehmern unter Hinweis auf den gerichtlich (Urteil des LG Düsseldorf vom 29.06.2021) festgestellten patentverletzenden Zustand der Sache und mit der verbindlichen Zusage zurückzurufen, etwaige Entgelte zu erstatten sowie notwendige Verpackungs- und Transportkosten sowie mit der Rückgabe verbundene Zoll- und Lagerkosten zu übernehmen und die Erzeugnisse wieder an sich zu nehmen.
  37. II. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die in Ziffer I.1. bezeichneten, seit dem 19.02.2010 begangenen Handlungen entstanden ist und noch entstehen wird.
  38. Zur Begründung hat das Landgericht im Wesentlichen ausgeführt:
  39. Die Anspruchsberechtigung der Klägerin ergebe sich daraus, dass das Klagepatent ihr gegenüber erteilt und Ansprüche erst für die Zeit ab Erteilung geltend gemacht würden.
  40. Mit der Vorgabe, wonach die Tragplatte aus einem elektrisch nicht leitenden Material – also einem Nichtleiter – bestehe, werde funktional sichergestellt, dass auf einen Kontakt allein die Elektrode reagiere und diese zudem nicht elektrisch abgeschirmt werde, was die fehlende Funktionstüchtigkeit der Waage zur Folge hätte. Es sei, wie der Fachmann der Beschreibung einer bevorzugten Ausführungsform in Abs. [0018] und Unteranspruch 4 entnehme, nicht ausgeschlossen, dass die Tragplatte auf ihrer Unterseite eine elektrisch leitfähige Beschichtung aufweise, die damit selbst die Elektrode bilden könne.
  41. Unter einer elektrischen Schaltvorrichtung verstehe das Klagepatent eine Anordnung verschiedener Bauteile, mit denen ein (Um)Schaltvorgang durchgeführt werden könne und die unter Zuführung einer Stromquelle arbeite. Im Übrigen lasse das Klagepatent die konkrete Ausgestaltung der elektrischen Schaltvorrichtung offen und nehme insbesondere keine Differenzierung zwischen einer elektrischen und einer elektronischen Schaltvorrichtung vor. Wollte der Fachmann die Begriffe unterscheiden, sei die elektrische Schaltvorrichtung jedenfalls der Oberbegriff, der auch elektronische Bauteile und Schaltungen – insbesondere die elektronische Auswerteeinheit – umfasse.
  42. Den vom Klagepatent nicht näher bestimmten Begriff des Einschaltens der Waage verstehe der Fachmann funktional betrachtet als das Versetzen der Waage von einem funktionslosen Zustand in einen Zustand, in welchem dem Nutzer die Funktionen – beispielsweise die Wiegefunktion, das Auslesen von Daten aus dem Speicher oder das Anschalten des Displays – zur Verfügung stünden. Es komme nicht darauf an, in welchem Umfang bestimmte Schalteinheiten erstmals mit Strom versorgt würden. Dies werde auch daran deutlich, dass der kapazitive Näherungsschalter, wie auch der Bundesgerichtshof im ersten Rechtsbestandsverfahren klargestellt habe, grundsätzlich mit Strom zu versorgen sei, um seine Funktionsfähigkeit sicherzustellen.
  43. Ausgehend von einem solchen Verständnis mache die angegriffene Ausführungsform wortsinngemäß von der technischen Lehre des Klagepatents Gebrauch. Die Klägerin habe unwidersprochen vorgetragen, dass die Tragplatte aus Glas und somit einem nichtleitenden Material bestehe. Der Einwand der Beklagten, die Tragplatte weise eine von der Klägerin nicht näher untersuchte Beschichtung auf, greife nicht durch. Denn es werde weder von der Beklagten vorgetragen noch sei sonst ersichtlich, dass für die Beschichtung ein leitendes Material verwendet werde.
  44. Die angegriffene Ausführungsform verfüge auch über eine elektrische Schaltvorrichtung, die auf nachfolgender Abbildung der als Anlage K 9 überreichten Waage gut zu erkennen sei (die Abbildung wurde vom Senat S. 14 der Klageschrift entnommen):
  45. Auch nach dem Vortrag der Beklagten verfüge die angegriffene Ausführungsform über mehrere elektrische bzw. elektronische Bauteile, die derart angeordnet seien, dass mit ihnen ein Schaltvorgang durchgeführt werden könne. Selbst wenn man den Vortrag der Beklagten, wonach es sich nur um elektronische Bauteile handele, als richtig unterstelle, lasse dies nicht den Rückschluss zu, es handele sich um eine elektronische Schaltvorrichtung. Im Übrigen sei nach der vorgenommenen Auslegung auch eine elektronische Schaltvorrichtung vom Patentanspruch erfasst.
  46. Die Schaltvorrichtung diene auch dem Einschalten der Waage, wobei der Einschaltvorgang mittels des – unstreitig vorhandenen – kapazitiven Näherungsschalters durchgeführt werde. Berühre man den auf der Tragplatte gekennzeichneten Bereich „On/Off/TARE“, schalte sich das Display mit der Anzeige „0 g“ an, bei anschließender Belastung mit einem Gegenstand zeige das Display dessen Gewicht an. Eines weiteren Einschalt-/Umschaltschrittes bedürfe es nicht. Der gekennzeichnete Bereich sei auf nachfolgender Abbildung zu erkennen (der Anlage K 9 entnommen):
  47. Erforderlich, aber auch ausreichend sei, wenn durch das Einschalten des Displays die Einsatzbereitschaft der Waage erstmals signalisiert werde. Vor diesem Hintergrund sei der Vortrag der Beklagten, das Einschalten des Displays belege nicht, dass auch die übrigen Funktionseinheiten der Waage erst über den kapazitiven Näherungsschalter eingeschaltet würden, unbeachtlich. Schließlich stehe es nach der vorgenommenen Auslegung der Merkmalsverwirklichung nicht entgegen, dass der kapazitive Näherungsschalter und gegebenenfalls auch andere Funktionseinheiten der angegriffenen Ausführungsform dauerhaft mit Strom versorgt würden.
  48. Nachdem die angegriffene Ausführungsform somit wortsinngemäß von der technischen Lehre des Klagepatents Gebrauch mache, stünden der Klägerin die geltend gemachten Ansprüche auf Unterlassung, Auskunftserteilung und Rechnungslegung, Rückruf sowie Schadenersatz dem Grunde nach zu. Es fehle insbesondere nicht an dem für den Schadenersatzanspruch erforderlichen Verschulden der Beklagten. Die Beklagte habe ungeachtet der Tatsache, dass sie als reines Handelsunternehmen die angegriffene Ausführungsform lediglich vertreibe, eine Prüfungspflicht gehabt. Sie hätte zumindest sicherstellen müssen, dass innerhalb der Lieferkette die Schutzrechtslage eingehend geprüft wird, wofür ein allgemein gehaltener Hinweis an den Zulieferer auf das Patent und das Einspruchsverfahren nicht ausreichend sei.
  49. Der Durchsetzbarkeit der Ansprüche stehe auch nicht die von der Beklagten erhobene Einrede der Verjährung entgegen. Dass die Klägerin die für den Beginn der regelmäßigen Verjährungsfrist erforderliche Kenntnis gehabt habe, sei weder dargetan noch ersichtlich. Die Klägerin mache Ansprüche zudem nur für einen Zeitraum von zehn Jahren vor Einreichung der Klage geltend, weshalb auch die absolute Verjährungsfrist nicht eingreife.
  50. Der Einwand der Verwirkung greife ebenfalls nicht durch. Es fehle bereits an einem Zeitmoment, nachdem die Klägerin unwidersprochen vorgetragen habe, dass ihr die angegriffenen Waagen der Beklagten vor dem Jahr 2019 nicht bekannt gewesen seien. Mangels einer allgemeinen Marktbeobachtungspflicht ändere daran auch der Umstand nichts, dass die Klägerin die Beklagte als Wettbewerberin kenne. Ein Umstandsmoment werde zudem nicht dadurch begründet, dass die Klägerin zunächst gegen andere Wettbewerber vorgegangen sei.
  51. Für eine Aussetzung der Verhandlung bestehe kein Anlass.
  52. Gegen dieses, ihren Prozessbevollmächtigten am 29.06.2021 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit am selben Tag bei Gericht eingegangenem anwaltlichem Schriftsatz vom 29.07.2021 Berufung eingelegt, mit der sie ihr vor dem Landgericht erfolglos gebliebenes Begehren auf Klageabweisung und hilfsweise Aussetzung weiterverfolgt.
