I-2 U 34/25 – Pharmazeutische Zusammensetzung zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose I

Düsseldorfer Entscheidungen Nr. 3429

Oberlandesgericht Düsseldorf

Urteil vom 17. Juli 2025, I-2 U 34/25

Vorinstanz: 4b O 72/24

  1. I. Auf die Berufung der Verfügungsbeklagten wird das am 30.01.2025 verkündete Urteil der 4b Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf abgeändert.
    Die einstweilige Verfügung vom 05.12.2024 wird aufgehoben und der auf ihren Erlass gerichtete Antrag zurückgewiesen.
  2. II. Die Verfügungsklägerin hat die Kosten des Verfahrens erster und zweiter Instanz zu tragen.
  3. III. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 3.000.000,- € fest-gesetzt.
  4. Gründe:
  5. A.
    Die Verfügungsklägerin macht als eingetragene Inhaberin des deutschen Teils des europäischen Patents 2 653 XXA (vorgelegt als Anlage rop 4, in deutscher Überset-zung als Anlage rop 4a, nachfolgend: Verfügungspatent) wegen dessen Verletzung durch das von der Verfügungsbeklagten, einem Generikaunternehmen, vertriebene Arzneimittel „Dimethylfumarat  XX“ (angegriffene Ausführungsform) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes einen Unterlassungsanspruch geltend.
    Das Verfügungspatent ist aus einer Teilanmeldung zu der dem europäischen Pa-tent 2 137 XXD (nachfolgend: Stammpatent) zugrundeliegenden Anmeldung (WO 2008/097XXB; nachfolgend: Anmeldung) hervorgegangen und nimmt deren An-meldetag vom 07.02.2008 sowie die Priorität der US 888XXC P vom 08.02.2007 in Anspruch. Der Hinweis auf die Erteilung des Verfügungspatents wurde am 20.07.2022 veröffentlicht. Das Verfügungspatent ist in Kraft.
    Gegen die Erteilung des Verfügungspatents wurde von verschiedenen Seiten Ein-spruch beim Europäischen Patentamt (EPA) eingelegt. Nachdem die Einspruchsab-teilung des EPA in ihrem vorläufigen Hinweis vom 06.11.2023 (Anlage rop 1c) zu-nächst die Auffassung vertreten hatte, dass das Verfügungspatent weder in der er-teilten Fassung noch in der Fassung eines der anhängigen Hilfsanträge schutzfä-hig sei, hat sie das Verfügungspatent durch Entscheidung vom 11.12.2024 (Anlage BBY 1) in der Fassung des Hilfsantrags 12 aufrechterhalten. Gegen diese Ent-scheidung ist Beschwerde bei der Technischen Beschwerdekammer eingelegt wor-den, über die noch nicht entschieden ist.
    Das in englischer Sprache erteilte Verfügungspatent betrifft Zusammensetzungen und deren Verwendung zur Behandlung von multipler Sklerose. Die hier streitge-genständlichen Ansprüche 1 und 5 des Verfügungspatents lauten in ihrer im Ein-spruchsverfahren erlangten Fassung in deutscher Übersetzung wie folgt (die Ände-rungen gegenüber der erteilten Fassung sind durch Durch-/Unterstreichung ge-kennzeichnet):
    1. Pharmazeutische Zusammensetzung zur Verwendung bei der Behandlung von schubförmig remittierender Multipler Sklerose (RRMS), wobei die Zusammen-setzung Folgendes umfasst:
    (a) Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester und
    (b) einen oder mehrere pharmazeutisch unbedenkliche Arzneimittelträger,
    wobei die Zusammensetzung einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Mul-tipler Sklerose RRMS oral zu verabreichen ist und wobei die zu verabreichende Dosis Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester 480 mg pro Tag beträgt.
    5. Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester zur Verwendung bei der Behandlung von schubförmig remittierender Multipler Sklerose (RRMS), wobei der Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethyl-ester einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose RRMS mit einer Dosis von 480 mg pro Tag oral zu verabreichen ist.
    Das Stammpatent wurde im Rahmen eines von zehn Einsprechenden geführten Einspruchsverfahrens mit Entscheidung vom 13.06.2016 von der Einspruchsabtei-lung des Europäischen Patentamts widerrufen, weil es auch mit Blick auf die zuletzt gestellten Hilfsanträge an einer erfinderischen Tätigkeit fehle (Anlage BBY 9). Die dagegen gerichtete Beschwerde wies die Technische Beschwerdekammer mit Ent-scheidung vom 20.01.2022 zurück, weil der Gegenstand der Hilfsanträge über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinausgehe.
    Die Ansprüche 1 und 7 des Stammpatents in seiner erteilten Fassung lauten in deutscher Übersetzung wie folgt, wobei Abweichungen gegenüber dem Wortlaut der Ansprüche 1 und 5 des Verfügungspatents unterstrichen sind:
    1. Pharmazeutische Zusammensetzung zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei die Zusammensetzung aus Folgendem besteht:
    (a) Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester und
    (b) einen oder mehrere pharmazeutisch unbedenkliche Arzneimittelträger,
    wobei die Zusammensetzung einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Mul-tipler Sklerose oral zu verabreichen ist und wobei die zu verabreichende Dosis Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester 480 mg pro Tag beträgt.
    7. Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei der Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester der einzige zu verabreichende, neuropro-tektive Bestandteil ist, wobei der Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäure-monomethylester einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklero-se mit einer Dosis von 480 mg pro Tag oral zu verabreichen ist.
    Bei der Verfügungsklägerin und den mit ihr verbundenen Unternehmen handelt es sich um einen Biotechnologiekonzern. Zu seinen Arzneimitteln gehört das mit einer Tagesdosis von 480 mg/Tag oral zu verabreichende Medikament XXX zur Behand-lung schubförmig remittierender Multipler Sklerose (RRMS). In der Bundesrepublik Deutschland wird XXX durch die zum Konzern der Verfügungsklägerin gehörende XXX vertrieben.
    Bei der Verfügungsbeklagten handelt es sich um ein Generikaunternehmen, das ein Generikum von XXX, „DimethylfumaratXX“ (angegriffene Ausführungsform), unter den Marktzulassungen Nr. XXX und XXX (Pharmazentralnummern: XXX, XXX und XXX) erstmals zum 01.03.2023 als verkehrsfähig in der IFA-Datenbank (Lauer-Taxe) listete und anschließend in den Verkehr brachte. Die angegriffene Ausführungsform wurde in magensaftresistenten Hartkapseln mit einem Inhalt von 120 mg und 240 mg Dimethylfumarat (DMF) zur Behandlung der RRMS vertrieben. Ausweislich der Gebrauchsinformation (Anlage rop 3) wird Patienten empfohlen, das Medikament mit einer Anfangsdosis von 2×120 mg (240 mg/Tag) und anschlie-ßend einer regulären Dosis von 2×240 mg (480 mg/Tag) einzunehmen. Seit dem 01.06.2023 wird die angegriffene Ausführungsform in der IFA-Datenbank als „nicht verkehrsfähig“ gelistet.
    Bereits im Jahr 2022 versuchte die Verfügungsklägerin, verschiedenen Generika-herstellern auf der Grundlage des Verfügungspatents Angebot und Vertrieb ihrer Generika von XXX im Wege einer einstweiligen Verfügung zu untersagen. Mit Urtei-len vom 22.09.2022 wies das Landgericht Düsseldorf drei Anträge auf Erlass einer einstweiligen Verfügung mit der Begründung zurück, dass der Rechtsbestand nicht hinreichend gesichert und daher ein Verfügungsgrund nicht gegeben sei (vgl.: 4b O 50/22, GRUR-RS 2022, 26959, vorgelegt als Anlage BBY 5). Die dagegen gerich-teten Berufungen hatten keinen Erfolg (vgl.: Senat, Urt. v. 23.02.2023, Az.: I-2 U 116/22, GRUR-RS 2023, 5166; vorgelegt als Anlage BBY 6).
    Dem Antrag der Verfügungsklägerin auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vom 04.12.2024 hat das Landgericht am 05.12.2024 stattgegeben und die einstweilige Verfügung durch Urteil vom 30.01.2025 bestätigt (nachfolgend: LGU). Es hat ange-nommen, dass der Rechtsbestand des Verfügungspatents durch die Entscheidung der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts vom 11.12.2024 (nunmehr) hinreichend gesichert sei. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung zum Stamm-patent stehe zwar im Widerspruch zur Einspruchsentscheidung betreffend das Ver-fügungspatent. Die Einspruchsabteilung, die das Stammpatent erstinstanzlich wi-derrufen habe, werde aber nicht über das Verfügungspatent entscheiden. Zur Ent-scheidung über das Verfügungspatent seien vielmehr im weiteren Instanzenzug nur die Technische Beschwerdekammer des EPA und das zeitlich nachgeordnete Bundespatentgericht und der Bundesgerichtshof berufen. Die Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer zum Stammpatent stehe nicht im Widerspruch zu der erstinstanzlichen Entscheidung der Einspruchsabteilung über das Verfügungs-patent. Letztere sei jedenfalls vertretbar, weshalb von einem hinreichend gesicher-ten Rechtsbestand auszugehen sei.
    Hiergegen wendet sich die Verfügungsbeklagte mit ihrer Berufung.
    Von einer weitergehenden Darstellung des Sachverhaltes wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1, 542 Abs. 2 S. 1 ZPO abgesehen.
  6. B.
    Die zulässige Berufung der Verfügungsbeklagten hat Erfolg. Richtigerweise hätte das Landgericht dem Antrag der Verfügungsklägerin auf Erlass einer einstweiligen Verfügung nicht stattgeben dürfen, da der Rechtsbestand des Verfügungspatents nicht in hinreichendem Maße gesichert ist.
  7. I.
    Das Verfügungspatent betrifft Zusammensetzungen und deren Verwendung zur Behandlung von Multipler Sklerose.
    Multiple Sklerose (MS) ist, wie das Verfügungspatent in seiner einleitenden Be-schreibung schildert (Anlage rop 4 Abs. [0002]; nachfolgende Bezugnahmen be-ziehen sich – soweit nicht anders angegeben – auf die Verfügungspatentschrift), eine Autoimmunerkrankung, bei der die Autoimmunaktivität gegen Antigene des Zentralen Nervensystems (ZNS) gerichtet ist. Entzündungen in Teilen des ZNS füh-ren zum Verlust der Myelinscheide um die Nervenfasern (Demyelinisierung), zum Verlust von Nervenfasern und schließlich zum Tod von Neuronen, Oligodenrozyten und Gliazellen. Bei MS handelt es sich um eine chronische, fortschreitende, behin-dernde Krankheit, an der weltweit schätzungsweise 2,5 Mio. Menschen leiden. Die Diagnose wird in der Regel im Alter zwischen 20 und 40 Jahren gestellt, wobei auch ein früherer Beginn möglich ist. MS ist nicht vererbbar, eine genetische Anfäl-ligkeit spielt aber bei der Entwicklung eine Rolle. Die schubförmig remittierende MS (RRMS) äußert sich durch wiederkehrende Schübe mit fokalen oder multifokalen neurologischen Störungen. Die Schübe können scheinbar zufällig über viele Jahre hinweg auftreten, remittieren und wiederkehren. Wenn eine Attacke auf die nächste folgt, kommt es, weil die Remission oft unvollständig ist, zu einer schrittweisen Ver-schlechterung mit zunehmenden permanenten neurologischen Defiziten (Abs. [0003]).
    Verschiedene immuntherapeutische Medikamente können, so das Verfügungspa-tent weiter (Abs. [0004]), MS-Patienten Linderung verschaffen. Es ist allerdings kei-nes dieser Medikamente in der Lage, das Fortschreiten der Krankheit aufzuhalten, und einige können schwerwiegende unerwünschte Nebenwirkungen verursachen. Die meisten der derzeitigen Therapien zielen auf die Verringerung der Entzündung und die Unterdrückung oder Modulation des Immunsystems. Die verfügbaren Be-handlungen (Stand 2006) verringern die Entzündung und die Zahl der neuen Schübe, nicht alle haben jedoch Auswirkungen auf das Fortschreiten der Krank-heit. Einige klinische Studien haben gezeigt, dass die Unterdrückung von Entzün-dungen bei chronischer MS nur selten die Akkumulation von Behinderungen durch ein anhaltendes Fortschreiten der Krankheit begrenzt. Dies deutet darauf hin, dass neuronale Schäden und Entzündungen unabhängige Pathologien sind. Einige der wichtigsten Ziele für die Behandlung von MS sind die Förderung von Remyelinisie-rung des ZNS als Reparaturmechanismus und die Verhinderung von axonalem Verlust und neuronalem Absterben.
    Sodann erläutert das Verfügungspatent (Abs. [0005]), dass „Phase-2-Enzyme“ in Säugetierzellen als Schutzmechanismus gegen Sauerstoff-/Stickstoffspezies (ROS/RNS), Elektrophile und Xenobiotika dienen. Die Expression dieser normaler-weise nicht in ihrem maximalen Umfang exprimierten Enzyme kann durch eine Vielzahl natürlicher und synthetischer Stoffe induziert werden. Der Nuklearfaktor E2-verwandte Faktor 2 (Nrf2) ist ein Transkriptionsfaktor, der für die Induktion einer Vielzahl wichtiger oxidationshemmender und entgiftender Enzyme verantwortlich ist.
    ROS/RNS sind am schädlichsten im Gehirn und im neuronalen Gewebe, wo sie post-mitotische (d.h. sich nicht teilende) Zellen wie Gliazellen, Oligodendozyten und Neuronen – die besonders empfindlich auf freie Radikale reagieren – angreifen, was zu neuronalen Schäden führt. Das Verfügungspatent schildert verschiedene Beobachtungen und Erkenntnisse aus dem Stand der Technik. Diese deuten unter anderem darauf hin, dass der Nrf2-Signalweg bei neurodegenerativen und neuroin-flammatorischen Erkrankungen als körpereigener Schutzmechanismus aktiviert werden könnte. Es wurde zudem berichtet, dass die induzierte Aktivierung von Nrf2-abhängigen Genen durch bestimmte Cyclopenanon-basierte Verbindungen (NEPP) den toxischen Wirkungen der Stoffwechselhemmung der ROS/RNS-Produktion im Gehirn entgegenwirkt und die Neuronen in vitro und in vivo vor dem Tod schützt (Abs. [0006]).