  53. Sie wiederholt und ergänzt ihr erstinstanzliches Vorbringen und macht insbesondere geltend:
  54. Das Landgericht habe zu Unrecht eine wortsinngemäße Verletzung des Klagepatents bejaht. Bei der Auslegung des Begriffs der elektrischen Schaltvorrichtung habe das Landgericht verkannt, dass das Klagepatent – wie im Übrigen auch der allgemeine Sprachgebrauch – klar zwischen den Begriffen „elektrisch“ und „elektronisch“ unterscheide und diese keinesfalls als Ober- und Unterbegriff einordne. Nach dem Verständnis des Klagepatents erfolge die Auswertung elektronisch, während der Schaltvorgang elektrisch sei. Auch die IPC-Patentklassifikation unterscheide strikt zwischen elektrischen und elektronischen Schaltern. Bei zutreffender Auslegung verfüge die angegriffene Ausführungsform weder über eine elektrische Schaltvorrichtung mit Näherungsschalter, noch werde sie durch einen solchen Schalter an- oder ausgeschaltet. Beide Modelle wiesen lediglich einen zentralen Prozessor auf, der die Funktionen der Waage steuern könne. Es handele sich um einen elektronischen, nämlich prozessorgesteuerten Schaltvorgang, womit das Ein- und Ausschalten nicht über eine elektrische Schaltvorrichtung erfolge. Der Näherungssensor und dessen Auswerteeinheit als Signalgeber seien der genannten Untergruppe H03K1700 der IPC-Patentklassifikation zuzuordnen, während eine elektrische Schaltvorrichtung eines elektrischen Schalters im Sinne der Gruppe H01H bedürfe.
  55. Ein Einschalten der Waage setze entgegen der Auffassung des Landgerichts voraus, dass die gesamte Waage aus einem ausgeschalteten in einen eingeschalteten Zustand überführt werde. Im ausgeschalteten Zustand dürfe nur ein Schaltkreis in Betrieb bleiben, der den Einschalter versorge. Es sei zu berücksichtigen, dass sich das Klagepatent in Abs. [0004] gerade von solchen Waagen abgrenze, bei denen wesentliche Bestandteile weiterhin mit Strom versorgt werden. Auch nach dem Hinweisbeschluss des Bundespatentgerichts vom 26.10.2021 müsse der Bedarf an elektrischer Energie auf den Mess- und Anzeigevorgang beschränkt sein, damit von einem Ein- und Ausschalten gesprochen werden könne. Die Annahme, dass das Ein- und Ausschalten der Waage kein bloßes Blockieren einer Bedienfunktion bedeute, werde auch nicht dadurch widerlegt, dass ein kapazitiver Näherungsschalter im ausgeschalteten Zustand Strom verbrauche. Verstehe man das Klagepatent in diesem Sinne, werde die angegriffene Ausführungsform mit dem Aufhellen des Displays nicht eingeschaltet. Denn die zentrale Steuereinheit (CPU) der angegriffenen Ausführungsform werde unabhängig von den Zuständen des Näherungsschalters mit Spannung versorgt und das elektronische Steuerzentrum bleibe somit stets vollständig aktiviert.
  56. Soweit das Landgericht davon ausgehe, dass die Tragplatte einer erfindungsgemäßen Waage zwar aus einem elektrisch nicht leitenden Material bestehen müsse, dies aber eine ihrerseits elektrisch leitfähige Beschichtung nicht ausschließe, verkenne es, dass Tragplatte und Elektrode zwei völlig unterschiedliche Bestandteile der Vorrichtung seien. Eine aus mehreren leitenden und nicht leitenden Schichten bestehende Tragplatte, die Glas nur als eine von mehreren Komponenten aufweise, entspreche nicht der Lehre des Klagepatents. Bei der angegriffenen Ausführungsform fasse der Fachmann die Beschichtung als Teil der Tragplatte auf. Dass diese aus nicht leitendem Material bestehe, habe die Klägerin nicht schlüssig dargelegt.
  57. Erstmals in der Berufungsinstanz macht die Beklagte weiter geltend, aus dem Hinweisbeschluss vom 26.10.2021 ergebe sich, dass Schalter, die eine Berührung des die Elektrode tragenden Substrats erforderten, nach Auffassung des Bundespatentgerichts vom Wortlaut ausgeschlossen seien und keinen kapazitiven Näherungsschalter darstellten. Dass der Benutzer die angegriffene Ausführungsform in diesem Sinne berührungsfrei, das heißt ohne direkten Kontakt, bedienen könne, habe die Klägerin nicht vorgetragen.
  58. Mit der Annahme eines Verschuldens habe das Landgericht den auf sie, die Beklagte, anzuwendenden Sorgfaltsmaßstab verkannt. Tatsächlich sei dieser abgeschwächt, da sie eine Vielzahl von Produkten als „Sortimenter“ vertreibe. Es genüge vor diesem Hintergrund die Zusicherung des Lieferanten, dass Rechte Dritter durch die gelieferten Produkte nicht verletzt würden. Zudem seien die Ansprüche der Klägerin zumindest teilweise verjährt. Bereits in erster Instanz habe sie, die Beklagte, vorgetragen, dass die Klägerin aufgrund des Einspruchsverfahrens grob fahrlässige Unkenntnis von den anspruchsbegründenden Tatsachen gehabt habe, da sie sich einer Kenntnisnahme regelrecht verschlossen habe. Diesen Vortrag habe das Landgericht nicht geprüft und damit ihr rechtliches Gehör verletzt. Jedenfalls sei der Rechtsstreit auszusetzen.
  59. Überdies sei die Kostenentscheidung des Landgerichts fehlerhaft. Infolge der Klagerücknahme für Handlungen vor dem 19.10.2010 – und damit des Entschädigungsanspruchs insgesamt – sei ein Zeitraum von mehr als sechs Jahren von ursprünglich insgesamt 16 Jahren, somit über 40 %, entfallen. Damit hätte das Landgericht ihr die Kosten nicht vollständig auferlegen dürfen.
  60. Die Beklagte beantragt,
  61. das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 29.06.2021, Az. 4b O 14/20, aufzuheben und die Klage abzuweisen;
  62. hilfsweise
  63. das Berufungsverfahren bis zur Erledigung des Nichtigkeitsverfahrens gegen das Klagepatent (Az. 6 Ni 27/20) auszusetzen.
  64. Die Klägerin beantragt,
  65. die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
  66. Sie verteidigt das angefochtene Urteil und tritt den Ausführungen der Beklagten unter Wiederholung und Ergänzung ihres erstinstanzlichen Vorbringens entgegen.
  67. Das Landgericht habe die in erster Instanz streitigen Merkmale zutreffend ausgelegt und sei zu Recht zu dem Ergebnis einer wortsinngemäßen Verwirklichung gelangt. Soweit die Beklagte suggeriere – ihr Vortrag bleibe hier (bewusst) unscharf –, dass der mit „ON/OFF“ zu betätigende kapazitive Näherungsschalter nur das Display einschalte, habe sie, die Klägerin, sich hierzu schon in erster Instanz mit Nichtwissen erklärt. Ebenso mit Nichtwissen erklärt habe sie sich zu dem Vortrag der Beklagten zur Spannungsversorgung der angegriffenen Ausführungsform. Der Vortrag der Beklagten erschöpfe sich in Mutmaßungen und Hypothesen in Bezug auf ihre eigenen Produkte und sei daher unbeachtlich.
  68. Soweit die Beklagte erstmals in der Berufungsinstanz das Vorliegen eines kapazitiven Näherungsschalters in Abrede stelle, handele es sich um ein nicht mehr zu berücksichtigendes neues Verteidigungsmittel. Rein vorsorglich bestreite sie, die Klägerin, dass eine Berührung der Tragplatte erforderlich sei, um die angegriffene Ausführungsform einzuschalten. Eigene Versuche ihrer Prozessbevollmächtigten hätten ergeben, dass die angegriffene Ausführungsform auch ohne Berührung der Tragplatte eingeschaltet werden könne. Abgesehen davon sei das Klagepatent auch dann verletzt, wenn man unterstelle, dass eine solche Berührung erforderlich sei. Bei korrekter Auslegung sei allein entscheidend, dass die Elektrode auf Annäherung reagiere, was jedenfalls der Fall sei.
  69. Zu Recht habe das Landgericht auch das Verschulden der Beklagten angenommen, weil diese kein „Sortimenter“ sei. Abgesehen davon sei das Verschulden selbst bei Anwendung eines geringeren Sorgfaltsmaßstabs gegeben, nachdem der Beklagten das Klagepatent aus dem Einspruchsverfahren bekannt gewesen sei. Zudem trage die Beklagte wiederum nur unscharf vor und es ergebe sich daraus nicht konkret, dass ihr Zulieferer eine gesonderte Prüfung der streitgegenständlichen Produkte und ihrer Patentfreiheit erklärt habe. Vorsorglich erkläre sie sich auch hierzu mit Nichtwissen. Ebenfalls zutreffend habe das Landgericht angenommen, dass ihre Ansprüche nicht verjährt seien. Die Beklagte behaupte nur pauschal eine grob fahrlässige Unkenntnis und trage nicht einmal selbst vor, seit wann sie die angegriffene Ausführungsform vertreibe. Eine Aussetzung des Rechtsstreits sei nicht veranlasst.
  70. Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der wechselseitigen Schriftsätze der Parteien und der von ihnen vorgelegten Anlagen sowie auf den Tatbestand und die Entscheidungsgründe der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen.