    Neue Erkenntnisse deuten ferner darauf hin, dass die neuroprotektiven Wirkungen von Verbindungen in natürlichen pflanzlichen Stoffen, die ursprünglich auf ihre antioxidativen Eigenschaften zurückgeführt wurden, durch die Aktivierung zellulä-rer Stressreaktionswege, einschließlich des Nrf2-Signalwegs, ausgeübt werden, was zu einer Hochregulierung von neuroprotektiven Genen führt. Der genaue Wirkmechanismus dieser Verbindungen wird allerdings weiterhin nur unzu-reichend verstanden (Abs. [0007]). Bis heute wurden mehr als zehn verschiedene chemische Klassen von Induktoren des Nrf2-Signalwegs identifiziert (Abs. [0008]).
    Das Verfügungspatent würdigt eine Veröffentlichung mit dem Titel „BG00012, a no-vel oral fumarate is effective in patients with relapsing remitting multiple sclerosis“ von „Kappos“ et al., welche über die Ergebnisse einer Phase II b-Studie berichtet, in der die Wirksamkeit von drei Dosierungen (120 mg/Tag, 360 mg/Tag, 720 mg/Tag) diskutiert wurde. Es wurde, so das Verfügungspatent, festgestellt, dass BG00012 (= DMF) in einer Dosierung von 720 mg/Tag (240 mg tid) die Aktivität der im MRT nachweisbaren Hirnläsionen bei RRMS-Patienten signifikant reduziert (Abs. [0009]).
    Eine Aufgabenstellung benennt das Verfügungspatent nicht ausdrücklich. Den Absätzen [0001] und [0010] lässt sich jedoch entnehmen, dass das Verfügungspa-tent diese in der Bereitstellung einer Behandlung von MS (nunmehr: RRMS) sieht (vgl. auch die Einspruchsentscheidung zum Stammpatent v. 13.06.2016, Anlage BBY 9 Rn. 8.1). Ob es sich hierbei um eine verbesserte oder nur eine weitere Be-handlungsmethode handelt, wird noch näher zu erörtern sein.
    Zur Lösung der Problemstellung sieht Patentanspruch 1 in seiner im Einspruchs-verfahren erlangten Fassung eine Kombination der folgenden Merkmale vor:
    1. Pharmazeutische Zusammensetzung zur Verwendung bei der Behandlung von schubförmig remittierender Multipler Sklerose (RRMS), die Folgendes umfasst:
    1.1. Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester und
    1.2. einen oder mehrere pharmazeutisch unbedenkliche Arzneimittelträger.
    2. Die Zusammensetzung ist einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei schub-förmig remittierender Multipler Sklerose (RRMS) oral zu verabreichen.
    3. Die zu verabreichende Dosis Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremo-nomethylester beträgt 480 mg pro Tag.
    Patentanspruch 5 lässt sich in die folgenden Merkmale gliedern:
    1. Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester zur Verwendung bei der Behandlung schubförmig remittierender Multipler Sklerose (RRMS).
    2. Der Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester ist einem Pa-tienten mit Behandlungsbedarf bei schubförmig remittierender Multipler Sklero-se (RRMS) mit einer Dosis von 480 mg pro Tag oral zu verabreichen.
    Eine Zusammensetzung nach Anspruch 1 des Verfügungspatents beinhaltet somit neben einem pharmazeutisch unbedenklichen Arzneimittelträger entweder Fumar-säuredimethylester (DMF) oder Fumarsäuremonomethylester (MMF). Sie ist, wie der Fachmann dem Wortlaut „Zusammensetzung, … die umfasst“ – in der nach Art. 70 Abs. 1 EPÜ maßgeblichen englischen Verfahrenssprache: „composition compri-sing“ – entnimmt, aber nicht auf DMF oder MMF als alleinigen Wirkstoff beschränkt, sondern kann daneben auch weitere Wirkstoffe enthalten. Anspruch 5 des Verfü-gungspatents beansprucht DMF oder MMF zur Verwendung bei der Behandlung von MS, wobei es sich mangels einer einschränkenden Vorgabe ebenfalls nicht um den einzigen Wirkstoff handeln muss. Eine Beschränkung auf DMF oder MMF als einzigem zu verabreichenden Neuroprotektivum enthalten erst die Untersprüche 6 bis 8 des Verfügungspatents.
    Hingegen ist Anspruch 1 des (rechtskräftig widerrufenen) Stammpatents nach dem insoweit abweichenden Wortlaut „wobei die Zusammensetzung aus Folgendem besteht“ („the composition consisting of“) in seiner erteilten Fassung auf DMF oder MMF als einzigen Wirkstoff beschränkt (sog. Monotherapie). Anspruch 1 des Stammpatents schließt somit aus, dass neben DMF oder MMF weitere Wirkstoffe vorhanden sind, z.B. Wirkstoffe, die zur Behandlung der MS nach demselben oder einem anderen Wirkmechanismus geeignet sind (vgl. Beschwerdeentscheidung zum Stammpatent v. 20.01.2022 Rn. 4.1). Entsprechendes gilt für Anspruch 7 des Stammpatents, der ebenfalls auf DMF oder MMF als einzigem zu verabreichenden Neuroprotektivum beschränkt ist.
    Im Einspruchsverfahren hat das Verfügungspatent eine Einschränkung dahinge-hend erfahren, dass sowohl Anspruch 1 als auch Anspruch 5 auf die Behandlung der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose (RRMS) als eine besondere Form der MS beschränkt worden sind. Eine solche Einschränkung weist das Stammpatent nicht auf.
    Darüber hinausgehende Unterschiede zwischen den Ansprüchen 1 und 5 des Ver-fügungspatents auf der einen und den Ansprüchen 1 und 7 des Stammpatents auf der anderen Seite bestehen – worüber zwischen den Parteien zu Recht Einigkeit herrscht – nicht.
    Klarstellend ist noch festzustellen, dass Merkmal 3 der vorstehend wiedergegebe-nen Merkmalsgliederung des Patentanspruchs 1 – wie bereits das Landgericht zu-treffend festgestellt hat und zwischen den Parteien unstreitig ist – nicht auf die aus-schließliche und stete Verabreichung einer Tagesdosis von 480 mg/Tag DMF oder MMF beschränkt ist. Vielmehr wird auch eine Dosierung vom Schutzbereich um-fasst, bei der vor oder nach einer Dosierung von 480 mg/Tag DMF oder MMF eine niedrigere oder höhere Dosierung erfolgt, wie es beispielsweise bei zweiphasigen Dosierungsschemata der Fall ist, die in einer ersten Phase eine höhere Dosierung und in einer zweiten Phase eine niedrigere Dosierung als Erhaltungsdosis vorse-hen.
  8. II.
    Es fehlt an dem erforderlichen Verfügungsgrund, weil der Rechtsbestand des Ver-fügungspatents nicht in dem für den Erlass einer einstweiligen Verfügung erforder-lichen Umfang gesichert ist.
  9. 1.
    Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats (InstGE 9, 140 – Olan-zapin; InstGE 12, 114 – Harnkatheterset; GRUR-RR 2011, 81, 82 – Gleitsattel-Scheibenbremse II; Urt. v. 06.12.2012, Az.: I-2 U 46/12, BeckRS 2013, 13744; GRUR-RR 2013, 236, 239 f. – Flupirtin-Maleat; Urt. v. 07.11.2013, Az.: I-2 U 94/12, GRUR-RS 2014, 04902 – Desogestrel; Urt. v. 18.12.2015, Az.: I-2 U 35/15, GRUR-RS 2016, 6208 Rn. 18 – diagnostisches Verfahren; Urt. v. 31.08.2017, Az.: I-2 U 11/17, BeckRS 2017, 125974 Rn. 48; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 12 – Kombinationszusammensetzung; Urt. v. 26.09.2019, Az.: I-2 U 28/19, GRUR-RS 2019, 33227 = GRUR-RR 2020, 240 [Ls.] – MS-Therapie; GRUR-RR 2021, 249 Rn. 15 – Cinacalcet II; GRUR-RR 2021, 400 Rn. 34 – MS-Therapie II; GRUR 2024, 447 Rn. 16 – RRMS-Therapie), dass der Erlass einer einstweiligen Verfügung insbesondere auf Unterlassung nur in Betracht kommt, wenn sowohl die Frage der Patentverletzung als auch der Bestand des Verfü-gungsschutzrechts im Ergebnis so eindeutig zugunsten des Verfügungsklägers zu beantworten sind, dass eine fehlerhafte, in einem etwa nachfolgenden Haupt-sacheverfahren zu revidierende Entscheidung nicht ernstlich zu erwarten ist. Da-von kann regelmäßig ausgegangen werden, wenn das Verfügungspatent bereits ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat (Se-nat, InstGE 9, 140, 146 – Olanzapin; InstGE 12, 114 – Harnkatheterset; GRUR-RR 2011, 81, 82 – Gleitsattel-Scheibenbremse II; Urt. v. 07.11.2013, Az.: I-2 U 94/12, GRUR-RS 2014, 04902 – Desogestrel; Urt. v. 18.12.2014, Az.: I-2 U 60/14, BeckRS 2015, 01829 Rn. 17; Urt. v. 18.12.2015, Az.: I-2 U 35/15, GRUR-RS 2016, 6208 Rn. 18 – diagnostisches Verfahren; Urt. v. 31.08.2017, Az.: I-2 U 11/17, BeckRS 2017, 125974 Rn. 48; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 12 – Kombinationszusammensetzung; Urt. v. 26.09.2019, Az.: I-2 U 28/19, GRUR-RS 2019, 33227 = GRUR-RR 2020, 240 [Ls.] – MS-Therapie; GRUR-RR 2021, 249, 250 Rn. 16 – Cinacalcet II; GRUR-RR 2021, 400 Rn. 35 – MS-Therapie II; GRUR 2024, 447 Rn. 18 – RRMS-Therapie).
    Ohne eine erstinstanzliche Bestandsentscheidung oder einen qualifizierten Hin-weis des Bundespatentgerichts wird es für das Verletzungsgericht erfahrungsge-mäß schwierig sein, im Verfügungsverfahren eine hinreichend verlässliche Prog-nose über den künftigen Rechtsbestand zu treffen. Gleichwohl hat es den voraus-sichtlichen Rechtsbestand in jedem Einzelfall zu prüfen. Zweifel, ob sich das Patent als rechtsbeständig erweisen wird, sind hierbei insbesondere dann ausgeräumt, wenn die gegen den Rechtsbestand erhobenen Einwendungen auch bei der (im Verfügungsverfahren allein möglichen) summarischen Prüfung ersichtlich unbe-gründet sind (OLG München, GRUR 2025, 952 [LS] = GRUR-RS 2023, 56236 Rn. 42 – Rechtsbestand im Verfügungsverfahren).
    Darüber hinaus hat der Senat in ständiger Rechtsprechung bestimmte Sonderfälle entwickelt, in denen auch ohne das Vorliegen einer dem Verfügungskläger günsti-gen kontradiktorischen Rechtsbestandsentscheidung der Erlass einer einstweiligen Verfügung in Betracht kommt. Dies gilt beispielsweise dann, wenn sich der Verfü-gungsbeklagte (oder ein anderer ernstzunehmender Wettbewerber) bereits mit ei-genen Einwendungen am Erteilungsverfahren beteiligt hat, so dass die Patentertei-lung sachlich der Entscheidung in einem zweiseitigen Einspruchsverfahren gleich-steht, wenn ein Rechtsbestandsverfahren deshalb nicht durchgeführt worden ist, weil das Verfügungsschutzrecht allgemein als schutzfähig anerkannt wird (was sich durch das Vorhandensein namhafter Lizenznehmer oder dergleichen wider-spiegelt) oder wenn ( z.B. mit Rücksicht auf die Marktsituation oder die aus der Schutzrechtsverletzung drohenden Nachteile) außergewöhnliche Umstände gege-ben sind, die es für den Verfügungskläger ausnahmsweise unzumutbar machen, den Ausgang des Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahrens abzuwarten (vgl. Senat, InstGE 12, 114, 121 – Harnkatheterset; Urt. v. 07.11.2013, Az.: I-2 U 94/12, GRUR-RS 2014, 04902 – Desogestrel; GRUR-RR 2013, 236, 240 – Flupirtin-Maleat; Urt. v. 18.12.2015, Az.: I-2 U 35/15, GRUR-RS 2016, 6208 Rn. 19 – diagnostisches Verfah-ren; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 12 – Kombina-tionszusammensetzung). Letzteres kann insbesondere im Hinblick auf Verlet-zungshandlungen von Generikaunternehmen der Fall sein (vgl. Senat, GRUR-RR 2013, 236, 240 – Flupirtin-Maleat; Urt. v. 07.11.2013, Az.: I-2 U 94/23, GRUR-RS 2014, 04902 – Desogestrel; Urt. v. 19.02.2016, Az.: I-2 U 54/15, BeckRS 2016, 6344 Rn. 13; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 12 – Kom-binationszusammensetzung; GRUR-RR 2021, 249 Rn. 22 – Cinacalcet II; GRUR-RR 2021, 400 Rn. 47 – MS-Therapie II; GRUR 2024, 447 Rn. 2 – RRMS-Therapie).
    Liegt eine positive streitige Rechtsbestandsentscheidung vor, ist prinzipiell von ei-nem ausreichend gesicherten Bestand des Verfügungspatents auszugehen (Se-nat, Urt. v. 19.02.2016, Az.: I-2 U 54/15, BeckRS 2016, 6344 Rn. 12; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 12 – Kombinationszu-sammensetzung; Urt. v. 26.09.2019, Az.: I-2 U 28/19, GRUR-RS 2019, 33227 Rn. 16 = GRUR-RR 2020, 240 [Ls.] – MS-Therapie; GRUR-RR 2021, 249 Rn. 19 – Cinacal-cet II; GRUR 2024, 147 Rn. 34 – RRMS-Therapie). Das Verletzungsgericht hat – un-geachtet seiner Pflicht, auch nach erstinstanzlichem Abschluss eines Rechtsbe-standsverfahrens selbst ernsthaft die Erfolgsaussichten der dagegen gerichteten Angriffe zu prüfen, um sich in eigener Verantwortung ein Bild von der Schutzfähig-keit der Erfindung zu – grundsätzlich die von der zuständigen Fachinstanz (DPMA, EPA, BPatG) nach technisch sachkundiger Prüfung getroffene Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Verfügungspatents hinzunehmen und, sofern im Einzel-fall keine besonderen Umstände vorliegen, die gebotenen Schlussfolgerungen zu ziehen, indem es zum Schutz des Patentinhabers die erforderlichen Unterlas-sungsanordnungen trifft (Senat, Urt. v. 19.02.2016, Az.: I-2 U 54/15, BeckRS 2016, 6344 Rn. 12; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 13 – Kombinationszusammensetzung; Urt. v. 26.09.2019, Az.: I-2 U 28/19, GRUR-RS 2019, 33227 Rn. 16 = GRUR-RR 2020, 240 [Ls.] – MS-Therapie; GRUR-RR 2021, 249 Rn. 19 – Cinacalcet II; GRUR 2024, 147 Rn. 35 – RRMS-Therapie). Hier-nach ist es für den Regelfall nicht angängig, den Verfügungsantrag trotz erstin-stanzlich aufrechterhaltenen Schutzrechts allein deshalb zurückzuweisen, weil das Verletzungsgericht seine eigene (laienhafte) Bewertung des technischen Sachver-haltes an die Stelle der Beurteilung durch die zuständige Einspruchs- oder Nichtig-keitsinstanz setzt (Senat, Urt. v. 18.12.2014, Az.: I–2 U 60/14, BeckRS 2015, 01829 Rn. 17; Urt. v. 19.02.2016, Az.: I-2 U 54/15, BeckRS 2016, 6344 Rn. 12; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 13 – Kombinationszu-sammensetzung; GRUR-RR 2021, 249 Rn. 20 – Cinacalcet II; GRUR 2024, 147 Rn. 36 – RRMS-Therapie). Solches verbietet sich ganz besonders dann, wenn es sich um eine technisch komplexe Materie (z.B. aus dem Bereich der Chemie, Pharmazie oder Elektronik) handelt, in Bezug auf die die Einsichten und Beurteilungsmöglich-keiten des technisch nicht vorgebildeten Verletzungsgerichts von vornherein limi-tiert sind.
    Ein verantwortungsvoller Umgang mit dem den Antragsgegner im Zweifel nachhal-tig belastenden Mittel der Unterlassungsverfügung verlangt – umgekehrt – aber auch, dass das Vorliegen einer negativen streitigen Rechtsbestandsentscheidung die Annahme eines gesicherten Rechtsbestandes in der Regel ausschließt. So ist der Verfügungsgrund in aller Regel zu verneinen, wenn eine erstinstanzliche Ent-scheidung ergangen ist, die das Patent widerrufen oder für nichtig erklärt hat (Se-nat, InstGE 9, 140 – Olanzapin; InstGE 12, 114 – Harnkatheterset; Urt. v. 31.08.2017, Az.: I-2 U 11/17, BeckRS 2017, 125974 Rn. 50). Auch wenn ein Vorbescheid die Vernichtung oder eine aus der Benutzung hinausführende Beschränkung des Ver-fügungspatents in Aussicht stellt, wird sich das Verletzungsgericht mangels überle-gener eigener technischer Sachkunde im Zweifel keine Überzeugung vom Rechts-bestand bilden können (Senat, GRUR-RR 2021, 249 Rn. 22 ff. – Cinacalcet II; Urt. v. 04.03.2021, Az.: I-2 U 32/20, GRUR-RS 2021, 4506 Rn. 10 – Cinacalcet III; vgl. auch Urt. v. 26.09.2019, Az.: I-2 U 28/19, GRUR-RS 2019, 33227 Rn. 52 – MS-Therapie). Dies gilt in gleicher Weise bei einer Rechtsbestandsentscheidung bezogen auf ein Stamm- oder Parallelpatent, wenn sich deren zur Schutzrechtsvernichtung führen-de Argumentation auf das Verfügungsschutzrecht übertragen lässt (Senat, Urt. v. 26.09.2019 – I-2 U 28/19 – GRUR-RS 2019, 33227 Rn. 52 – MS-Therapie). Dem steht die Entscheidung „Phoenix Contact/Harting“ des Gerichtshofs der Europäi-schen Union EuGH in der Rechtssache C-44/21 (GRUR 2022, 811) nicht entgegen. Aus der vom Gerichtshof der Europäischen Union aufgestellten Gültigkeitsvermu-tung lässt sich nicht die Vermutung ableiten, dass gegen die Schutzfähigkeit ange-führte Gründe nicht durchgreifen werden, sich das Patent im Falle eines Rechtsbe-standsangriffs also auch künftig als rechtsbeständig erweisen wird (genauso: OLG München, GRUR 2025, 952 – Rechtsbestand im Verfügungsverfahren).
  10. 2.
    Von diesen Grundsätzen ausgehend ist der Rechtsbestand des Verfügungspatents nicht in dem für den Erlass einer einstweiligen Verfügung ausreichenden Maße gesichert.
  11. a)
    Es ist zwar zunächst festzustellen, dass eine Konstellation vorliegt, in der nach den dargestellten Maßstäben grundsätzlich von einem hinreichend gesicherten Rechts-bestand auszugehen ist, weil mit der Einspruchsentscheidung zum Verfügungspa-tent vom 11.12.2024 (Anlage BBY 1) eine von der zuständigen Fachinstanz (EPA) nach technisch sachkundiger Prüfung getroffene Entscheidung über die Aufrecht-erhaltung des Verfügungspatents vorliegt, die die Vermutung der Rechtsbeständig-keit begründet. Allerdings wird diese Vermutung durch den rechtskräftigen Widerruf des Stammpatents erschüttert. Damit liegt eine Situation vor, in der sich zu dersel-ben rechtlichen Frage zwei Entscheidungen gleichrangiger Spruchkörper inhaltlich widersprechend gegenüberstehen.
  12. aa)
    Die in dem das Stammpatent betreffenden Verfahren getroffene Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 13.06.2016 (Anlage BBY 9) steht inhaltlich im Wider-spruch zu der das Verfügungspatent betreffenden Entscheidung der Einspruchsab-teilung vom 11.12.2024 (Anlage BBY 1).
    Die Erwägungen der Einspruchsabteilung zum Stammpatent sind grundsätzlich auf die Lehre des Verfügungspatents übertragbar. Unterschiede zwischen den in Rede stehenden Ansprüchen 1 und 5 des Verfügungspatents sowie den Ansprüchen 1 und 7 des Stammpatents bestehen – wie erörtert – darin, dass das Stammpatent auf DMF oder MMF als Wirkstoff bzw. Neuroprotektivum beschränkt ist, während das Verfügungspatent das Vorhandensein weiterer Wirkstoffe zulässt, und dass das Verfügungspatent auf die Behandlung der RRMS als spezielle Form der MS be-schränkt ist, während das Stammpatent die Behandlung sämtlicher Formen der MS erfasst.
    Im Hinblick auf die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit bezogen auf die Anpas-sung der Dosis auf 480 mg/Tag bestehen zwischen den verschiedenen Anspruchs-fassungen keine relevanten Unterschiede. Die beiden Entscheidungen der Ein-spruchsabteilung zum Stammpatent und zum Verfügungspatent stehen sich hier vielmehr inhaltlich widersprechend gegenüber (so auch LGU S. 19). Beide Ent-scheidungen stellen insoweit auf den gleichen Stand der Technik ab, nämlich die Präsentation „Efficacy of a novel single-agent Fumarate, BG00012, in patients with relapsing-remitting multiple sclerosis: results of a phase II study“ von Kappos et al. (vorgelegt als Anlage BBY 3, im Einspruchsverfahren betreffend das Verfügungspa-tent: D 6b; im Einspruchsverfahren betreffend das Stammpatent: D11-A3; nachfol-gend: „Kappos“) und die Präsentation „Oral fumaric acid esters fort he treatment of active multiple sclerosis: an open-label, baseline-controlled pilot study“, European Journal of Neurology 2006, 13: 604-610“ von Schimrigk et al. (vorgelegt als Anlage BBY 2; im Einspruchsverfahren betreffend das Verfügungspatent: D 9; im Ein-spruchsverfahren betreffend das Stammpatent: D 2; nachfolgend: „Schimrigk“). Bei-de Entgegenhaltungen betreffen unstreitig RRMS. Soweit mit der D128 im Ein-spruchsverfahren betreffend das Verfügungspatent eine überarbeitete Fassung “BG00012, a novel oral fumarate, is effective in patients with relapsing-remitting mul-tiple sclerosis“ von „Kappos“ (Anlage BBY 4) vorgelegt wurde, enthält diese zusätzli-che Ergebnisse der zweiten Phase („24-week blinded safety extension phase“), ent-spricht aber im Übrigen der bekannten Präsentation von „Kappos“.
    Während die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Stammpatent die ob-jektive Aufgabe der Erfindung darin sieht, eine alternative Tagesdosis von DMF für die Behandlung von MS bereitzustellen (Anlage BBY 9 Rn. 8.6.1.), formuliert die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Verfügungspatent die objektive Aufgabe dahin, dass eine verbesserte orale Behandlung für RRMS bereitgestellt werden soll (Anlage BBY 1 Rn. 3.5.12). Ausgehend hiervon hat die Einspruchsab-teilung in ihrer Entscheidung zum Stammpatent dessen Ansprüche 1 und 7 nicht als erfinderisch angesehen, während die Einspruchsabteilung in ihrer Entschei-dung zum Verfügungspatent in Bezug auf dessen Ansprüche 1 und 5 zu einem anderen Ergebnis gelangt ist.
    Die Entscheidung der Einspruchsabteilung zum Stammpatent wird durch die nach-folgende Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer vom 20.01.2022 nicht in Frage gestellt. Zwar hat die Technische Beschwerdekammer den von der Ein-spruchsabteilung angenommenen Widerrufsgrund der fehlenden erfinderischen Tätigkeit nicht geprüft, sondern die Beschwerde aus einem anderen Grund – unzu-lässige Erweiterung (Art. 123 Abs. 2 EPÜ) – zurückgewiesen. Hinweise darauf, dass die Bewertung der Einspruchsabteilung aus Sicht der Technischen Beschwerde-kammer unzutreffend war, ergeben sich daraus indes nicht. Bei der unzulässigen Erweiterung handelt es sich um einen selbstständigen, zum Widerruf führenden Einspruchsgrund (Art. 101 Abs. 1 S. 1, Art. 100 lit. c) EPÜ), der logisch prinzipiell vorrangig ist (weil sich die Frage von Neuheit und Erfindungshöhe sinnvoll erst mit Blick auf eine rechtlich zulässige Anspruchsfassung stellen und beantworten lässt) und dessen Vorliegen weitere Ausführungen entbehrlich macht.
    Dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung zum Stammpatent aus dem Jahre 2016 stammt, mithin inzwischen 9 Jahre alt ist, führt – entgegen der Auffassung der Verfügungsklägerin – nicht per se dazu, dass sie überholt ist. Der Zeitablauf ändert weder etwas an der Vergleichbarkeit der Anspruchsfassungen von Stammpatent und Verfügungspatent noch an der Argumentation im Hinblick auf die erfinderische Tätigkeit.
    Soweit die Einspruchsentscheidung in ihrer Entscheidung zum Verfügungspatent neuere Rechtsprechung, insbesondere die Entscheidung der Großen Beschwerde-kammer vom 23.03.2023 in der Rechtsache G 2/21, berücksichtigt hat, ist die Ent-scheidung zum Stammpatent selbstverständlich im Hinblick hierauf kritisch zu überprüfen. Ihr aber von vornherein eine geringere Bedeutung zuzusprechen als der Entscheidung zum Verfügungspatent, geht fehl. Es mag zwar zutreffen, dass bei der Entscheidung zum Verfügungspatent ein Mitglied mitgewirkt hat, das bereits an der Entscheidung zum Stammpatent beteiligt war, dass die Argumentation der Einspruchsabteilung zur erfinderischen Tätigkeit in ihrer Entscheidung zum Stammpatent – insbesondere ihre Ausführungen zum Naheliegen der beanspruch-ten Lehre – aber nunmehr unvertretbar wäre, lässt sich der Entscheidung zum Ver-fügungspatent nicht entnehmen und muss vom Senat in eigener Verantwortung geprüft werden. Dabei geht es nicht darum, dass ein Verletzungsgericht, welches weder über ein annähernd vergleichbares Wissen noch über Erfahrung bezüglich der Entwicklungsarbeit von Technikern verfügt, seine eigene, notwendigerweise laienhafte Einschätzung über die Überlegungen einer fundierten Rechtsbestands-entscheidung stellt. Vielmehr hat sich das Verletzungsgericht mit zwei gleicherma-ßen fundierten und im Instanzenzug gleichrangigen Rechtsbestandsentscheidun-gen zu befassen und deshalb darüber zu entscheiden, ob und ggf. welcher dieser Entscheidungen die größere Überzeugungskraft zukommt.
  13. bb)
    In einer solchen Konstellation, wenn zur Aufrechterhaltungsentscheidung ein ge-gensätzliches Erkenntnis einer technisch ebenfalls sachkundigen, gleich- oder hö-herrangigen Stelle vorliegt (z.B. zu parallelen Schutzrechten, Stammanmeldungen oder dergleichen), ohne dass deren Erwägungen von vornherein als unvertretbar zu qualifizieren sind, sodass sich die technischen Fachleute mit jeweils beachtli-chen Gründen uneins darüber sind, ob eine bestimmte technische Lehre schutzfä-hig ist oder nicht, wird – trotz einstweilen positiver Rechtsbestandsentscheidung zum Verfügungspatent – in der Regel nicht von einem hinreichend gesicherten Rechtsbestand auszugehen sein (grundlegend: Senat, Urt. v. 31.08.2017, Az.: I-2 U 11/17, BeckRS 2017, 125974 Rn. 59 – Stoßwellengerät; vgl. auch: Kühnen, Hand-buch der Patentverletzung, 16. Auflage 2024, Kap. G Rn. 119).