  71. II.
    Die Berufung der Beklagten ist zulässig, bleibt in der Sache aber ohne Erfolg. Zu Recht hat das Landgericht in dem Angebot und dem Vertrieb der angegriffenen Ausführungsform in der Bundesrepublik Deutschland eine wortsinngemäße Benutzung des Klagepatents gesehen und die Beklagte wegen unmittelbarer Patentverletzung zur Unterlassung, Auskunftserteilung und Rechnungslegung, zum Rückruf sowie zum Schadenersatz verurteilt. Der Klägerin stehen entsprechende Ansprüche aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ i.V.m. §§ 139 Abs. 1 und 2, 140a Abs. 3, 140b Abs. 1 und 3 PatG i.V.m. §§ 242, 259 BGB zu.
  72. 1.
    Die Klägerin ist hinsichtlich der geltend gemachten Ansprüche aktivlegitimiert. Auf die zutreffenden Ausführungen des Landgerichts, gegen die sich die Beklagte mit der Berufung auch nicht wendet, wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.
  73. 2.
    Das Klagepatent betrifft eine Waage.
  74. Derartige Waagen dienen beispielsweise als elektrische Personenwaagen zum Messen und Anzeigen des Gewichts einer auf der Tragplatte stehenden Person. Im Stand der Technik sind unterschiedliche Konstruktionen, insbesondere zum Aktivieren solcher Waagen, bekannt.
  75. So sind Waagen bekannt, die mittels einer Schaltvorrichtung ein- und ausgeschaltet werden, womit der Bedarf an elektrischer Energie auf den reinen Mess- und Anzeigevorgang beschränkt werden kann. Der Schaltvorgang wird über einen mit dem Fuß zu betätigenden Kontaktschalter ausgelöst. Nachteilig hieran ist, dass ein solcher Schalter aufwendig zu verkabeln ist und der Benutzer den Schalter genau treffen muss, um die Waage einzuschalten (Abs. [0002]).
  76. Ferner ist ein Akustikschalter bekannt, der auf Schwingungen durch Antippen der Waage reagiert. Allerdings reagieren Schalter dieses Typs nicht nur auf beabsichtigte Aktionen des Benutzers, sondern unkontrolliert und unerwünscht auch auf Fremdgeräusche (Abs. [0003]).
  77. Darüber hinaus sind Messsysteme bekannt, die sich ständig in Betrieb befinden und bei denen die Waage durch Gewichtsänderungen auf der Tragplatte aktiviert wird. Nachteilig an solchen Messsystemen sind die ständige Stromaufnahme und der dadurch bedingte hohe Energiebedarf (Abs. [0004]).
  78. Schließlich würdigt das Klagepatent verschiedene Entgegenhaltungen, aus denen eine elektronische Waage mit Kalibriergewichtsschaltung und einem Näherungssensor (Abs. [0005]), eine Analysewaage mit einem im Wesentlichen mechanisch arbeitenden Bedientableau und einer mit Hilfe von Näherungssensoren oder sprachgesteuerten Sensoren zu aktivierenden Gehäusetür (Abs. [0006]) sowie allgemein eine sprechende Waage, ein mechanischer Schalter und ein Näherungsdetektor (Abs. [0007]) bekannt sind.
  79. Vor diesem Hintergrund liegt dem Klagepatent die Aufgabe zugrunde, eine Waage zur Verfügung zu stellen, die in ihrer Bedienung einfach und funktionssicher ist und deren Herstellungs- und Betriebskosten niedrig sind (vgl. BGH, Anlage CMS K 2, S. 4 f.).
  80. Zur Lösung dieser Problemstellung sieht Patentanspruch 1 eine Kombination der folgenden Merkmale vor:
  81. 1. Waage (1), die aufweist:
  82. 1.1 eine Tragplatte (4) und
  83. 1.2 eine elektrische Schaltvorrichtung (16, 24).
  84. 2. Die Tragplatte (4)
  85. 2.1 dient der Aufnahme einer zu wiegenden Masse,
  86. 2.2 besteht aus einem elektrisch nicht leitenden Material.
  87. 3. Die elektrische Schaltvorrichtung (16, 24)
  88. 3.1 dient der Aus- und Anwahl einer Funktion der Waage (1), die im Einschalten der Waage (1) besteht,
  89. 3.2 weist einen kapazitiven Näherungsschalter auf.
  90. 4. Der kapazitive Näherungsschalter weist eine Elektrode (18, 38, 44) auf.
  91. 5. Die Elektrode (18, 38, 44)
  92. 5.1 dient der Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode (18, 38, 44),
  93. 5.2 ist an der Tragplatte (4) angeordnet,
  94. 5.3 ist unter der Tragplatte (4) angeordnet.
  95. Den Ausführungen des Bundespatentgerichts in seinem qualifizierten Hinweis vom 26.10.2021, wonach sich bei verständiger Lesart unmittelbar und eindeutig ergebe, dass nicht die Elektrode der Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode diene, sondern diese Funktion dem Näherungsschalter insgesamt zukomme, weshalb das entsprechende Merkmal (hier: 5.1) dem Näherungsschalter insgesamt zuzuordnen sei (Anlage B 10, S. 4 f.), tritt der Senat nicht bei. Gegen ein solches Verständnis des Anspruchswortlauts, welches vom Bundesgerichtshof (vgl. Anlage CMS K 2, S. 5) nicht geteilt wird, spricht auch die Beschreibung des Klagepatents, in der es in Abs. [0009] (Sp. 2 Z. 6–8) heißt: „Bei der erfindungsgemäßen Waage überwacht eine mit einer elektronischen Auswerteeinheit verbundene Elektrode die Umgebungskapazität der Elektrode.“
  96. 3.
    Soweit die Beklagte erstmals in der Berufungsinstanz auch die Verwirklichung der Merkmale 3.2 und 4 in Frage stellt, unterliegt dies, da es lediglich mit einer bestimmten Auslegung des Begriffs des kapazitiven Näherungsschalters gerechtfertigt wird, nicht den Beschränkungen der §§ 529, 531 ZPO. Die Ermittlung des technischen Sinngehalts eines Patents stellt eine Rechtsfrage dar (BGH, GRUR 2004, 1023, 1025 – Bodenseitige Vereinzelungsvorrichtung; GRUR 2006, 131 Rz. 19 – Seitenspiegel; GRUR 2006, 313 Rz. 18 – Stapeltrockner), weshalb es sich bei der Darstellung neuer Aspekte der Auslegung um Rechtsausführungen handelt. Diese stellen kein Angriffs- und Verteidigungsmittel im Sinne der Präklusionsvorschriften dar und sind daher in der Berufungsinstanz uneingeschränkt zu berücksichtigen (vgl. MüKoZPO-Rimmelspacher, 6. Aufl., § 520 Rz. 65).
  97. 4.
    Dies vorausgeschickt, bedürfen insbesondere die Merkmale 2.2 und 3.1 sowie die Begriffe der elektrischen Schaltvorrichtung (Merkmale 1.2, 3) und des kapazitiven Näherungsschalters (Merkmale 3.2, 4) einer näheren Erläuterung.
  98. a)
    Eine erfindungsgemäße Waage weist zunächst eine Tragplatte auf (Merkmal 1.1). Die Tragplatte dient, wie sich aus Merkmal 2.1 ergibt, der Aufnahme einer zu wiegenden Masse. Sie „trägt“ diese (vgl. BPatG, Anlage B 10, S. 5).
  99. Merkmal 2.2 bestimmt, dass die Tragplatte aus einem elektrisch nicht leitenden Material besteht. Als Beispiele eines solchen Materials – eines sogenannten Isolators bzw. Dielektrikums (vgl. BPatG, Anlage B 10, S. 5) – nennt das Klagepatent Glas, Kunststoff oder Granit (vgl. Abs. [0017]). Zweck dieser Ausgestaltung ist die Funktionsfähigkeit des kapazitiven Näherungsschalters, der auf die Annäherung von Gegenständen mit anderen dielektrischen Eigenschaften als denjenigen seiner stationären Umgebung reagiert (Abs. [0009], Sp. 1 Z. 56 bis Sp. 2 Z. 2). Indem die Tragplatte, die Teil der stationären Umgebung des Näherungsschalters ist, aus einem elektrisch nicht leitenden Material besteht, wird sichergestellt, dass die Reaktion auf die Annäherung von Gegenständen mit anderen dielektrischen Eigenschaften erfolgt, etwa Teilen des menschlichen Körpers (vgl. Abs. [0009] Sp. 2 Z. 2–6).
  100. Aus der Systematik des Patentanspruchs 1 entnimmt der Fachmann, dass es sich bei der Tragplatte (Merkmal 1.1, Merkmalsgruppe 2) und der Elektrode (Merkmal 4, Merkmalsgruppe 5) um voneinander zu unterscheidende, selbstständige Bauteile einer erfindungsgemäßen Waage handelt. Dies lässt sich insbesondere anhand der Merkmale 5.2 und 5.3 erkennen, die Vorgaben zu der Anordnung der Elektrode gerade im Verhältnis zu der Tragplatte enthalten. Der Patentanspruch schließt jedoch nicht aus, dass die Elektrode mit der Tragplatte unmittelbar verbunden und beispielsweise in Form einer Beschichtung auf diese aufgebracht ist. Nach den Ausführungsbeispielen kann die Elektrode etwa eine unter der Tragplatte aufgebrachte elektrisch leitende Druck- oder Bedampfungsschicht sein bzw. eine solche aufweisen (vgl. Abs. [0018], [0019], Unteranspruch 4). Darüber hinaus kann über und/oder unter der Tragplatte einer erfindungsgemäßen Waage auch eine solche Beschichtung vorgesehen sein, die zwar nicht in diesem Sinne Bestandteil der Elektrode ist, deren dielektrische Eigenschaften die Funktion der Elektrode aber nicht beeinträchtigen.