    Soweit der Senat in seiner Entscheidung „MS-Therapie“ (Urt. v. 26.09.2019 – 2 U 28/19; GRUR-RS 2019, 33227 Rn. 43) darauf hingewiesen hat, dass nicht jede an-derslautende, irgendwo unter Beteiligung technischen Sachverstandes (etwa durch technische Richter oder externe Sachverständige) getroffene Entscheidung im vor-genannten Sinne rechtsschutzhindernd sei, es vielmehr erforderlich sei, dass die gegenläufige Erkenntnis von einem Entscheider herrühre, der Zugriff auf das Ver-fügungsschutzrecht habe, weil er in den für die Beurteilung seines Rechtsbestan-des vorgesehenen Instanzenzug eingebunden sei, erfolgten diese Ausführungen insbesondere mit Blick auf entgegenstehende (Rechtsbestands-) Entscheidungen in den europäischen Mitgliedstaaten. In dem seinerzeit zu entscheidenden Verlet-zungsverfahren wurden diverse Entscheidungen anderer Jurisdiktionen (z.B. briti-scher, norwegischer oder italienischer Verletzungsgerichte) eingeführt, die in Wi-derspruch zu der aufrechterhaltenden Entscheidung der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts standen. Sowohl das seinerzeitige Verfügungspatent als auch das parallele Stammpatent sind aber durch die Einspruchsabteilung und da-mit durch die für die Beurteilung des Rechtsbestandes primär zuständige Stelle für schutzfähig erachtet worden.
    Entsprechend hat der Senat damals festgestellt, dass die Situation sich inhaltlich widersprechender Entscheidungen gleich- oder höherrangiger technischer Spruch-körper nicht gegeben sei. Dem Patentinhaber dürfe eine vorläufige Durchsetzung seines Schutzrechts trotz einer von ihm erstrittenen Aufrechterhaltungsentschei-dung durch (mindestens) einen im deutschen bzw. europäischen Instanzenzug zuständigen Spruchkörper nicht unter Hinweis darauf versagt werden, dass an-derswo (= in anderen Jurisdiktionen) ein Patentamt oder Gericht zu einem (vielleicht ebenso gut vertretbaren) gegenteiligen Resultat gelangt ist. Dies ist als Ausdruck des Grundsatzes zu verstehen, dass die von der zuständigen Fachinstanz (DPMA, EPA, BPatG) nach technisch sachkundiger Prüfung getroffene Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Verfügungspatents vom Verletzungsgericht grundsätz-lich hinzunehmen ist.
    In seiner das Verfügungspatent betreffenden ersten Entscheidung vom 23.02.2023 (I-2 U 116/22) hat der Senat ebenfalls betont, dass sich nicht die Entscheidungen „zwei mindestens gleichrangiger Spruchkörper (gleichwertig) gegenüberstehen“ (GRUR-RS 2023, 5166 Rn. 31). Seinerzeit standen sich die Entscheidung der Prü-fungsabteilung betreffend die Erteilung des Verfügungspatents und die Entschei-dung der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts, mit der diese das zum Verfügungspatent weitgehend inhaltsgleiche und wegen der Wirkstoffbegrenzung sogar enger gefasste Stammpatent widerrufen hat, gegenüber. Bei der Einspruchs-abteilung handelt es sich um einen im Vergleich zur Prüfungsabteilung höherran-gigen, im Instanzenzug übergeordneten Spruchkörper.
    Demgegenüber stehen sich nunmehr mit der Entscheidung der Einspruchsabtei-lung zum Stammpatent und der Entscheidung der Einspruchsabteilung zum Verfü-gungspatent die Entscheidungen zweier gleichrangiger Spruchkörper gegenüber, die im europäischen und deutschen Instanzenzug grundsätzlich für die Entschei-dung über den Rechtsbestand des Verfügungspatents zuständig sind. Stammt aber nicht nur die Aufrechterhaltungsentscheidung, sondern auch die die Schutzfähig-keit verneinende Entscheidung von einem Spruchkörper, der im europäischen oder deutschen Instanzenzug grundsätzlich zur Entscheidung über den Rechtsbestand des Verfügungsschutzrechts berufen ist, und kommt der Aufrechterhaltungsent-scheidung nicht schon deshalb ein höheres Gewicht zu, weil sie von einem im In-stanzenzug übergeordneten Spruchkörper erlassen wurde, so ist regelmäßig davon auszugehen, dass die Schutzfähigkeit nicht in ausreichendem Maße geklärt ist und – trotz einstweilen positiver Rechtsbestandsentscheidung zum Verfügungspatent – in der Regel eine Unterlassungsverfügung nicht ergehen kann.
    Im Einklang hiermit wird auch in der Literatur die Rechtsprechung des Senats dahin verstanden, dass trotz einer positiven Rechtsbestandsentscheidung von einem hin-reichend gesicherten Rechtsbestand nicht ausgegangen werden kann, wenn sich mehrere mindestens gleichrangige Spruchkörper mit den fraglichen Entgegenhal-tungen und ihrer Bedeutung für die Beurteilung von Neuheit und/oder Erfindungs-höhe befasst haben und dabei mit jeweils nachvollziehbaren Gründen zu entge-gengesetzten Resultaten gelangt sind (Wuttke/Voß in BeckOK PatR, 36. Edition Stand: 01.05.2025, vor §§ 139-142b (Verletzungsprozess) Rn. 299; Voß in Cepl/Voß, Prozesskommentar, 3. Aufl. 2022, § 940 Rn. 134).
    Das Recht des Schutzrechtsinhabers auf die Gewährung eines effektiven einstwei-ligen Rechtsschutzes wird hierdurch nicht unangemessen eingeschränkt. Denn dem Patentinhaber bleibt eine vorläufige Durchsetzung seines Schutzrechts auf der Grundlage einer von ihm erstrittenen Aufrechterhaltungsentscheidung nur dort (ausnahmsweise) versagt, wo die einstweilen positive Rechtsbestandsentschei-dung als verlässliche Beurteilungsgrundlage für das einstweilige Verfügungsver-fahren wegfällt, weil durch die (im europäischen und/oder deutschen Instanzenzug) zuständigen (mindestens gleichrangigen) Instanzen bereits widerrufende oder ver-nichtende Erkenntnisse zu dem fraglichen technischen Sachverhalt ergangen sind. Insofern ähnelt die Situation derjenigen bei Nichtvorliegen einer dem Verfügungs-kläger günstigen kontradiktorischen Rechtsbestandsentscheidung.
  14. cc)
    In einer solchen (Sonder-) Konstellation wiederum sind die Besonderheiten von Generikafällen zu berücksichtigen. Während der von Generikaherstellern angerich-tete Schaden im Falle einer späteren Aufrechterhaltung des Patents vielfach enorm und (mit Rücksicht auf den durch eine entsprechende Festsetzung von Festbeträ-gen verursachten Preisverfall) nicht wiedergutzumachen ist, hat eine (wegen späte-rer Vernichtung des Patents) unberechtigte Verfügung lediglich zur Folge, dass das Generikaunternehmen vorübergehend zu Unrecht vom Markt ferngehalten wird, was durch entsprechende Schadensersatzansprüche gegen den Patentinhaber vollständig ausgeglichen werden kann. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass das Generikaunternehmen für seine Marktpräsenz im Allgemeinen keine eigenen wirt-schaftlichen Risiken eingeht (weil das Präparat dank des Patentinhabers medizi-nisch hinreichend erprobt und am Markt etabliert ist). Es hat deswegen eine Ver-botsverfügung zu ergehen, auch wenn für das Verletzungsgericht mangels einer fachkundigen Rechtsbestandsentscheidung keine endgültige und eindeutige Si-cherheit über den Rechtsbestand gewonnen werden kann, sofern das Verlet-zungsgericht (aufgrund der ihm angesichts der betroffenen technischen Materie möglichen eigenen Einschätzung) für sich die Überzeugung (im Sinne hinreichen-der Glaubhaftmachung) davon gewinnt, dass das Verfügungsschutzrecht rechtsbe-ständig ist, weil sich die mangelnde Patentfähigkeit seines Erfindungsgegenstan-des nicht feststellen lassen wird. Hierfür müssen aus der Sicht des Verletzungsge-richts entweder die besseren Argumente für die Patentfähigkeit sprechen, so dass sich diese positiv bejahen lässt, oder es muss (mit Rücksicht auf die im Rechtsbe-standsverfahren geltende Beweislastverteilung) die Frage der Patentfähigkeit min-destens ungeklärt bleiben, so dass das Verletzungsgericht, wenn es anstelle des Patentamtes oder des BPatG in der Sache selbst zu befinden hätte, den Rechtsbe-stand zu bejahen hätte, wobei im Rahmen der vom Verletzungsgericht zu treffen-den Prognoseentscheidung bereits ergangene Entscheidungen der zuständigen Stellen zum Rechtsbestand zu berücksichtigen sind (Senat, GRUR-RR 2013, 236, 240 – Flupirtin-Maleat; Urt. v. 07.11.2013, Az.: I-2 U 94/23, GRUR-RS 2014, 04902 – Desogestrel; Urt. v. 10.12.2015, Az.: I-2 U 35/15, BeckRS 2016, 6208 Rn. 43 – Diag-nostisches Verfahren; Urt. v. 19.02.2016, Az.: I-2 U 54/15, BeckRS 2016, 6344 Rn. 13; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 12 – Kombinati-onszusammensetzung; GRUR-RR 2021, 249 Rn. 22 – Cinacalcet II; GRUR-RR 2021, 400 Rn. 47 – MS-Therapie II; GRUR 2024, 447 Rn. 2 – RRMS-Therapie; OLG Düsseldorf [15. ZS], Urt. v. 11.01.2018, Az. I-15 U 66/17, BeckRS 2018, 1291 Rn. 57 – Rasierklingen; OLG München, GRUR 2023, 796 Rn. 8 – Aminopyridin; vgl. auch: Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 16. Auflage 2024, Kap. G Rn. 87).
    Der Annahme eines „Generikafalles“ steht vorliegend nicht entgegen, dass es infol-ge des vom 01.03.2023 bis zum 31.05.2023 vorübergehenden Auftretens generi-scher Produkte zu einer Marktsituation gekommen ist, die den Streitfall wegen der dadurch eingetretenen Preiserosion von den typischen Generika-Fällen unter-scheidet. Die Verfügungsklägerin war bereits in der Vergangenheit gezwungen, Open-House-Rabattverträge mit den gesetzlichen Krankenkassen zu schließen, durch die XXX unter dem Listenpreis veräußert wurde. Nachdem die Verfügungs-klägerin diese Rabattverträge aufgrund des Vermarktungsverbots kündigen konnte, werden auch keine Preisnachlässe mehr gewährt. Zu Recht ist das Landgericht da-von ausgegangen, dass zu erwarten steht, dass genau diese Preisnachlässe wie-der eingeräumt werden müssen, wenn das Vermarktungsverbot endet und die Ver-fügungsklägerin dann nicht durch eine einstweilige Verfügung geschützt ist (vgl. LGU S. 40).
  15. b)
    Dies vorausgeschickt, ist der Rechtsbestand des Verfügungspatents für den Erlass einer Unterlassungsverfügung vorliegend nicht hinreichend gesichert (im Ergebnis genauso: Rechtbank Den Haag, Urt. v. 22.01.2025 – C/09/639604 / HA ZA 22-1028, vorgelegt als Anlage BBY 10, Tribunal Judiciaire de Paris, Urt. v. 03.02.2025 – G 24/58777, vorgelegt als Anlage BBY 11; Schweizer Bundespatentgericht, Urt. v. 08.07.2025 – S2024_005). Denn der aufrechterhaltenden Entscheidung der Ein-spruchsabteilung zum Verfügungspatent steht die dieser im Hinblick auf die An-nahme einer erfinderischen Tätigkeit (Art. 56 EPÜ) inhaltlich widersprechende Ent-scheidung der Einspruchsabteilung zum Stammpatent gegenüber, die den Senat – auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung der Technischen Beschwerdekammer und der Großen Beschwerdekammer – im Ergebnis mehr überzeugt als die entgegenstehende Entscheidung der Einspruchs-abteilung zum Verfügungspatent. Im Einzelnen:
  16. aa)
    Eine Erfindung beruht auf einer erfinderischen Tätigkeit, wenn sie sich für die Fachperson nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt (Art. 56 EPÜ). Der Ausdruck „in naheliegender Weise“ bezeichnet etwas, das nicht über die normale technologische Weiterentwicklung hinausgeht, sondern sich lediglich oh-ne Weiteres oder folgerichtig aus dem bisherigen Stand der Technik ergibt, d. h. et-was, das nicht die Ausübung einer Geschicklichkeit oder einer Fähigkeit abverlangt, die über das bei einer Fachperson voraussetzbare Maß hinausgeht (vgl. EPA Prü-fungsrichtlinien, Teil G. Kap. VII. Ziff. 4.).
    Das EPA wendet bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit den sog „Aufgabe-Lösungs-Ansatz“ an, der im Wesentlichen die folgenden methodischen Schritte um-fasst (vgl. Entscheidung der Großen  Beschwerdekammer vom 23.03.2023, G 2/21 Punkt 24, GRUR-RS 2023, 9088 Rn. 92 – Insecticide compositions; nachfolgend: G 2/21):
    – Ermittlung des nächstliegenden Stands der Technik,
    – Vergleich des streitigen Anspruchsgegenstands mit der Offenbarung des nächstliegenden Stands der Technik und Bestimmung des Unterschieds/der Unterschiede zwischen beiden,
    – Ermittlung der technischen Wirkungen oder der Ergebnisse, die durch diesen Unterschied/diese Unterschiede erzielt werden bzw. mit diesen in Zusam-menhang stehen,
    – Bestimmung der technischen Aufgabe, deren erfindungsgemäße Lösung diese Wirkungen oder diese Ergebnisse erzielen sollen und
    – Prüfung der Frage, ob die beanspruchten technischen Merkmale, mit denen die erfindungsgemäßen Ergebnisse erzielt werden, angesichts des Stands der Technik im Sinne des Artikels 54 Abs. 2 EPÜ für einen Fachmann nahe-liegend gewesen wären.
  17. (1)
    Dabei wird die objektive Aufgabe der Erfindung im Sinne einer „technischen Diffe-renzaufgabe“ bestimmt. In den EPA Prüfungsrichtlinien (Teil G. Kap. VII. Ziff. 5.2) heißt es insofern:
    „Im Rahmen des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes besteht die technische Aufgabe darin, über die Änderung oder Anpassung des nächstliegenden Stands der Technik die technischen Wirkungen zu erzielen, die die Erfindung über den nächstliegenden Stand der Technik mit sich bringt.“
    Der Begriff „technische Aufgabe“ wird hierbei weit ausgelegt; er impliziert nicht not-wendigerweise, dass die technische Lösung eine Verbesserung des Stands der Technik bringt. Ebenso kann die Aufgabe einfach darin bestehen, nach einer Alter-native zu einer bekannten Vorrichtung oder einem bekannten Verfahren zu su-chen, das die gleichen oder ähnliche Wirkungen hat oder kostengünstiger ist (EPA Prüfungsrichtlinien, Teil G. Kap. VII. Ziff. 5.2).
    Die technische Aufgabe muss sich allerdings stets aus Wirkungen ergeben, die unmittelbar und kausal mit den technischen Merkmalen der beanspruchten Erfin-dung zusammenhängen. Eine Wirkung kann nicht wirksam für die Formulierung der technischen Aufgabe verwendet werden, wenn hinsichtlich dieser Wirkung zu-sätzliche Informationen benötigt werden, die dem Fachmann selbst bei Berücksich-tigung des Inhalts der betreffenden Anmeldung nicht zur Verfügung stehen (G 2/21 Punkt 25, GRUR-RS 2023, 9088 Rn 93).
  18. (a)
    In ihren Entscheidungen zum Stammpatent und zum Verfügungspatent hat die Einspruchsabteilung jeweils „Kappos“ als nächstliegenden Stand der Technik be-stimmt und festgestellt, dass der Unterschied zwischen der Lehre des Stammpa-tents/Verfügungspatents und „Kappos“ in der im Stammpatent/Verfügungspatent beanspruchten niedrigeren Tagesdosis liege (nämlich 480 mg/Tag gegenüber 720 mg/Tag). Welche technische Wirkung allerdings durch die unterschiedliche Dosie-rung erzielt wird, beurteilt die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Stammpatent anders als in ihrer Entscheidung zum Verfügungspatent.
    In ihrer Entscheidung zum Stammpatent geht die Einspruchsabteilung davon aus, dass mit der Dosis von 480 mg/Tag DMF eine mögliche wirksame orale Behandlung von MS bereitgestellt wird und formuliert die technische Aufgabe hiervon ausge-hend dahin, dass es um die Bereitstellung einer alternativen Tagesdosis von DMF für die wirksame orale Behandlung von MS gehe (Anlage BBY 9 Rn. 8.6.1). Unbe-rücksichtigt lässt sie dabei den Umstand, dass in den nachveröffentlichten Doku-menten D20 (Declaration of Katherine T. Dawson, M.D. v. 22.12.2011) und D25 (Declaration of Prof. Dr. Ralf Gold v. 25.01.2013) von einer ähnlichen Wirksamkeit der Tagesdosis von 480 mg DMF gegenüber einer Tagesdosis von 720 mg DMF be-richtet wird. Insofern hat die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Stammpatent die Auffassung vertreten, die in den Dokumenten D20 und D25 ge-zeigte (überraschende) Wirkung sei außer Acht zu lassen, weil die Anmeldung in der eingereichten Fassung zwar die Information enthalte, dass die Dosis von 480 mg/Tag eine wirksame orale Dosis von DMF oder MMF sein könne, letztlich aber jeder der aufgeführten Werte als wirksame Dosis angesehen werden könne. Keinen von ihnen hätte die Fachperson – ausgehend von der Anmeldung in der einge-reichten Fassung – als plausible Lösung für die Aufgabe einer wirksamen oralen Behandlung von MS erachtet (Anlage BBY 9 Rn. 8.5).
    Diesen Punkt hat die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Verfügungs-patent anders bewertet und angenommen, die therapeutische Wirksamkeit der Do-sis von 480 mg/Tag bei der Behandlung von RRMS sei aus der ursprünglichen Anmeldung (implizit) ableitbar gewesen (Anlage BBY 1 Rn. 3.5.10). Hiervon ausge-hend ist die Einspruchsabteilung zu dem Schluss gekommen, dass die nachveröf-fentlichten Dokumente D20 und D25 bei der Bestimmung der objektiven Aufgabe berücksichtigt werden könnten. Da in ihnen gezeigt werde, dass die niedrigere Do-sierung von 480 mg/Tag DMF bei der Behandlung von RRMS ähnlich wirksam sei wie die Dosis von 720 mg/Tag, liege die objektive Aufgabe der Erfindung in der Be-reitstellung einer verbesserten oralen Behandlung für RRMS (Anlage BBY 1 Rn 3.5.12).
  19. (b)
    Nach der Entscheidungspraxis des EPA kann der Patentinhaber nicht nur in der Beschreibung erwähnte, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch nach-gebrachte technische Effekte zur Verteidigung des Patents geltend machen.
    Dies wird in Ziffer 1 der Entscheidungsformel in der Rechtssache G 2/21 im Grund-satz bestätigt. Hiernach dürfen Beweismittel, die von einem Patentanmelder oder -inhaber zum Nachweis einer technischen Wirkung vorgelegt werden und auf die er sich für die Anerkennung erfinderischer Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands beruft, nicht allein aus dem Grund unberücksichtigt bleiben, dass diese Beweismit-tel, auf denen die Wirkung beruht, vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öf-fentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden (vgl. auch: G 2/21 Punkt 91, GRUR-RS 2023, 9088 Rn. 190). Die Tatsache, dass D20 und D25 nachveröffentlicht sind, schließt daher für sich genommen nicht aus, dass diese Veröffentlichungen bzw. Beweismittel, welche das Ausmaß der Wirksamkeit einer niedrigeren Dosis von 480 mg/Tag (ähnliche Wirksamkeit wie eine Dosis von 720 mg/Tag) zeigen, bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit Berücksichtigung finden.
    Die Große Beschwerdekammer hat allerdings nicht entschieden, dass sich ein Pa-tentanmelder oder -inhaber stets auf eine nachgebrachte technische Wirkung beru-fen kann. Vielmehr hat die Beschwerdekammer in Ziffer 2 der Entscheidungsformel zwingende zu erfüllende Voraussetzungen festgelegt (vgl. hierzu auch: EPA, Ent-sch. v. 28.07.2023 – T 0116/18, GRUR-RS 2023, 33506 Rn. 48). Hiernach kann sich ein Patentanmelder oder -inhaber zum Nachweis der erfinderischen Tätigkeit auf eine technische Wirkung nur dann berufen, wenn der Fachmann ausgehend vom allgemeinen Fachwissen und auf der Grundlage der Anmeldung in der ursprüng-lich eingereichten Fassung schlussfolgern würde, dass diese Wirkung von der technischen Lehre umfasst und von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert wird (G 2/21 Punkt 94, GRUR-RS 2023, 9088 Rn. 193). Dabei kommt es auf die technische Lehre der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht an, wie sich insbesondere aus den Punkten 71 und 93 der Entscheidung der Großen Be-schwerdekammer ergibt (vgl. auch: EPA, Entsch. v. 30.6.2023 – T 1989/19, GRUR-RS 2023, 35482 Rn. 67).
    Nachdem die Große Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung zunächst ausführ-lich die bisherige Rechtsprechung der Beschwerdekammern dargestellt hat (G 2/21 Punkt 60 ff., GRUR-RS 2023, 9088 Rn. 129 ff.), führt sie in Punkt 71 (GRUR-RS 2023, 9088 Rn. 156) aus, dass sie dieser Rechtsprechung als gemeinsame Basis entnehme, dass es im Kern um die Frage gehe, was der Fachmann – ausgehend vom allgemeinen Fachwissen am Anmeldetag der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung – als technische Lehre der beanspruchten Erfindung ver-stehe. Im Anschluss führt die Große Beschwerdekammer aus, dass sie diese Auf-fassung auf die in ihre Entscheidung zuvor genannten Entscheidungen ange-wandt habe und zu der Überzeugung gelangt sei, dass das Ergebnis in keinem ein-zigen Fall anders ausgefallen wäre als die tatsächliche Feststellung der jeweiligen Beschwerdekammer. Unabhängig von der Verwendung des – auch von der Ein-spruchsabteilung in der Entscheidung zum Verfügungspatent verwendeten – ter-minologischen Konzepts der Plausibilität schienen – so die Große Beschwerde-kammer weiter – die angeführten Entscheidungen zu zeigen, dass sich die einzel-nen Beschwerdekammern jeweils auf die Frage konzentriert hätten, ob die vom Pa-tentanmelder oder -inhaber geltend gemachte technische Wirkung für den Fach-mann aus der technischen Lehre der Anmeldungsunterlagen erkennbar gewesen sei oder nicht (G 2/21 Punkt 72, GRUR-RS 2023, 9088 Rn.157).
    Abschließend stellt die Große Beschwerdekammer nach Würdigung der nationalen Rechtsprechung zur Berücksichtigungsfähigkeit nachveröffentlichter Beweismittel fest, dass der Begriff „Plausibilität“ kein eigener Rechtsbegriff und kein spezifisches Patentrechtserfordernis nach dem EPÜ sei, insbesondere nicht nach Artikel 56 und 83 EPÜ. Er beschreibe vielmehr ein generisches Schlagwort, das in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern, von einigen nationalen Ge-richten und von Nutzern des europäischen Patentsystems verwendet werde. Der maßgebliche Standard für die Stützung auf eine behauptete technische Wirkung bei der Beurteilung, ob der beanspruchte Gegenstand eine erfinderische Tätigkeit aufweise, sei die Frage, was der Fachmann ausgehend vom allgemeinen Fachwis-sen am Anmeldetag der ursprünglich eingereichten Anmeldung als technische Lehre der beanspruchten Erfindung verstehen würde. Die – auch zu einem späte-ren Zeitpunkt – geltend gemachte technische Wirkung müsse von dieser techni-schen Lehre umfasst sein und dieselbe Erfindung verkörpern, denn eine solche Wirkung ändere nicht die Art der beanspruchten Erfindung (G 2/21 Punkt 93, GRUR-RS 2023, 9088 Rn. 192).
    Nach der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 2/21 kann eine durch nachveröffentlichte Beweismittel nachgewiesene technische Wirkung somit dann anerkannt werden, wenn sie als von der technischen Lehre der ursprünglich einge-reichten Anmeldung umfasst und als von derselben ursprünglich offenbarten Er-findung verkörpert ableitbar ist (vgl. auch: EPA, Entsch. v. 30.6.2023 – T 1989/19, GRUR-RS 2023, 35482 Rn. 73). Was die geforderte Ableitbarkeit als „von der tech-nischen Lehre umfasst“ und „von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert“ anbelangt, wird dies in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern dahin verstanden, dass es sich um zwei Kriterien handelt, die kumulativ erfüllt sein müssen (EPA, Entsch. v. 28.07.2023 – T 0116/18, GRUR-RS 2023, 33506 Rn. 52; Entsch. v. 30.6.2023 – T 1989/19, GRUR-RS 2023, 35482 Rn. 73).
    Soweit sich ein Patentanmelder zum Nachweis der erfinderischen Tätigkeit nach den Ausführungen der Großen Beschwerdekammer auf eine geltend gemachte technische Wirkung berufen kann, wenn der Fachmann ausgehend vom allgemei-nen Fachwissen und auf der Grundlage der Anmeldung in der ursprünglich einge-reichten Fassung schlussfolgern würde, dass diese Wirkung von der technischen Lehre umfasst und von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert wird, wird man dies dahin zu verstehen haben, dass die Wirkung für den Fachmann aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung zumindest unter Heranziehung seines allgemeinen Fachwissens ableitbar bzw. entnehmbar sein muss. Denn die Große Beschwerdekammer legt ihren Erläuterungen zugrunde, dass es im Kern um die Frage geht, was der Fachmann – unter Berücksichtigung seines allgemeinen Fachwissens am Anmeldetag – der ursprünglich eingereichten Anmeldung als technische Lehre der beanspruchten Erfindung entnimmt (vgl. G 2/21 Punkt 157: „ob die vom Patentanmelder oder -inhaber geltend gemachte tech-nische Wirkung für den Fachmann aus der technischen Lehre der Anmeldungsun-terlagen erkennbar war oder nicht“). Für die Anerkennung bzw. Berücksichtigung einer technischen Wirkung im Rahmen der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist es hierbei nicht Voraussetzung, dass die geltend gemachte Wirkung in der An-meldung ausdrücklich genannt oder darin nachgewiesen ist (vgl. EPA, Entsch. v. 30.6.2023 – T 1989/19, GRUR-RS 2023, 35482 Rn. 73; Entsch. v. 28.07.2023 – T 0116/18, GRUR-RS 2023, 33506 Rn. 58, 61; Entsch. v. 15.4.2024 – T 1994/22, GRUR-RS 2024, 14734 Rn. 21 ff.). Vielmehr dürfte es darauf ankommen, ob der Fachmann unter Berücksichtigung seines allgemeinen Fachwissens am Anmelde-tag und auf der Grundlage der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fas-sung berechtigte Gründe hatte, zu bezweifeln, dass mit dem beanspruchten Ge-genstand die behauptete technische Wirkung erzielt werden kann (vgl. EPA, Ent-sch. v. 28.07.2023 – T 0116/18, GRUR-RS 2023, 33506 Rn. 59, 71 f.). Auf der Grundlage der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung und der hier-in offenbarten technischen Lehre ist insoweit eine behauptete technische Wirkung, die zur Begründung der erfinderischen Tätigkeit herangezogen wird, daraufhin zu beurteilen, ob der Fachmann in Anbetracht des allgemeinen Fachwissens einen erheblichen Grund gehabt hätte, sie (die behauptete erfindungsrelevante techni-sche Wirkung) anzuzweifeln. Bestehen derartige Zweifel, scheint sich ein Patent-anmelder oder -inhaber auch nach der Rechtsauffassung der Großen Beschwerde-kammer zum Nachweis der erfinderischen Tätigkeit nicht erfolgreich auf eine sich aus nachveröffentlichten Dokumenten ergebende technische Wirkung berufen zu können (vgl. dazu bereits Senat, Urt. v. 23.02.2023 – I-2 U 116/22, GRUR-RS 2023, 5166 Rn. 50 – Fumarsäureester).