  101. b)
    Darüber hinaus weist eine erfindungsgemäße Waage eine elektrische Schaltvorrichtung auf (Merkmal 1.2), die in der Merkmalsgruppe 3 näher bestimmt wird.
  102. Mit dem Begriff der Schaltvorrichtung spricht das Klagepatent eine Anordnung von Bauteilen an, mittels derer ein Schaltvorgang ermöglicht wird, nämlich jedenfalls das Einschalten der Waage (vgl. Merkmal 3.1). Elektrisch ist die Schaltvorrichtung, wenn sie durch elektrischen Strom funktionsfähig wird und der Schaltvorgang nicht durch mechanische Bauteile ausgelöst wird. Denn das Klagepatent betrachtet es in Abgrenzung zur Verwendung eines mechanischen Schalters als vorteilhaft, dass die Waage besonders bedienungssicher ist, weil der Schalter nicht genau getroffen werden muss und zudem auf bewegliche Bauteile verzichtet werden kann, was die Betriebssicherheit erhöht und Verschleiß vermeidet (vgl. Abs. [0009], Sp. 2 Z. 17–22). Von einem solchen, aus dem Stand der Technik bekannten mechanischen Kontaktschalter grenzt sich das Klagepatent zudem in Abs. [0002] ab, indem es neben der aufwendigen Verkabelung gerade die Notwendigkeit eines genauen Treffens des Schalters durch den Benutzer als nachteilig bezeichnet.
  103. Dagegen schließt das Klagepatent mit der Vorgabe, wonach es sich um eine elektrische Schaltvorrichtung handelt, nicht die Verwendung elektronischer Bauteile aus. Anhaltspunkte für eine solche – nach dem Wortlaut nicht zwingende – Sichtweise lassen sich weder dem Patentanspruch noch der Klagepatentschrift im Übrigen entnehmen. Das Klagepatent geht vielmehr selbst davon aus, dass Teil der Schaltvorrichtung mit der elektronischen Auswerteeinheit ein elektronisches Bauteil sein kann. Eine solche elektronische Auswerteeinheit kann nach der Lehre des Klagepatents mit der Elektrode verbunden sein und dazu dienen, die Umgebungskapazität der Elektrode auszuwerten und bei bestimmten typischen Änderungen durch ein Signal an nachfolgende Schaltungsteile zu reagieren (Abs. [0009], Sp. 2 Z. 6–13). Dass die elektronische Auswerteeinheit, wenn sie vorhanden ist, Bestandteil der elektrischen Schaltvorrichtung ist, entnimmt der Fachmann der Systematik des Patentanspruchs. Sie ist mit der Elektrode verbunden, die ihrerseits Bestandteil des Näherungsschalters und damit Teil der Schaltvorrichtung ist. Darüber hinaus wird die elektronische Auswerteeinheit in dem in Fig. 1 gezeigten und in Abs. [0017] beschriebenen Ausführungsbeispiel ausdrücklich als Teil der elektrischen Schaltvorrichtung genannt. Dort heißt es in Sp. 3 Z. 54 bis Sp. 4 Z. 1:
  104. „Eine erste elektrische Schaltvorrichtung 16 mit einem kapazitiven Näherungsschalter dient einem Einschalten der Waage 1. Diese Schaltvorrichtung 16 weist eine an der Tragplatte 4 angeordnete Elektrode 18, eine Auswerteeinheit 20 zur Überwachung und Auswertung der Umgebungskapazität der Elektrode 18 und eine elektrische Leitung 22 zur Verbindung von Elektrode 18 und Auswerteeinheit 20 auf. […]“
  105. (Hervorhebungen hinzugefügt)
  106. Dies spricht ebenfalls für ein Verständnis, wonach eine elektrische Schaltvorrichtung nach der Lehre des Klagepatents auch elektronische Bauteile enthalten kann. Denn im Zweifel sind die im Patentanspruch verwendeten Begriffe so zu verstehen, dass sämtliche Ausführungsbeispiele zu ihrer Ausfüllung herangezogen werden können (BGH, GRUR 2015, 972, 974 – Kreuzgestänge).
  107. Auch das Bundespatentgericht schließt mit seiner in dem Hinweisbeschluss vom 26.10.2021 erfolgten Definition der elektrischen Schaltvorrichtung das Vorsehen von elektronischen Bauteilen nicht aus. Nach der Definition des Bundespatentgerichts ist eine elektrische Schaltvorrichtung allgemein eine Baugruppe, die mittels elektrisch leitender Materialien oder eines Halbleiterbauelements eine elektrisch leitende Verbindung herstellen und trennen kann, wobei die Betätigung des Schalters idealerweise immer eindeutig zu einem der beiden Schaltzustände offen oder geschlossen führt (Anlage B 10, S. 5). Indem das Bundespatentgericht ausdrücklich Halbleiterbauelemente als mögliche Bauteile einer elektrischen Schaltvorrichtung nennt, spricht es auch solche Bauteile an, die die Beklagte als elektronisch ansieht, etwa Dioden (vgl. Anlage B 2). Dass das Bundespatentgericht elektronische Bauteile als Bestandteile einer erfindungsgemäßen elektrischen Schaltvorrichtung ausschließt, ist vor diesem Hintergrund nicht erkennbar.
  108. Schließlich greift der Hinweis der Beklagten auf eine von der IPC-Patentklassifikation (vgl. Anlage B 11) vorgenommene Differenzierung zwischen elektrischen Schaltern und elektronischen Schaltern nicht durch. Es handelt sich zum einen nicht um zulässiges Auslegungsmaterial, zum anderen ist – worauf die Klägerin zu Recht hinweist – zweifelhaft, ob sich aus der von der Beklagten vorgelegten Anlage eine solche Differenzierung entnehmen lässt. Selbst wenn sich dieser aber eine Differenzierung zwischen elektrischen Schaltern und elektronischen Schaltern entnehmen ließe, entsprächen die daraus von der Beklagten gezogenen Schlussfolgerungen jedenfalls nicht dem Verständnis des Klagepatents. Denn die Beklagte argumentiert, dass „der Näherungssensor und dessen Auswerteeinheit als Signalgeber“ der Klasse elektronischer Schalter (Untergruppe: kontaktloses elektronisches Schalten) zuzuordnen seien, während eine elektrische Schaltvorrichtung eines elektrischen Schalters bedürfe. Dass es sich bei dem kapazitiven Näherungsschalter um einen Teil der elektrischen Schaltvorrichtung im Sinne des Klagepatents handelt, ergibt sich indes unmittelbar aus dem Anspruch. Schließlich weist die elektrische Schaltvorrichtung nach Merkmal 3.2 einen kapazitiven Näherungsschalter auf. Sollte also, wie die Beklagte geltend macht, schon der Näherungsschalter kein elektrischer Schalter in diesem Sinne sein, läge der IPC-Patentklassifikation jedenfalls ein anderes Begriffsverständnis zugrunde als dasjenige, von dem das Klagepatent ausgeht. Letzteres ist indes maßgeblich, da das Klagepatent Begriffe eigenständig definieren und insoweit ein eigenes Lexikon darstellen kann (vgl. BGH, GRUR 1999, 909 – Spannschraube; GRUR 2015, 875, 876 – Rotorelemente; GRUR 2016, 361, 362 – Fugenband).
  109. c)
    Die elektrische Schaltvorrichtung dient nach Merkmal 3.1 der Aus- und Anwahl einer Funktion der Waage, die im Einschalten der Waage besteht.
  110. Was es unter dem Einschalten der Waage versteht, lässt das Klagepatent offen. Es gibt insbesondere nicht vor, dass – im Sinne eines „Hauptschalters“ – erst durch das Einschalten ein Energiebedarf entstehen darf oder ein solcher im ausgeschalteten Zustand jedenfalls auf den für die Funktion des Einschaltens notwendigen Umfang beschränkt sein muss. Erforderlich, aber auch ausreichend ist vielmehr, wenn die Waage durch das Einschalten für den Anwender nutzbar wird und ihm eine oder mehrere Funktionen zur Verfügung stehen.
  111. Dass eine erfindungsgemäße Waage auch im ausgeschalteten Zustand Energie verbrauchen darf (und sogar muss), erkennt der Fachmann bereits daran, dass ein kapazitiver Näherungsschalter vorgesehen ist. Ein solcher Schalter verbraucht – anders als die in Abs. [0002] gewürdigten mechanischen Schalter – auch im ausgeschalteten Zustand Strom (vgl. BGH, Anlage CMS K 2, S. 16). Folgerichtig spricht das Klagepatent davon, dass die Verwendung eines kapazitiven Näherungsschalters zu einem niedrigen Energiebedarf führt (Abs. [0009], Sp. 2 Z. 22–24), und nicht davon, dass – wie im genannten Stand der Technik – der Energiebedarf auf den reinen Mess- und Anzeigevorgang beschränkt ist.