  20. (c)
    In Anwendung dieses Maßstabes hat der Senat bereits an dieser Stelle durchgrei-fende Bedenken, dass die Fachperson – ein multidisziplinäres Team, bestehend aus einem Arzt mit mehrjähriger Erfahrung in der Behandlung von neurologischen Erkrankungen, insbesondere MS, und einem Pharmakologen mit mehrjähriger Er-fahrung in der Entwicklung von Arzneimitteln zur Behandlung von neurologischen Erkrankungen, insbesondere MS – der ursprünglich eingereichten Anmeldung, der WO 2008/097XXB, entnimmt, dass die technische Lehre auf die Bereitstellung einer verbesserten Behandlung von RRMS durch die orale Gabe von 480 mg/Tag DMF oder MMF gerichtet ist.
    Die Lehre des Verfügungspatents in der Ursprungsoffenbarung basiert darauf, dass eine Aktivierung des Nrf2-Signalweges einen Schutz gegenüber neurodegenerati-ven oder neuroinflammatorischen Erkrankungen bieten kann. Mit möglichen Dosie-rungen bei der oralen Verabreichung von DMF oder MMF an Menschen befasst sich die Stammanmeldung nur an einer einzigen Stelle, nämlich in Abs. [0116]. Nach der dortigen Darstellung ist die Dosierung innerhalb eines weiten Spektrums erlaubt und dem jeweiligen Einzelfall überlassen, wenn es heißt:
    „Für DMF oder MMF kann eine wirksame Menge im Bereich von 1 mg/kg bis 50 mg/kg (z.B. von 2,5 mg/kg bis 20 mg/kg oder von 2,5 mg/kg bis 15 mg/kg) liegen. Die wirksamen Dosierungen variieren auch, wie Fachleute wissen, in Abhängigkeit von dem Verabreichungsweg, der Verwendung von Arzneimittel-trägern und der Möglichkeit der gleichzeitigen Verwendung mit anderen thera-peutischen Behandlungen, einschließlich der Verwendung anderer therapeuti-scher Mittel. Beispielsweise kann eine wirksame Dosis von DMF oder MMR [sic], die einem Patienten oral verabreicht werden soll, etwa 0,1 g bis 1 g pro Tag, 200 mg bis etwa 800 mg pro Tag (z.B. etwa 240 mg bis etwa 720 mg pro Tag; oder von etwa 480 mg bis etwa 720 mg pro Tag; oder etwa 720 mg pro Tag) betragen. …“
    Verstärkt wird der Eindruck einer weitgehend beliebigen Dosierbarkeit von DMF und MMF zusätzlich durch den sich unmittelbar anschließenden Hinweis in Abs. [0117], wo es heißt:
    „Die Dosierung (Anm.: nach Maßgabe von Abs. [0116]) kann von einem Arzt bestimmt und gegebenenfalls angepasst werden, um die beobachteten Wir-kungen der Behandlung anzupassen. …“
    Angesichts der Breite der in Abs. [0116] – völlig unterschiedslos und ohne jegliche Präferenz – genannten Bereiche möglicher Dosierungen mit Tagesdosen zwischen 0,1 g (= 100 mg) und 1 g (= 1000 mg) erscheint zumindest zweifelhaft, ob der Fach-mann dem Beschreibungstext eine konkrete Behauptung zu einer überlegenen o-der auch nur gleichrangigen Wirksamkeit bestimmter dort genannter Dosierungen entnimmt.
    Dies hat auch schon die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Stammpa-tent so gesehen und festgestellt, dass die Anmeldung in der eingereichten Fassung nicht plausibel darstelle, dass mit der spezifischen Dosis von 480 mg/Tag DMF oder MMF die Aufgabe der wirksamen Behandlung von MS (gleiches gilt für RRMS) ge-löst werde (Anlage BBY 9 Rn. 8.5). Diese Auffassung ist durch die Technische Be-schwerdekammer in ihrer nachfolgenden Beschwerdeentscheidung zum Stammpa-tent nicht in Frage gestellt worden. Vielmehr hat die Technische Beschwerdekam-mer festgestellt, dass sich die Dosis von 480 mg/Tag nicht aus der Vielzahl der Be-reiche hervorhebe (Beschwerdeentscheidung v. 20.01.2022 Rn. 4.2). Zwar geht es dort um die im Rahmen der unzulässigen Erweiterung erörterte Frage, ob die Dosis von 480 mg/Tag als bevorzugte Dosis angegeben oder das Ergebnis einer Auswahl ist, weshalb sich die Ausführungen nicht unmittelbar auf die von der Einspruchsab-teilung erörterte Plausibilität übertragen lassen. Es lässt sich aber jedenfalls feststel-len, dass die Technische Beschwerdekammer der von der Einspruchsabteilung ge-äußerten Auffassung, wonach der Fachmann anhand der Darstellung in Abs. [0116] den Wert von 480 mg nicht als bekanntlich wirksam erkennt, nicht wider-spricht (Beschwerdeentscheidung v. 20.01.2022 Rn. 4.2.2).
    Demgegenüber hat die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Verfü-gungspatent angenommen, dass sich die Wirksamkeit einer Tagesdosis von 480 mg/Tag DMF zur oralen Behandlung von RRMS aus Abs. [0116] ergebe, weil die Offenbarung in Zusammenhang mit der allgemeinen Lehre in den Abs. [0001], [0030] und [0104] zu lesen sei. Insofern führt sie aus, dass in Abs. [0116] eine wirk-same orale Dosis von 480 mg/Tag bis 720 mg/Tag angegeben sei. Es sei aufgrund von klinischen Studien der Phase II b (D6b/D128, „Kappos“) bereits bekannt gewe-sen, dass eine orale Dosis von 720 mg/Tag DMF wirksam sei. Darüber hinaus hät-ten die Daten von D6b („Kappos“ Folie 12 auf S. 6) einen Trend zu einer Verringe-rung der Anzahl neuer Gd+-Läsionen bei Patienten gezeigt, die mit 360 mg/Tag be-handelt worden seien, jedenfalls im Vergleich zu der Placebo-Gruppe. Auch die D9 („Schimrigk“), die in Abs. [0030] der Anmeldung zitiert werde, berichte über eine wirksame Behandlung von RRMS mit DMF nach einer 18-wöchigen Behandlungs-phase mit 720 mg/Tag, gefolgt von einer 48-wöchigen Erhaltungsphase mit 360 mg/Tag. Es gebe daher – so die Einspruchsabteilung – keinen Grund, die techni-sche Lehre in Abs. [0116] der Anmeldung in der eingereichten Fassung anzuzwei-feln, wonach DMF oder MMF in einer Dosierung von 480 mg bis 720 mg pro Tag eine wirksame Behandlung von MS, insbesondere RRMS, darstelle (vgl. Anlage BBY 1 Punkt 3.5.7, 3.5.8, 3.5.10).
    Diese Argumentation überzeugt den Senat nicht. Der in der Anmeldung angegebe-ne Bereich ist gerade nicht (nur) eine Dosis von 480 mg bis 720 mg pro Tag, son-dern „etwa 0,1 g bis 1 g pro Tag, 200 mg bis etwa 800 mg pro Tag (z.B. etwa 240 mg bis etwa 720 mg pro Tag; oder von etwa 480 mg bis etwa 720 mg pro Tag; oder etwa 720 mg pro Tag“ (vgl. Abs. [0116] der Anmeldeschrift). G 2/21 wird in der Rechtspre-chung der Beschwerdekammern aber auch dahin interpretiert, dass diese Entschei-dung darauf abzielt, spekulative Erfindungen zu verhindern (EPA, Entsch. v. 28.07.2023 – T 0116/18, GRUR-RS 2023, 33506 Rn. 48, 58). Je breiter die Anmel-dung in der ursprünglich eingereichten Fassung ist, desto wahrscheinlicher ist es nach dieser Rechtsprechung, dass die darin definierte Erfindung von Anfang an spekulativ war (EPA, Entsch. v. 28.07.2023 – T 0116/18, GRUR-RS 2023, 33506 Rn. 58). Im Streitfall wird in der Anmeldung in der ursprünglichen Fassung sogar eine Wirksamkeit von Dosierungen von unterhalb 360 mg/Tag pauschal behauptet. Dass DMF oder MMF in einer Dosierung von 100 mg bis weniger als 360 mg pro Tag eine (relevante) wirksame Dosis für die Behandlung von MS, insbesondere RRMS, dar-stellt, dürfte für den Fachmann im Hinblick auf „Kappos“ und „Schimrigk“ fernlie-gend und nicht glaubhaft gewesen sein. Dass der Fachmann vor diesem Hinter-grund aus der Anmeldung eine therapeutische Wirksamkeit gerade einer Tagesdo-sis von 480 mg DMF oder MMF abgeleitet hätte, begegnet jedenfalls Bedenken.
    Soweit die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Verfügungspatent wei-ter angenommen hat, dass im Lichte der Entscheidung der Großen Beschwerde-kammer in der Rechtssache G 2/21 dann, wenn eine technische Wirkung (hier: the-rapeutische Wirksamkeit von 480 mg/Tag DMF oder MMF bei der Behandlung von RRMS) aus der ursprünglich eingereichten Anmeldung abgeleitet werden kann, auch das Ausmaß (hier: ähnliche Wirksamkeit einer Tagesdosis von 480 mg DMF/MMF bei der Behandlung von RRMS im Vergleich zu einer Tagesdosis von 720 mg DMF/MMF) als „implizit ableitbar“ angesehen werden müsse (Anlage BBY 1 Rn. 3.5.8), überzeugt auch dies den Senat nicht. Zwar wird in der neueren Recht-sprechung der Beschwerdekammern wohl überwiegend angenommen, dass dann, wenn das Kriterium der Ableitbarkeit einer technischen Wirkung im Sinne von Punkt 2 der Entscheidungsformel in der Rechtsache G 2/21 erfüllt ist, dies gleich-ermaßen (implizit) auch für eine Verbesserung dieser Wirkung (hier: ähnliche Wirk-samkeit einer geringeren Tagesdosis von 480 mg DMF/MMF bei der Behandlung von RRMS im Vergleich zu einer Tagesdosis von 720 mg DMF/MMF) gilt (vgl. EPA, Entsch. v. 30.6.2023 – T 1989/19, GRUR-RS 2023, 35482 Rn. 86; Entsch. v. 15.4.2024 – T 1994/22, GRUR-RS 2024, 14734 Rn. 33 f.; Entsch. v. 25.6.2024 – T 0840/22, GRUR-RS 2024, 23688 Rn. 46). Dass dies eine zwingende Folge der Ent-scheidung G 2/21 ist, vermag der Senat dieser Entscheidung allerdings nicht zu entnehmen (ebenso wohl: EPA, Entsch. v. 03.04.2025 –T 0996/22, GRUR-RS 2025, 12049 Rn 54 ff.).
    Letztlich bedarf dies hier aber keiner weiteren Vertiefung und Entscheidung.
  21. (2)
    Denn auch, wenn man die objektive Aufgabe der Erfindung in der Bereitstellung einer verbesserten oralen Behandlung von RRMS sehen wollte, hält es der Senat – unter Verweis auf die bereits im Verfahren I-2 U 116/22 erfolgten Ausführungen – für wahrscheinlich, dass der Fachmann ausgehend von „Kappos“ in naheliegender Weise zu der Dosierung von 480 mg/Tag gelangt wäre (genauso: Rechtbank Den Haag, Urt. v. 22.01.2025 – C/09/639604 / HA ZA 22-1028, vorgelegt als Anlage BBY 10, Tribunal Judiciaire de Paris, Urt. v. 03.02.2025 – G 24/58777, vorgelegt als Anla-ge BBY 11; Tribunal Judiciaire de Paris, Urt. v. 18.06.2025 – RG 23/02356; Schwei-zer Bundespatentgericht, Urt. v. 08.07.2025 – S2024_005).
    Voraussetzung hierfür ist nach der Rechtsprechung des EPA, dass sich im Stand der Technik insgesamt eine Lehre findet, die die mit der objektiven technischen Aufgabe befasste Fachperson veranlassen würde, den nächstliegenden Stand der Technik unter Berücksichtigung dieser Lehre zu ändern oder anzupassen und so-mit zu etwas zu gelangen, was unter den Patentanspruch fällt, und das zu errei-chen, was mit der Erfindung erreicht wird (EPA Prüfungsrichtlinien Teil G. Kap. VII. Ziff. 4.). Dabei geht es nicht darum, ob die Fachperson durch eine Änderung oder Anpassung des nächstliegenden Stands der Technik zu der Erfindung hätte gelan-gen können, sondern darum, ob sie tatsächlich dahin gelangt wäre, weil der Stand der Technik sie dazu veranlasste, da sie sich davon eine Verbesserung oder einen Vorteil erwartete (EPA Prüfungsrichtlinien Teil G. Kap. VII. Ziff. 5.3).
  22. (a)
    Das übergeordnete Ziel von „Kappos“ besteht darin, ein Dosierungsschema für DMF zur oralen Behandlung von MS bereitzustellen, das effizient und sicher ist (Anlage BBY 9 Rn. 8.2). Die Dosis von 720 mg/Tag wird insofern als wirksame Dosis dargestellt (Anlage BBY 3 Folie 20) und es werden übliche Nebenwirkungen beo-bachtet, insbesondere Kopfschmerzen, Magen-Darm-Symptome und Flush (Anlage BBY 3 Folie 19, S. 9). Die in den Studien verwendeten Dosierungen umfassen ora-le Dosen von 120 mg und 240 mg, die entweder einmal oder dreimal täglich verab-reicht werden (1×120 mg/Tag; 3×120 mg/Tag; 3×240 mg/Tag). Die Studien zeigen, dass eine orale Behandlung mit DMF in einer Dosierung von 720 mg/Tag (240 mg dreimal täglich) zu einer statistisch signifikanten Verringerung der Gesamtzahl der Gadolinium-verstärkenden Hirnläsionen während der sechsmonatigen Behandlung gegenüber Placebo führt. Hinsichtlich der Behandlungsgruppe, die mit 360 mg pro Tag behandelt wurde, ergibt sich für den Fachmann aus den in „Kappos“ wiederge-gebenen Folien ein widersprüchliches Bild. Während auf Folie 12, auf der über neue Läsionen in den Wochen 12 bis 24 für den vorgegebenen primären Endpunkt berichtet wird, ein Behandlungseffekt bereits bei einer Dosierung von 120 mg pro Tag im Vergleich zu Placebo einsetzt, der sich dann bei 360 mg pro Tag etwas ver-bessert und der sich schließlich bei 720 mg pro Tag ganz erheblich weiter verbes-sert, zeigen die weiteren Nachweise in den Folien 13-15 zunächst eine Verbesse-rung, wenn man von Placebo auf 120 mg pro Tag übergeht, dann ist die Wirkung bei 360 mg pro Tag weniger ausgeprägt und bei 720 mg wieder stärker ausgeprägt (vgl. auch die ausführliche Darstellung in dem Urt. des Schweizer Bundespatentge-richts v. 08.07.2025, dort S. 35 ff.).
  23. (b)
    In ihrer Entscheidung zum Stammpatent hat die Einspruchsabteilung ausgeführt, dass der Fachmann in Anbetracht der Nebenwirkungen, die mit der in den Folien von „Kappos“ als wirksam dargestellten Tagesdosis von 720 mg verbunden seien, eine ausreichende Motivation für die Optimierung des Dosierungsschemas durch Routineversuche gehabt habe (Anlage BBY 9 Rn. 8.7.1, Unterstreichung durch den Senat). Auf dieser Grundlage wäre er entweder mit „Kappos“ als einem allgemeinen Rahmen für weitere Studien zur Dosisoptimierung oder in Kombination mit dem all-gemeinen Fachwissen, dargestellt durch die ICH Topic E 4 „Dose Response Infor-mation to Support Drug Registration“ (im dortigen Einspruchsverfahren als D 25 be-zeichnet; nachfolgend nur noch: ICH-Guidelines), die die Standardschritte der Do-sisoptimierung widerspiegeln, in naheliegender Weise zu der Dosierung von 480 mg/Tag gelangt (Anlage BBY 9 Rn. 8.7.1).
    Dies erscheint dem Senat im Ergebnis überzeugend. Die Fachperson erkennt, dass bei der Studie von „Kappos“ mehrere mögliche Dosierungsschritte zwischen der dort als klinisch nicht relevant bezeichneten Dosierung von 360 mg/Tag und der nach-gewiesen wirksamen Dosierung von 720 mg/Tag übersprungen wurden. Für den Fachmann bestand auch unter Berücksichtigung der für ihn nicht ohne weiteres nachvollziehbaren Studienergebnisse zu der untersuchten Tagesdosis von 360 mg/Tag die Motivation, die Lücke zwischen 360 mg und 720 mg zu untersuchen (so auch das Schweizer Bundespatentgericht in seinem Urt. v. 08.07.2025, S. 39). Da in den klinischen Studien, über die in „Kappos“ berichtet wird, Tabletten mit 120 mg und 240 mg DMF verwendet worden sind, bestand der erste offensichtliche Daten-punkt zur Schließung dieser Lücke darin, anstelle von 3 Tabletten mit 120 mg für die Tagesdosis von 360 mg entweder 4 Tabletten mit 120 mg oder 2 Tabletten mit 240 mg zu verwenden, was in beiden Fällen zu einer Tagesdosis von 480 mg führt. Auch 5 Tabletten mit 120 mg hätte der Fachmann ggf. noch in Betracht gezogen, was zu einer Tagesdosis von 600 mg DMF führt. Für den Fachmann war angesichts der Studienergebnisse von „Kappos“ nicht auszuschließen, dass sich für eine der vorgenannten Tagesdosen eine therapeutische Wirksamkeit herausstellt. Vielmehr bestand für das Gegenteil eine gewisse Erfolgserwartung allein deshalb, weil es sich um einen reinen Zufall gehandelt hätte, wenn mit der – unter Auslassung meh-rerer möglicher geringerer Dosen – getesteten Tagesdosis von 720 mg die erste und niedrigste therapeutisch wirksame Dosis gefunden worden wäre. Insofern weiß der Fachmann, dass Arzneimittel nicht linear sondern in einer sog. Dosis-Wirkungs-Kurve (Sigmoidal-Kurve), wirken, die beispielsweise wie folgt aussehen kann (vgl. Berufungserwiderung v. 05.06.2025 S. 8):
  24. Technisch-wissenschaftlich betrachtet bestand erheblicher Grund zu der Annahme, dass mit der Studie von „Kappos“ die (untere) Wirksamkeitsgrenze noch nicht ermit-telt war, sondern diese weiter aufzuklären war. Nach dem Ergebnis der Studie von „Kappos“ lag die verbliebene Wissenslücke klar zutage und es war ebenso offen-sichtlich, was zu tun war, um sie zu schließen. Dem Fachmann war die Dosis-Wirkungs-Kurve von DMF nicht genau bekannt. Er hatte deshalb keine genauen Informationen darüber, ab welcher Dosierung das Wirkplateau von DMF beginnt und ob sich die nach „Kappos“ statistisch signifikante Dosis von 720 mg/Tag auf diesem Wirkplateau befindet oder nicht. Daher hatte der Fachmann auch keine Kenntnis darüber, ob mit einer geringeren Dosierung als 720 mg/Tag ein Wirkverlust einhergeht. Angesichts der erheblichen Spanne zwischen 360 mg/Tag und 720 mg/Tag hätte es aber einen Glücksgriff dargestellt, wenn mit der getesteten Wirk-stoffdosis von 720 mg/Tag zufällig die erste und niedrigste therapeutisch wirksame Dosis gefunden worden wäre. Daher hält der Senat die Annahme der Einspruchs-abteilung in ihrer Entscheidung zum Stammpatent, wonach der Fachmann – trotz des Vorliegens einer (ersten) Phase II b-Studie – durchaus Anlass hatte, zu über-prüfen, wo die 720 mg/Tag auf der Dosis-Wirkungskurve zu verorten sind und ob eine Reduzierung der Dosis überhaupt einen Wirkverlust bedeutet hätte, im Ergeb-nis für zutreffend.
    Nach den ICH-Richtlinien sind weitere Dosisfindungsstudien sogar nach Marktein-führung noch zu empfehlen (ICH-Guidelines S. 5). Der Nutzen einer geringeren Wirkstoffdosis liegt darin, dass ein Patient weniger Tabletten am Tag einzunehmen hat und dass er auch mit Blick auf die Verstoffwechselung des Medikaments in der Leber potenziell toxische Abbauprodukte und der Auswirkungen auf die Nieren und andere Organe von einer geringeren Dosis profitieren würde. Dieser Gesichtspunkt hat vorliegend deshalb ganz besonderes Gewicht, weil von einer MS-Erkrankung betroffene Patienten Medikamente über außerordentlich lange Zeiträume, gegebe-nenfalls sogar Jahrzehnte, einzunehmen haben (genauso auch die Einspruchsab-teilung in ihrer Entscheidung zum Verfügungspatent, Anlage BBY 1 Rn. 3.5.12).
    Insoweit teilt der Senat die Einschätzung der Verfügungsklägerin nicht, dass der Fachmann – auch aus ethischen Erwägungen – davon abgesehen hätte, eine ge-ringere als die erwiesenermaßen wirksame Dosis von 720 mg/Tag in weiteren Do-sisfindungsstudien einzusetzen, weil bei MS mit fortschreitenden Hirnläsionen irre-parable Schäden drohen. Aus den ICH-Guidelines lässt sich solches nicht entneh-men; vielmehr werden auch bei lebensbedrohlichen Krankheiten weitere Dosisfin-dungsstudien unter bestimmten Umständen empfohlen:
    „In bestimmten therapeutischen Bereichen haben sich unterschiedliche thera-peutische und forschungsbezogene Verhaltensweisen entwickelt, die sich auf die Art der typischerweise durchgeführten Studien auswirken. Parallele Dosis-Wirkungs-Studien mit Placebo oder placebokontrollierten Titrationsstudien (sehr wirksame Studien, die typischerweise bei Angina pectoris, Depressio-nen, Bluthochdruck usw. eingesetzt werden) wären bei der Untersuchung eini-ger Krankheiten, wie lebensbedrohlicher Infektionen oder potenziell heilbarer Tumore, nicht akzeptabel, zumindest wenn wirksame Behandlungen bekannt sind. Da in diesen therapeutischen Bereichen eine beträchtliche Toxizität in Kauf genommen werden könnte, werden in der Regel relativ hohe Dosen von Arzneimitteln gewählt, um schnell die größtmögliche positive Wirkung zu er-zielen. Dieser Ansatz kann zu Dosisempfehlungen führen, die einigen Patien-ten den potenziellen Nutzen eines Arzneimittels vorenthalten, indem sie eine Toxizität hervorrufen, die zum Abbruch der Therapie führt. Andererseits kann die Verwendung niedriger, möglicherweise unzureichend wirksamer Dosen oder der Titration bis zur gewünschten Wirkung inakzeptabel sein, da ein an-fänglicher Misserfolg in diesen Fällen eine für immer verlorene Chance auf Heilung darstellen kann.“ (S. 4, vierter Absatz, „Studies in Life-Threatening Diseases“)
    „Dennoch sollten die Entwickler von Arzneimitteln auch bei lebensbedrohli-chen Krankheiten stets die Vor- und Nachteile verschiedener Therapiesche-mata abwägen und überlegen, wie sie Dosis, Dosisintervalle und Dosiseskala-tionsstufen am besten wählen. Selbst bei Indikationen mit lebensbedrohlichen Krankheiten ist die höchste tolerierte Dosis oder die Dosis mit der größten Wir-kung auf einen Surrogatmarker nicht immer die optimale Dosis. Wird nur eine Einzeldosis untersucht, können die Blutkonzentrationsdaten, die aufgrund pharmakokinetischer Unterschiede fast immer eine erhebliche individuelle Va-riabilität aufweisen, im Nachhinein Hinweise auf mögliche Konzentrations-Wirkungs-Beziehungen liefern.“ (S. 4, fünfter Absatz)
    „Die Wahl des Studiendesigns und der Studienpopulation bei Dosis-Wirkungs-Studien hängt von der Entwicklungsphase, der zu untersuchenden therapeuti-schen Indikation und der Schwere der Erkrankung in der interessierenden Pa-tientengruppe ab. Beispielsweise kann das Fehlen einer geeigneten Rettungs-therapie für lebensbedrohliche oder schwere Erkrankungen mit irreversiblen Folgen die Durchführung von Studien mit Dosen unterhalb der maximal ver-träglichen Dosis aus ethischen Gründen ausschließen.“ (S. 5, vorletzter Ab-satz, „Study designs for assessing dose-response, general“)
    Hiernach sind selbst bei lebensbedrohlichen Krankheiten stets die Vor- und Nach-teile verschiedener Therapieschemata abzuwägen und die höchste tolerierte Dosis ist nicht immer die optimale Dosis. Die Grenze für die Durchführung weiterer Dosis-findungsstudien ist nach den ICH-Guidelines dort erreicht, wo Patienten mit le-bensbedrohlichen, aber potentiell heilbaren Krankheiten durch weitere Dosisfin-dungsstudien ggf. die zur Heilung notwendige Dosis vorenthalten bleibt. So liegt der Fall vorliegend aber nicht. Zum einen handelt es sich bei MS zwar um eine le-bensbedrohliche Krankheit, diese ist aber nicht heilbar, sondern durch Medikation nur in ihrem Verlauf modifizierbar. Zum anderen lagen mit „Schimrigk“ und „Kap-pos“ bereits Dosisfindungsstudien vor, die gezeigt haben, dass auch eine Dosie-rung unter 720 mg/Tag DMF eine gewisse Wirksamkeit aufweist. Vor diesem Hinter-grund wägt die Fachperson die mit einer weiteren Studie verbundenen Risiken ei-ner nicht ausreichenden Behandlung von MS-Patienten gegen den übergeordnete Nutzen einer solchen Studie ab, die im Falle eines erfolgreichen Nachweises der Wirksamkeit einer geringeren Dosis unzählige Patienten davon befreit hätte, über lange und unabsehbare Zeit eine deutlich zu hohe Wirkstoffdosis einzunehmen mit der zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgeräumten Gefahr größerer Nebenwirkun-gen und zumindest der unter therapeutischen Gesichtspunkten unnötig hohen Be-lastung bei der Verstoffwechselung des Wirkstoffs. Dabei war es dem Fachmann ohne weiteres möglich, ein vor dem Hintergrund der Studien von „Schimrigk“ und „Kappos“ geeignetes Studiendesign zu wählen, das die Risiken für die teilnehmen-den Patienten möglichst gering hält, wie dies auch die tatsächlich durchgeführten Phase III-Studien zeigen, in denen gerade eine Tagesdosis von 480 mg DMF unter-sucht wurde und die deren therapeutische Wirksamkeit belegt haben.