  112. Ferner lässt sich weder aus dem Wortlaut des Merkmals noch aus der Klagepatentschrift eine Vorgabe entnehmen, wonach erst nach dem Einschalten der Waage etwaige (weitere) Funktionen der Waage nutzbar werden und eine erfindungsgemäße Waage im ausgeschalteten Zustand zwar – wie soeben dargestellt – Strom verbrauchen darf, dieser Bedarf aber nicht über den für das Einschalten der Waage notwendigen Umfang hinausgehen darf. Vielmehr ist auch bei bevorzugten Ausführungsformen des Klagepatents ein Stromverbrauch im ausgeschalteten Zustand über den für das Einschalten der Waage notwendigen Umfang hinaus gegeben bzw. jedenfalls möglich. Dies spricht, da die im Patentanspruch verwendeten Begriffe im Zweifel so zu verstehen sind, dass sämtliche Ausführungsbeispiele zu ihrer Ausfüllung herangezogen werden können (BGH, GRUR 2015, 972, 974 – Kreuzgestänge), für das eingangs dargestellte Verständnis. So erläutert das Klagepatent in Abs. [0014] und Abs. [0017] vorteilhafte Weiterbildungen der Erfindung, bei denen mindestens zwei Schaltvorrichtungen vorgesehen sind, die jeweils einen kapazitiven Näherungsschalter aufweisen, und der Schaltung unterschiedlicher Funktionen dienen. Während eine Schaltvorrichtung dem Einschalten der Waage dient, kann der Benutzer mit der anderen Schaltvorrichtung frühere Messwerte der Waage auslesen (vgl. auch Fig. 1). Dass erfindungsgemäß zwingend zunächst einer dieser Näherungsschalter (derjenige für das Einschalten) zu bedienen wäre und erst im Anschluss daran der andere Näherungsschalter (derjenige für das Auslesen früherer Messwerte) infolge einer nunmehr hergestellten Spannungsversorgung nutzbar würde, lässt sich dem Klagepatent nicht entnehmen. Damit ist es zumindest möglich, dass bei einer solchen Ausgestaltung für den Betrieb beider Näherungsschalter auch im ausgeschalteten Zustand Strom verbraucht wird.
  113. Sieht eine erfindungsgemäße Waage mehrere Funktionen vor, ist die Lehre des Klagepatents allerdings nicht auf die dargestellte Ausgestaltung beschränkt, bei der für jede Funktion ein eigener kapazitiver Näherungsschalter zur Verfügung steht. Anspruchsgemäß ist es vielmehr auch, wenn mehrere Funktionen der Waage in einem Bauteil, etwa einer zentralen Steuereinheit, zusammengefasst werden.
  114. Ein anderes Verständnis folgt auch nicht aus dem in der Klagepatentschrift gewürdigten Stand der Technik. So kann bei der bereits erwähnten, in Abs. [0002] dargestellten Personenwaage der Bedarf an elektrischer Energie zwar auf den reinen Mess- und Anzeigevorgang beschränkt werden. Dies bedingt jedoch die Verwendung eines mechanischen Schalters, der andere Nachteile aufweist, die das Klagepatent gerade vermeiden will [dazu bereits unter a)]. Demgegenüber trifft es zwar zu, dass eine erfindungsgemäße Waage auch im ausgeschalteten Zustand Strom verbraucht und damit den gleichen Nachteil aufweist wie die in Abs. [0004] genannten, ständig in Betrieb befindlichen Messsysteme (BGH, Anlage CMS K2, S. 16). Mit der Verwendung eines kapazitiven Näherungsschalters liegt der erfindungsgemäßen Lehre aber eine grundlegend andere Methode der Aktivierung zugrunde als den in Abs. [0004] gewürdigten Systemen, die auf der Erfassung von Gewichtsänderungen beruhen. Dies gilt auch dann, wenn in einer bevorzugten Ausführungsform des Klagepatents die Wägezelle die Elektrode bildet (vgl. Abs. [0012], Unteranspruch 5), weil auch in diesem Fall nicht Gewichtsänderungen, sondern die Annäherung an die Elektrode erfasst wird. Darüber hinaus sieht das Klagepatent den Energiebedarf bei der Verwendung eines kapazitiven Näherungsschalters – wenn er auch nie auf Null abfällt – bauartbedingt gleichwohl als niedrig an (Abs. [0009], Sp. 2 Z. 22–24).
  115. Soweit die Beklagte schließlich eine Stelle im Hinweisbeschluss des Bundespatentgerichts heranzieht (Anlage B 10, S. 3, 2. und 3. Abs.), wird dort nur der in der Klagepatentschrift gewürdigte Stand der Technik wiedergegeben und ergibt sich daraus aus den soeben dargestellten Gründen kein anderes Verständnis.
  116. d)
    Die elektrische Schaltvorrichtung weist nach Merkmal 3.2 einen kapazitiven Näherungsschalter auf.
  117. Das Klagepatent versteht unter einem kapazitiven Näherungsschalter ein Bauteil, das bei einer durch die Annäherung eines Gegenstandes verursachten Änderung der Umgebungskapazität einen Schaltungsvorgang auslöst. Diese Funktionsweise wird nicht nur durch den Begriff „Näherungsschalter“ angedeutet, sondern geht auch aus dem Klagepatentanspruch hervor, demzufolge der kapazitive Näherungsschalter eine Elektrode aufweist, die der Überwachung der Umgebungskapazität dient (Merkmale 4 bis 5.1; vgl. Senat, Urt. v. 06.06.2013, I-2 U 60/11, BeckRS 2013, 12501).
  118. Soweit die Beklagten meinen, nach der Lehre des Klagepatents dürfe der Schaltvorgang nicht erst durch eine Berührung der Waage bewirkt werden, sondern müsse bereits durch die bloße Annäherung an die Waage ausgelöst werden, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Nach der Lehre des Klagepatents ist es nicht ausgeschlossen, dass der Schaltvorgang erst durch eine Berührung der Waage, insbesondere der Tragplatte, ausgelöst wird. Bereits der Wortlaut des Klagepatentanspruchs gibt einen Hinweis darauf, dass sich ein kapazitiver Näherungsschalter dadurch auszeichnet, dass er auf eine Annäherung an die Elektrode (und nicht an die Waage) reagiert. Denn die Elektrode selbst dient der Überwachung ihrer Umgebungskapazität (Merkmal 5.1). Der Begriff des kapazitiven Näherungsschalters kann daher allenfalls dahingehend verstanden werden, dass der Schaltvorgang bereits vor der Berührung der Elektrode ausgelöst werden soll. Da aber die Elektrode erfindungsgemäß unter der Tragplatte angeordnet ist (Merkmal 5.3), ist ihre Berührung von vornherein ausgeschlossen. Der Bereich auf der Tragplatte gehört, wie bereits unter a) angesprochen, zur Umgebung der Elektrode, deren Kapazität sie überwachen soll (vgl. Senat, Urt. v. 06.06.2013, I-2 U 60/11, BeckRS 2013, 12501).
  119. Auch der in der Klagepatentschrift gewürdigte Stand der Technik führt zu keiner anderen Auslegung. Zwar kann die Würdigung der US 4,932,487 in Abs. [0005] dahingehend verstanden werden, dass der Näherungssensor den Kalibrierungsvorgang bereits dann abbricht, wenn sich eine Person der Waage nähert. In Bezug auf das Klagepatent führt dies aber bereits deshalb nicht zu einem anderen Verständnis, weil es diesem nicht darum geht, mit Hilfe des Näherungsschalters dafür zu sorgen, dass nicht in einen Kalibriervorgang eingegriffen wird. Mit der Schaltvorrichtung soll stattdessen lediglich die Waage selbst eingeschaltet werden können. Für den bloßen Einschaltvorgang ist es jedoch unbeachtlich, ob der Näherungsschalter bereits bei einer bloßen Annäherung des Gegenstandes an die Waage oder erst bei ihrer Berührung auslöst (vgl. Senat, Urt. v. 06.06.2013, I-2 U 60/11, BeckRS 2013, 12501).
  120. Ferner lässt sich Abs. [0002], wonach die dort gewürdigte Waage einen Kontaktschalter aufweist, der unter anderem deswegen als nachteilig angesehen wird, weil der Benutzer zur Schalterbetätigung auf eine exakt definierte Stelle der Waage zielen muss, nicht entnehmen, dass bei einer erfindungsgemäßen Waage für die Auslösung des Schaltvorgangs ein Kontakt mit der Waage zu vermeiden wäre. Der Begriff „Kontaktschalter“ darf nicht aufgrund des Wortbestandteils „Kontakt-“ in Abgrenzung zu einem Näherungsschalter dahingehend missverstanden werden, dass er eine Berührung der Waage erfordert, während der Näherungsschalter den Schaltvorgang bereits bei einer Annäherung an die Waage auslöst. Der Begriff „Kontaktschalter“ macht vielmehr lediglich deutlich, dass durch den Schalter unmittelbar der elektrische Kontakt hergestellt oder unterbrochen wird, um beispielsweise, wie in dem vom Klagepatent dargestellten Fall, die Waage ein- oder auszuschalten. Es handelt sich, wie bereits ausgeführt, um einen mechanischen Schalter. Das Klagepatent sieht also nicht die für die Betätigung des Schalters erforderliche Berührung selbst als nachteilig an, sondern dass dafür genau auf den mechanischen Schalter gezielt werden muss. Dieser Nachteil wird durch die Verwendung eines kapazitiven Näherungsschalters beseitigt, weil nicht mehr genau der Schalter getroffen werden muss, um den Schaltvorgang auszulösen (Abs. [0009], Sp. 2 Z. 16–19), sondern eine Annäherung an den Schalter genügt. Insofern ist es unbeachtlich, ob der Schaltvorgang bewirkt werden kann, bevor die Tragplatte berührt wird, oder ob dies nur mit einer Berührung der Tragplatte möglich ist. In beiden Fällen erfolgt der Schaltvorgang, wenn sich der Gegenstand der Umgebung der Elektrode annähert (vgl. Senat, Urt. v. 06.06.2013, I-2 U 60/11, BeckRS 2013, 12501).
  121. Etwas anderes ergibt sich entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht daraus, dass das Bundespatentgericht in seinem Hinweis vom 26.10.2021 den kapazitiven Näherungsschalter als Schalter bzw. Sensor definiert, der berührungsfrei – das heißt ohne direkten Kontakt – auf Annäherung eines leitenden oder nicht leitenden Gegenstandes (metallische, nichtmetallische, feste oder flüssige Materialien) mit einem elektrischen Schaltsignal reagiert (Anlage B 10, S. 6). Denn danach ist es nicht die Waage, die berührungsfrei auf Annäherung reagiert, sondern – im Einklang mit obiger Auslegung – der Schalter. Auch an anderer Stelle grenzt das Bundespatentgericht in seinem Hinweis die Lehre des Klagepatents vom Stand der Technik ab, indem es ausführt, die dort offenbarten Schaltvorrichtungen müssten gedrückt oder zumindest berührt werden (vgl. Anlage B 10, S. 14, 27).
  122. 5.
    Ausgehend von einem solchen Verständnis ist das Landgericht zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass die angegriffene Ausführungsform wortsinngemäß von der technischen Lehre von Patentanspruch 1 des Klagepatents Gebrauch macht. Zu Recht steht zwischen den Parteien die Verwirklichung der Merkmale 1, 1.1, 2, 2.1 sowie der Merkmalsgruppe 5 nicht in Streit, so dass es insoweit keiner weiteren Ausführungen bedarf. Darüber hinaus macht die angegriffene Ausführungsform auch von den übrigen Merkmalen des Patentanspruchs 1 wortsinngemäß Gebrauch.
  123. a)
    Die Tragplatte der angegriffenen Ausführungsform besteht aus Glas und damit aus einem elektrisch nicht leitenden Material im Sinne des Merkmals 2.2. Dass unter und über der Tragplatte eine Beschichtung vorhanden ist, steht der Merkmalsverwirklichung nicht entgegen. Soweit die Beklagte geltend macht, die Klägerin habe die leitenden (oder nicht leitenden) Eigenschaften dieser Beschichtung nicht dargelegt, greift dies nicht durch. Denn es steht jedenfalls fest, dass die dielektrischen Eigenschaften der Beschichtung die Funktionsfähigkeit der Elektrode nicht stören. Einer Feststellung, ob und in welchem Umfang das für die Beschichtung verwendete Material elektrisch leitet, bedarf es daher nicht.
  124. b)
    Die angegriffene Ausführungsform verfügt auch über eine elektrische Schaltvorrichtung im Sinne der Merkmale 1.2 und 3. Die vorhandenen Bauteile sind so angeordnet, dass sie einen Schaltvorgang ermöglichen. Es handelt sich auch um eine elektrische Schaltvorrichtung, weil sie durch elektrischen Strom funktionsfähig wird und der Schaltvorgang nicht durch ein mechanisches Bauteil ausgelöst wird. Dass die erfindungsgemäß erforderliche Funktion, nämlich das Einschalten der Waage, nach dem Vortrag der Beklagten dadurch erfolgt, dass mit der zentralen Steuereinheit (CPU) ein elektronisches Bauteil die Funktionen steuert, führt nach obiger Auslegung nicht aus der Verletzung heraus.
  125. c)
    Die elektrische Schaltvorrichtung der angegriffenen Ausführungsform dient auch der Aus- oder Anwahl einer Funktion der Waage, die im Einschalten der Waage besteht (Merkmal 3.1). Durch die Betätigung des kapazitiven Näherungsschalters infolge einer Berührung des Feldes mit der Aufschrift „On/Off/TARE“ wird die Waage in einen für den Anwender nutzbaren Zustand versetzt, in dem jedenfalls – dies ist zwischen den Parteien unstreitig – das Display aufhellt und ein Wiegevorgang durchgeführt werden kann. Für die Merkmalsverwirklichung ohne Bedeutung ist nach der dargestellten Auslegung, dass die dauerhaft Energie verbrauchende zentrale Steuereinheit der angegriffenen Ausführungsform neben dem Einschalten der Waage weitere Funktionen steuert und die Spannungsversorgung nicht über den kapazitiven Näherungsschalter unterbrochen werden kann.
  126. d)
    Die Schaltvorrichtung der angegriffenen Ausführungsform weist schließlich einen kapazitiven Näherungsschalter auf (Merkmale 3.2, 4).
  127. Nach den Feststellungen des Landgerichts, die der Senat seiner Entscheidung grundsätzlich nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zugrunde zu legen hat, schaltet sich das Display der angegriffenen Ausführungsform an und zeigt „0 g“, wenn man den auf der Tragplatte gekennzeichneten Bereich „On/Off/TARE“ berührt. Ob die Klägerin vor diesem Hintergrund in der Berufungsinstanz mit ihrem Vortrag gehört werden kann, die angegriffene Ausführungsform könne auch ohne Berührung der Tragplatte eingeschaltet werden, kann im Ergebnis offen bleiben. Selbst wenn eine Berührung der Tragplatte der angegriffenen Ausführungsform erforderlich sein sollte, um den Schalter zu betätigen, steht dies nach obiger Auslegung der Merkmalsverwirklichung nicht entgegen.
  128. 6.
    Davon ausgehend hat das Landgericht im Angebot und im Vertrieb der angegriffenen Ausführungsform in der Bundesrepublik Deutschland zutreffend eine unmittelbare wortsinngemäße Verletzung des Klagepatents i.S.v. § 9 Nr. 1 PatG gesehen. Dass die Beklagte vor diesem Hintergrund zur Unterlassung, Auskunftserteilung, Rechnungslegung und zum Rückruf verpflichtet ist, hat das Landgericht im angefochtenen Urteil zutreffend dargelegt. Auf die diesbezüglichen Ausführungen kann zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen werden.
  129. Ebenfalls zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass die Beklagte dem Grunde nach zur Leistung von Schadenersatz verpflichtet ist und es insbesondere nicht an dem hierfür erforderlichen Verschulden der Beklagten fehlt. Die Beklagte hat jedenfalls fahrlässig gehandelt, da sie die im Geschäftsverkehr erforderliche Sorgfalt nicht beachtet hat, § 276 Abs. 2 BGB.
  130. Nach den unbeanstandet gebliebenen Feststellungen des Landgerichts (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) vertreibt die Beklagte neben Medizinprodukten, Bad-, Küchen- und Schlafzimmerzubehör unter anderem auch mechanische und elektronische Küchenwaagen. Unstreitig ist zudem, dass sie die angegriffene Ausführungsform unter ihrem eigenen Namen vertreibt. Dass sie, wie sie meint, ein sogenannter „Sortimenter“ ist, lässt sich auf dieser Grundlage nicht feststellen. Vielmehr vertreibt sie mit den genannten Produkten technische Gegenstände einer bestimmten Art, womit sie in Abgrenzung zu einem Sortimenter, zu dessen Vertriebsprogramm eine große Vielzahl unterschiedlichster Produkte gehört, als ein „spezialisiertes“ Handelsunternehmen anzusehen ist.
  131. Von einem derartigen „spezialisierten“ Handelsunternehmen ist grundsätzlich eine eigene Prüfung der Schutzrechtslage zu erwarten, selbst wenn diese wegen der technischen Komplexität des betroffenen Gegenstandes mit einem beträchtlichen Aufwand verbunden ist (OLG Düsseldorf, Urt. v. 08.12.2016, Az.: I-2 U 6/13, GRUR-RS 2016, 111011 Rz. 92; vgl. ferner OLG Düsseldorf, GRUR 2017, 1219, 1229 – Mobiles Kommunikationssystem; LG Mannheim, Urt. v. 06.06.2006, Az.: 2 O 242/05 – Halbleiterbaugruppe, Rz. 70 bei Juris). Hat in der Zulieferkette bereits eine ernsthafte, sorgfältige und sachkundige Prüfung daraufhin stattgefunden, ob das Produkt Schutzrechte im Bestimmungsland verletzt, so reduziert sich die Pflicht des Händlers darauf, sich zu vergewissern, dass die Schutzrechtslage verlässlich verifiziert worden ist (OLG Düsseldorf, Urt. v. 08.12.2016, Az.: I-2 U 6/13, GRUR-RS 2016, 111011 Rz. 92; Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 14. Aufl., Abschn. D Rz. 678). Eine allgemeine Haftungsfreistellung, mit der der Lieferant zusichert, dass der Liefergegenstand Rechte Dritter nicht verletzt, reicht insoweit aber nicht aus (OLG Düsseldorf, Urt. v. 08.12.2016, Az.: I-2 U 6/13, GRUR-RS 2016, 111011 Rz. 92; LG Mannheim, Urt. v. 06.06.2006, Az.: 2 O 242/05 – Halbleiterbaugruppe, Rz. 70 bei Juris; Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 14. Aufl., Abschn. D Rz. 678). Vielmehr muss der Nachweis eingefordert werden, dass eine sachkundige und hinreichend erfahrene Person die Verletzungsfrage gewissenhaft mit dem (zumindest vertretbaren) Ergebnis einer Nichtverletzung begutachtet hat, und zwar sowohl in tatsächlicher (Beschaffenheit der angegriffenen Ausführungsform) als auch in rechtlicher Hinsicht (Eingriff in den Schutzbereich?) (OLG Düsseldorf, Urt. v. 08.12.2016, Az.: I-2 U 6/13, GRUR-RS 2016, 111011 Rz. 92; Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 14. Aufl., Abschn. D Rz. 678). Wer selbst keine geeigneten Untersuchungen anstellt und wem auch von seinen Zulieferern kein verlässlicher Nachweis über die Nichtverletzung präsentiert wird, aber dennoch den Vertrieb aufnimmt, handelt schuldhaft (OLG Düsseldorf, Urt. v. 08.12.2016, Az.: I-2 U 6/13, GRUR-RS 2016, 111011 Rz. 92; Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 14. Aufl., Abschn. D Rz. 678).
  132. Daran gemessen ist die Beklagte den an sie zu stellenden Sorgfaltsanforderungen nicht nachgekommen. Dem Vortrag der Beklagten ist weder zu entnehmen, dass sie eine eigene Prüfung der Schutzrechtslage vorgenommen hat, noch dass sie sich davon überzeugt hat, dass in der Kette ihrer Zulieferer eine verlässliche Prüfung stattgefunden hat.
  133. Selbst wenn man die Beklagte aber als „Sortimenter“ ansehen und von einem abgeschwächten Sorgfaltsmaßstab ausgehen wollte, hätte die Beklagte fahrlässig gehandelt. Auch von einem „Sortimenter“ ist mindestens zu fordern, dass er sich – wenn die Warengattung die Möglichkeit eines Patentschutzes nahelegt – bei seinem Lieferanten oder beim Hersteller danach erkundigt, ob die Schutzrechtslage für das vorgesehene Vertriebsgebiet fachkundig geprüft worden ist und sich nur auf eine nicht nur pauschal in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, sondern auf konkrete Nachfrage hin erfolgte Zusicherung verlässt (vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 08.12.2016, Az.: I-2 U 6/13, GRUR-RS 2016, 111011 Rz. 94; Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 14. Aufl., Abschn. D Rz. 682). Auch bei Anwendung dieses Maßstabs wäre von der Beklagten eine Erkundigung beim Hersteller und das Einholen einer auf konkrete Nachfrage hin erfolgten Zusicherung zu fordern gewesen, nachdem das Bestehen von Patentschutz nicht nur nach dem technischen Gebiet der angegriffenen Ausführungsform in Betracht kam, sondern ihr das Klagepatent aus dem Einspruchsverfahren sogar konkret bekannt war. Hierfür reicht der nach dem Vortrag der Beklagten erfolgte Hinweis an den Zulieferer auf das Patent und das geführte Einspruchsverfahren sowie die Aufforderung, lediglich patentfreie Produkte zu liefern, nicht aus. Soweit die Beklagte darüber hinaus darauf verweist, sie könne sich als sogenannter Sortimenter auf die vertraglichen – schadenersatzbewährten – Zusicherungen ihrer Lieferanten über die Nichtverletzung der Rechte Dritter und von diesen durchgeführte Prüfungen verlassen, ist dem aufgrund der allgemein gehaltenen Formulierung schon nicht die konkrete Behauptung zu entnehmen, sie, die Beklagte, habe von ihren Lieferanten derartige Zusicherungen tatsächlich erhalten. Die Beklagte hat den Vortrag trotz eines entsprechenden Hinweises der Klägerin in der Berufungserwiderung auch nicht konkretisiert. Selbst wenn man dem Vorbringen der Beklagten jedoch die konkrete Behauptung entnehmen könnte, ihr Lieferant habe ihr eine durchgeführte Prüfung der Schutzrechtslage mit dem Ergebnis einer Nichtverletzung zugesichert, ergibt sich daraus jedenfalls nicht, dass diese nicht nur pauschal in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, sondern auf konkrete Nachfrage hin erfolgt ist.
  134. 7.
    Dass die Ansprüche der Klägerin nicht verwirkt sind, hat das Landgericht zutreffend ausgeführt. Nachdem sich die Beklagte hiergegen mit ihrer Berufung nicht wendet, wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf das angegriffene Urteil Bezug genommen.
  135. 8.
    Der Durchsetzbarkeit der Ansprüche der Klägerin steht auch nicht die von der Beklagten erhobene Einrede der Verjährung (§ 214 Abs. 1 BGB) entgegen, wie das Landgericht zutreffend angenommen hat.
  136. Soweit die Beklagte sich darauf beruft, die regelmäßige Verjährungsfrist habe bereits vor dem Jahr 2018 begonnen und sei damit durch die im Jahr 2020 erfolgte Klageerhebung nicht rechtzeitig gehemmt worden, weil der Klägerin aufgrund des von ihr, der Beklagten, geführten Einspruchsverfahrens im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB grob fahrlässige Unkenntnis hinsichtlich der anspruchsbegründenden Tatsachen vorzuwerfen sei, greift dies nicht durch. Es ist schon nicht erkennbar, dass der Anspruch der Klägerin vor dem Jahr 2018 überhaupt im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB entstanden ist, nachdem die Beklagte nicht vorträgt, zu diesem Zeitpunkt die angegriffene Ausführungsform bereits vertrieben zu haben. Selbst wenn sich die Anspruchsentstehung aber feststellen ließe, wäre der Klägerin jedenfalls keine grob fahrlässige Unkenntnis hinsichtlich des Vertriebs der angegriffenen Ausführungsform vorzuwerfen. Weder bestand eine Obliegenheit der Klägerin zur allgemeinen Marktbeobachtung (vgl. OLG Karlsruhe, Urt. v. 09.11.2016, Az.: 6 U 37/15, GRUR-RS 2016, 21121 Rz. 87 zur Verwirkung; Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 14. Aufl., Abschn. E Rz. 803), noch war diese aufgrund der Beteiligung der Beklagten am Einspruchsverfahren gehalten, Nachforschungen nach etwaigen verletzenden Produkten anzustellen.
  137. 9.
    Zu einer Aussetzung der Verhandlung im vorliegenden Verletzungsstreit (§ 148 ZPO) bis zu einer Entscheidung über die von der Beklagten erhobene Nichtigkeitsklage besteht kein Anlass.
  138. a)
    Wenn das Klagepatent mit einer Patentnichtigkeitsklage angegriffen ist, verurteilt das Verletzungsgericht, wenn es eine Verletzung des in Kraft stehenden Patents bejaht, grundsätzlich nur dann wegen Patentverletzung, wenn es eine Nichtigerklärung nicht für (überwiegend) wahrscheinlich hält; andernfalls hat es die Verhandlung des Rechtsstreits nach § 148 ZPO auszusetzen, bis jedenfalls erstinstanzlich über die Nichtigkeitsklage entschieden ist (BGH, GRUR 2014, 1237 Rz. 4 – Kurznachrichten). Denn eine – vorläufig vollstreckbare – Verpflichtung des Beklagten zu Unterlassung, Auskunft, Rechnungslegung sowie Rückruf patentgemäßer Erzeugnisse ist regelmäßig nicht zu rechtfertigen, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten steht, dass dieser Verurteilung durch die Nichtigerklärung des Klagepatents die Grundlage entzogen werden wird. Der aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) in Verbindung mit den Grundrechten folgende und damit verfassungsrechtlich verbürgte Justizgewährungsanspruch gebietet, dem Verletzungsbeklagten wirkungsvollen Rechtsschutz zur Verfügung zu stellen, wenn er sich gegen den Angriff aus dem Klagepatent mit einem Gegenangriff gegen den Rechtsbestand dieses Patents zur Wehr setzen will. Dies erfordert nicht nur eine effektive Möglichkeit, diesen Angriff selbst durch eine Klage auf Nichtigerklärung bzw. durch Erhebung eines Einspruchs führen zu können, sondern auch eine angemessene Berücksichtigung des Umstands, dass in diesem Angriff auch ein – und gegebenenfalls das einzige – Verteidigungsmittel gegen die Inanspruchnahme aus dem Patent liegen kann. Wegen der gesetzlichen Regelung, die für die Ansprüche nach §§ 139 ff. PatG lediglich ein in Kraft stehendes Patent verlangt und für die Beseitigung dieser Rechtsposition nur die in die ausschließliche Zuständigkeit des Patentgerichts fallende Nichtigkeitsklage zur Verfügung stellt, kann der Angriff gegen das Klagepatent anders als in anderen Rechtsordnungen nicht als Einwand im Verletzungsverfahren oder durch Erhebung einer Widerklage auf Nichtigerklärung geführt werden. Dies darf indessen nicht dazu führen, dass diesem Angriff jede Auswirkung auf das Verletzungsverfahren versagt wird. Die Aussetzung des Verletzungsstreits ist vielmehr grundsätzlich, aber auch nur dann geboten, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass das Klagepatent dem erhobenen Einspruch bzw. der erhobenen Nichtigkeitsklage nicht standhalten wird (BGH, GRUR 2014, 1237 Rz. 4 – Kurznachrichten; st. Rspr. des Senats, vgl. Urt. v. 25.10.2018, Az.: I-2 U 30/16 Rz. 213).
  139. b)
    Wurde das Klagepatent bereits – wie hier – in einem Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren bestätigt, so hat das Verletzungsgericht grundsätzlich die von der zuständigen Fachinstanz (DPMA, EPA, BPatG) nach technisch sachkundiger Prüfung getroffene Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Klagepatents hinzunehmen. Grund, die parallele Rechtsbestandsentscheidung in Zweifel zu ziehen und von einer Verurteilung vorerst abzusehen, besteht nur dann, wenn das Verletzungsgericht die Argumentation der Einspruchs- oder Nichtigkeitsinstanz für nicht vertretbar hält oder wenn der Angriff auf den Rechtsbestand nunmehr auf (z.B. neue) erfolgversprechende Gesichtspunkte gestützt wird, die die bisher mit der Sache befassten Stellen noch nicht berücksichtigt und beschieden haben (st. Rspr., vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 06.12.2012, Az.: I-2 U 46/12, BeckRS 2013, 13744; Urt. v. 17.10.2019, Az.: I-2 U 11/18, BeckRS 2019, 31342 – Bakterienkultivierung; Urt. v. 08.04.2021, Az.: I-2 U 13/20, GRUR-RS 2021, 8206 – Halterahmen II).
  140. c)
    Darüber hinaus ist bei der Aussetzungsentscheidung zu berücksichtigen, dass das Bundespatentgericht in dem von der Beklagten angestrengten (zweiten) Nichtigkeitsverfahren am 26.10.2021 einen qualifizierten Hinweis nach § 83 Abs. 1 S. 1 PatG erlassen hat, wonach der Gegenstand des Klagepatents nach der vorläufigen Auffassung sowohl gegenüber dem vorgetragenen Stand der Technik neu sein als auch auf erfinderischer Tätigkeit beruhen dürfte. Mit einem solchen qualifizierten Hinweis liegt eine fachkundige Stellungnahme derjenigen Instanz vor, die über den Rechtsbestand des Klagepatents zu entscheiden hat. Der qualifizierte Hinweis nimmt die vom Bundespatentgericht erst noch zu treffende Nichtigkeitsentscheidung zwar selbstverständlich nicht vorweg; er hat nur vorläufigen Charakter. Gleichwohl handelt es sich aber um eine gewichtige fachkundige Stellungnahme desjenigen Spruchkörpers, der unmittelbar mit dem Rechtsbestand des Klagepatents befasst ist und in erster Instanz über die Nichtigkeitsklage zu entscheiden hat (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 24.08.2017, Az.: I-2 U 75/16).
  141. d)
    Demgegenüber erfährt der Maßstab entgegen der Ansicht der Beklagten keine grundlegenden Abweichungen dadurch, dass die Klägerin bereits über einen Unterlassungstitel verfügt. Zwar unterliegt die Aussetzung der Verhandlung etwas weniger strengen Anforderungen, wenn der Patentinhaber bereits über einen Unterlassungstitel verfügt und daraus vollstrecken kann (vgl. OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2002, 369, 377 – Haubenstretchautomat; Urteil vom 05.06.2003, Az.: I-2 U 66/01, Rz. 73 bei Juris). Auch in einem solchen Fall genügt es jedoch schon im Grundsatz nicht, wenn die Vernichtung des Klagepatents möglich ist; sie muss auch hier wahrscheinlich sein (OLG Düsseldorf, GRUR-RR 2007, 259, 262 – Thermocyler). Dass den im Einspruchsverfahren und im ersten Nichtigkeitsverfahren ergangenen Entscheidungen technisch fachkundiger Spruchkörper sowie dem im zweiten Nichtigkeitsverfahren bereits ergangenen qualifizierten Hinweis ein geringeres Gewicht beizumessen wäre, folgt aus dem Vorliegen eines vorläufig vollstreckbaren Titels ebenfalls nicht.
  142. e)
    Davon ausgehend bietet der durch die Beklagte zur Begründung ihres Aussetzungsantrages aufgeführte Einwand gegen den Rechtsbestand für eine Aussetzung der Verhandlung keinen Anlass.
  143. Mit der von der Beklagten herangezogenen Entgegenhaltung EP 0 612 XXD (nachfolgend: NK4) hat sich das Bundespatentgericht in seinem qualifizierten Hinweis ausführlich auseinandergesetzt. Es hat ausgeführt, dass dieser Druckschrift nicht die Merkmale entnehmbar seien, wonach die Tragplatte aus einem elektrisch nicht leitenden Material bestehe, die elektrische Schaltvorrichtung einen kapazitiven Näherungsschalter aufweise, dieser eine Elektrode aufweise und der Überwachung der Umgebungskapazität der Elektrode diene sowie schließlich auch nicht das Merkmal, wonach die Elektrode an und unter der Tragplatte angeordnet sei (S. 14 f. der Anlage B 10). Die in der NK4 offenbarten und als elektrische Schaltvorrichtungen fungierenden Tasten stellten deshalb keinen kapazitiven Näherungsschalter dar, weil sie – expressis verbis – gedrückt oder zumindest berührt werden müssten. Es fehle ausgehend von der NK4 auch nicht an einer erfinderischen Tätigkeit. Das Einschalten der in der NK4 offenbarten Waage werde nur am Rande thematisiert und nicht als verbesserungsbedürftig dargestellt. Selbst wenn der Fachmann den Einschalter aber verändern würde, müsste er, um ausgehend von der NK4 zur Lehre des Klagepatents zu gelangen, nicht nur die „ON“-Taste durch einen kapazitiven Näherungsschalter ersetzen, sondern auch dessen Elektrode an und unter der Tragplatte anbringen. Eine Anregung oder einen Hinweis auf derartig aufwendige Umgestaltungen könne er der NK4 jedenfalls nicht entnehmen. In Bezug auf die von der Beklagten auch im Verletzungsverfahren vorgebrachte Kombination der NK4 mit der US 6 359 XXE (nachfolgend: NK7) führt das Bundespatentgericht weiter aus, dass nicht ersichtlich sei, warum der Fachmann zur Verbesserung einer Waage mit einer Tastatur, die eine einfache Auswahl der Wägeprogramme und Konfiguration der Systemfunktionen ermögliche, die technischen Details eines Schneidebretts, welches nur als Nebenaspekt eine integrierte Wiegefunktion aufweise, aufgreifen sollte (siehe im Einzelnen S. 29 f. der Anlage B 10). Dass diese zwar vorläufige, aber bereits eingehend begründete Einschätzung desjenigen Spruchkörpers, der unmittelbar mit dem Rechtsbestand des Klagepatents befasst ist und in erster Instanz über die Nichtigkeitsklage zu entscheiden hat, unzutreffend wäre, hat die Beklagte nicht aufzuzeigen vermocht. Der in diesem Zusammenhang von der Beklagten besonders hervorgehobene Aspekt, wonach es sich bei den in der NK4 beschriebenen Touchpads um kapazitive Näherungsschalter handele, führt bereits deshalb nicht zu einer anderen Beurteilung, weil die diesbezügliche Sichtweise des Bundespatentgerichts – wie bereits unter 4. d) angesprochen – im Einklang mit dem Auslegungsergebnis des Senats steht. Denn bei dem Touchpad der NK4 ist es die Schaltvorrichtung selbst, die berührt werden muss (S. 14 der Anlage B 10).
  144. III.
    Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
  145. Für eine abweichende Verteilung der Kosten erster Instanz besteht kein Anlass. Es ist mit Blick auf die wirtschaftliche Bedeutung des von der Klägerin zurückgenommenen Teils der Klage nicht erkennbar, dass die Zuvielforderung nicht im Sinne von § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO verhältnismäßig gering war und keine oder nur geringfügig höhere Kosten veranlasst hat.
  146. Die Anordnungen zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeben sich aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
  147. Für eine Zulassung der Revision bestand keine Veranlassung, weil die in § 543 ZPO aufgestellten Voraussetzungen dafür ersichtlich nicht gegeben sind. Es handelt sich um eine reine Einzelfallentscheidung ohne grundsätzliche Bedeutung, mit der der Bundesgerichtshof auch nicht im Interesse einer Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung befasst werden muss (§ 543 Abs. 2 ZPO).

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