    Dabei kommt es nicht entscheidend auf die Frage an, ob sich aus den Folien von „Kappos“ eine (gegebenenfalls statistisch relevante) Dosisabhängigkeit der Neben-wirkungen entnehmen lässt oder eine Dosisabhängigkeit der Nebenwirkungen von DMF oder MMF zum Prioritätstag allgemeines Fachwissen war. Denn jedenfalls lässt sich den Folien von „Kappos“ entnehmen, dass die Tagesdosis von 720 mg/Tag mit Nebenwirkungen verbunden war (so auch die Entscheidung der Ein-spruchsabteilung zum Stammpatent, Anlage BBY 9 Rn. 8.7.1, vgl. auch Rn. 8.2). Da der Fachmann zumindest eine gewisse Erwartungshaltung haben durfte, mit einer geringeren Dosierung ggf. die Nebenwirkungen reduzieren zu können (vgl. auch: Schweizer Bundespatentgericht, Urt. v. 08.07.2025 – S2024_005, S. 40), hatte er aus den vorstehend genannten Gründen eine ausreichende Motivation, ausge-hend von „Kappos“ weitere Dosisfindungsstudien vorzunehmen. Ob er auch ande-re (medizinische) Möglichkeiten gehabt hätte, die Nebenwirkungen zu reduzieren, etwa durch eine alternative Formulierung oder eine zusätzliche, allein auf die Re-duktion der Nebenwirkungen abzielende Medikation, spielt an dieser Stelle keine Rolle. Der Fachmann wird einer Dosisreduzierung jedenfalls den Vorrang geben vor der Verabreichung weiterer, den Körper ggf. zusätzlich belastender Medikamen-te, so lange er eine gewisse Erwartungshaltung hat, mit einer Reduzierung der Wirkstoffdosis ggf. auch die Nebenwirkungen reduzieren zu können.
    Soweit Prof. Kappos dem in seinen Stellungnahmen entgegengetreten ist und die Auffassung vertreten hat, dass auf der Grundlage der Studie zu erwarten gewesen wäre, dass eine niedrigere Dosis als 720 mg/Tag zu einer geringeren Wirksamkeit führen würde, und dass der Fachmann keine Dosisoptimierung vornehmen würde, indem er die einzig wirksame Dosis nach der Phase II b-Studie senke, ist zwar ein-zuräumen, dass den Erklärungen von Prof. Kappos als einem der Leiter der in den Folien gewürdigten Studie Gewicht zukommt und ihnen grundsätzlich Anhalts-punkte für das fachmännische Verständnis zum Prioritätstag entnommen werden können. Indes handelt es sich bei den Erklärungen von Prof. Kappos nicht um un-parteiische Äußerungen, sondern um qualifizierten Sachvortrag der Verfügungs-klägerin, die naturgemäß ein Interesse an einer abweichenden Beurteilung der Studienergebnisse hat. Schon deswegen können die parteigutachterlichen Bemer-kungen für den Senat nicht denselben Stellenwert bei der Beurteilung des Rechts-bestands des Verfügungspatents besitzen, wie er der eingehend begründeten Ent-scheidung der persönlich und sachlich unabhängigen Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Stammpatent zukommt, deren Erwägungen im Übrigen auch von dem technisch fachkundig besetzten Schweizer Bundespatentgericht in sei-nem ausführlich und überzeugend begründeten Urteil vom 08.07.2025 bestätigt wurden (dort S. 30 ff. Rn. 42 ff.).
  25. (c)
    Soweit die Einspruchsabteilung demgegenüber in ihrer Entscheidung zum Verfü-gungspatent anführt, aus den in „Kappos“ beschriebenen Phase II-Dosisfindungsstudien habe sich ergeben, dass nur eine der getesteten Dosen, nämlich 720 mg/Tag, bei der Behandlung von RRMS wirksam sei, gab es – wie vor-stehend erörtert – keine Anhaltspunkte dafür, dass mit dieser Menge – zufällig – die geringste signifikant wirksame Dosierung von DMF gefunden war. Anlass, hieran zu zweifeln, hatte der Fachmann allein aufgrund des großen Abstandes der Dosis von 720 mg/Tag DMF zu der nächsten getesteten geringeren Dosis von 360 mg/Tag DMF.
    Dies gilt umso mehr unter Berücksichtigung der bereits vorstehend dargestellten Unstimmigkeiten der Studienergebnisse von „Kappos“ im Hinblick auf die getestete Tagesdosis von 360 mg/Tag, und die Studie von „Schimrigk“, die nahelegt, dass auch mit der Dosis von 360 mg/Tag DMF eine gewisse Wirksamkeit bei der Behand-lung von RRMS erzielt werden kann. „Schimrigk“ berichtet über eine klinische Stu-die an 10 Patienten mit RRMS mit dem Produkt „Fumaderm forte®“. Das Medika-ment wurde in einer Dosierung verabreicht, bei der Patienten zunächst über einen kurzen Zeitraum von 18 Wochen eine Tagesdosis von 720 mg/Tag DMF erhielten, dann über 4 Wochen unbehandelt blieben und schließlich über 48 Wochen mit ei-ner Dosis von 360 mg/Tag DMF behandelt wurden. Die Ergebnisse der Studie zei-gen, dass die Patienten während der ersten Behandlungsphase eine deutliche Verbesserung gegenüber dem Ausgangswert verzeichneten und während der Er-haltungsphase mit der niedrigeren Dosis eine weitere Verbesserung erzielt wurde (Anlage BBY 2 S. 607).
    Die Einspruchsabteilung führt in ihrer Entscheidung zum Verfügungspatent aus, dass in „Schimrigk“ zwar ein Behandlungseffekt für die DMF-Dosis von 360 mg/Tag in der zweiten Behandlungsphase nachgewiesen werde, allerdings erst nach ei-nem ersten Zeitraum, in dem die Patienten DMF in der hohen Tagesdosis von 720 mg/Tag erhalten hätten. Aus „Schimrigk“ gehe hervor, dass die in der zweiten Phase berichtete therapeutische Wirksamkeit auf die erste Phase zurückzuführen sei und nicht allein auf die (als Erhaltungsdosis gedachte) Behandlung in der zweiten Pha-se. Aufgrund dessen erfordere „Schimrigk“ eindeutig eine Dosis von 720 mg/Tag als Vorbehandlung. Da ein Verlust an Wirksamkeit unerwünscht gewesen sei, seien die Vorteile einer niedrigeren Dosis von 480 mg/Tag bei ähnlicher Wirksamkeit wie bei 720 mg/Tag zum Zeitpunkt der Priorität nicht absehbar gewesen (Anlage BBY 1 Rn. 3.5.13).
    Soweit dem die Vorstellung zugrunde liegen sollte, dass der Schutzbereich des Ver-fügungspatents keine Dosierungsschemata mit unterschiedlichen Dosierungen über bestimmte Zeiträume umfasse, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Das Verfügungspatent ist – worüber zwischen den Parteien kein Streit besteht – nicht auf die ausschließliche und stete Behandlung mit DMF in einer Tagesdosis von 480 mg beschränkt. Vielmehr werden auch Dosierungsschemata vom Schutzbe-reich umfasst, die vor oder nach der Behandlung mit 480 mg/Tag eine niedrigere oder höhere Dosierung vorsehen. Andernfalls wäre auch die angegriffene Ausfüh-rungsform nicht vom Schutzbereich des Verfügungspatents umfasst.
    Vor diesem Hintergrund aber belegt „Schimrigk“ eine gewisse therapeutische Wirk-samkeit einer Tagesdosis von 360 mg/Tag DMF bei der oralen Behandlung von RRMS. Soweit „Kappos“ demgegenüber nahelegt bzw. zeigt, dass diese Dosis aber nicht die gleiche therapeutische Wirksamkeit aufweist wie eine Tagesdosis von 720 mg/Tag DMF, hätte dies – aus den vorstehend erörterten Gründen – den Fachmann nicht von weiteren Dosisfindungsstudien abgehalten, sondern ihn vielmehr veran-lasst, den nicht getesteten Dosisbereich zwischen 360 mg/Tag und 720 mg/Tag wei-ter aufzuklären.
  26. bb)
    Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen kommt die Annahme eines hinrei-chend gesicherten Rechtsbestands aber jedenfalls im Hinblick auf die Praxis der deutschen Gerichte nicht in Betracht.
  27. (1)
    Nach der nationalen Praxis wird – anders als im Rahmen des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes des EPA – bereits in einem ersten Schritt eine objektive Aufgabe formu-liert, die dazu dient, einen konkreten Stand der Technik aufzufinden, der einen ge-rechtfertigten „Ausgangspunkt“ für die Bemühungen des Fachmanns zur Lösung der Aufgabe bildet. Die Bestimmung des technischen Problems (der Aufgabe) dient dazu, den Ausgangspunkt der fachmännischen Bemühungen um eine Bereiche-rung des Stands der Technik ohne Kenntnis der Erfindung zu lokalisieren. Welche Anregungen dem Fachmann durch den Stand der Technik gegeben wurden, und ob der Gegenstand des Streitpatents geeignet ist, das der Erfindung zugrundelie-gende technische Problem zu lösen, ist für dessen Bestimmung unerheblich, und erst bei der anschließenden und davon zu trennenden Prüfung der Schutzfähigkeit zu bewerten (vgl. BGH, GRUR 2015, 356 Rn. 9 – Repaglinid; GRUR 2015, 352 Rn. 16 f. – Quetiapin; GRUR 2016, 921 Rn. 14 – Pemetrexed; GRUR 2022, 67 Rn. 10 – Stereolithographiemaschine).
    Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs haben Vorteile, die sich erst durch die Erfindung als erreichbar herausgestellt haben, bei der Bestimmung des der Erfindung zugrundeliegenden Problems ebenso außer Betracht zu bleiben wie Elemente, die zur technischen Lösung gehören (BGH, GRUR 2015, 356 Rn. 9 – Repaglinid; GRUR 2020, 603 Rn. 12 – Tadalafil). Das der Erfindung zugrundelie-gende technische Problem ist vielmehr so allgemein und neutral zu formulieren, dass sich die Frage, welche Anregungen der Fachmann durch den Stand der Technik erhielt, allein bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit stellt (BGH, GRUR 2015, 352 Rn. 17 – Quetiapin; GRUR 2020, 603 Rn. 12 – Tadalafil; GRUR 2024, 1432 Rn. 13 – Mirabegron). Die Aufgabe stellt somit lediglich den Ausgangs-punkt für die fachmännischen Bemühungen zu einer Bereicherung des Stands der Technik ohne Kenntnis der Erfindung dar, von dem aus sodann die hieran erst an-schließende und davon zu trennende Prüfung auf Patentfähigkeit, insbesondere auf erfinderische Tätigkeit, zu erfolgen hat (vgl. BGH, GRUR 2015, 356 Rn. 9 – Re-paglinid; GRUR 2015, 352 Rn. 16 f. – Quetiapin).
    Zwar bestimmt sich das technische Problem (die Aufgabe) danach, was die Erfin-dung objektiv leistet (vgl. BGH, GRUR 2010, 602 Rn. 27 – Gelenkanordnung; GRUR 2011, 607 Rn. 12 – Kosmetisches Sonnenschutzmittel III; GRUR 2012, 1130 Rn. 9 – Leflunomid; GRUR 2012, 1123 Rn. 22 – Palettenbehälter III; GRUR 2015, 352 Rn. 11 – Quetiapin; GRUR 2016, 921 Rn. 14 – Pemetrexed; GRUR 2018, 390 Rn. 32 – Wärmeenergieverwaltung). Maßgebend ist insoweit jedoch, was die im Streitpatent beschriebene Erfindung aus Sicht des Fachmanns in der Zeit vor Vollendung der Erfindung leistet (BPatG, Urt. v. 27.06.2023 – 3 Ni 13/22, GRUR-RS 2023, 43607 Rn. 21 – Fingolimod, m.w.N.). Mit einem Merkmal verbundene besondere Vorteile kön-nen nur dann zur Begründung einer erfinderischen Tätigkeit herangezogen wer-den, wenn sie in den Anmeldeunterlagen (BPatG, Urt. v. 05.02.2019 – 4 Ni 47/17, BeckRS 2019, 9123 Rn. 105 – Verfahren zum Herstellen eines Zahnmodells; BPatG, GRUR 2019, 1176 Rn. 104 – Verschleißschutzschicht) bzw. der Patent-schrift (BGH, GRUR 2023, 1259 Rn. 76 – Schlossgehäuse) offenbart oder für den Fachmann erkennbar sind (BGH, Urt. v. 27.11.2018 – X ZR 41/17, BeckRS 2018, 40825 Rn. 46; Urt. v. 28.01.2021 – X ZR 178/18, GRUR-RS 2021, 4292 Rn. 135 – Hadamardbasierte Sequenzen; GRUR 2023, 1259 Rn. 76 – Schlossgehäuse). Fehlt es hieran, kann ein Vorteil aber auch bei der Formulierung der Aufgabe nicht be-rücksichtigt werden, wobei Vorteile, die sich erst durch die Erfindung als erreichbar herausgestellt haben, bei der Bestimmung des der Erfindung zugrundeliegenden Problems – wie ausgeführt – nach der nationalen Praxis ohnehin außer Betracht zu bleiben haben.
    Nach diesen Grundsätzen kann die Aufgabe ausgehend von „Kappos“ nur in der Bereitstellung einer alternativen oralen Behandlung von RRMS mit DMF oder MMF gesehen werden, da weder in der Anmeldung in ihrer eingereichten Fassung noch in der Patentschrift an irgendeiner Stelle offenbart ist, dass eine Tagesdosis von 480 mg DMF eine ähnliche therapeutische Wirkung haben könnte wie eine Tages-dosis von 720 mg DMF. Dies ist der Anmeldung bzw. Patentschrift auch nicht mit-telbar zu entnehmen oder sonst wie für den Fachmann erkennbar.
  28. (2)
    Zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist nach der nationalen Praxis zu prü-fen, ob die Fachperson ausgehend vom Stand der Technik eine Veranlassung und eine angemessene Erwartungshaltung hatte, zu dem erfindungsgemäßen Gegen-stand zu gelangen (vgl. BGH, GRUR 2023, 39 Rn. 88, 92 – Leuchtdiode; GRUR 2019, 1032 – Fulvestrant; GRUR 2020, 1178 Rn. 47 ff., 85 ff. – Pemetrexed II). Die Anforderungen an eine angemessene Erfolgserwartung lassen sich dabei nicht allgemeingültig formulieren, sondern sind jeweils im Einzelfall unter Berücksichti-gung des in Rede stehenden Fachgebiets, der Größe des Anreizes für den Fach-mann, des erforderlichen Aufwands für das Beschreiten und Verfolgen eines be-stimmten Ansatzes und der gegebenenfalls in Betracht kommenden Alternativen sowie ihrer jeweiligen Vor- und Nachteile zu bestimmen (BGH, GRUR 2016, 1027 Rn. 22 – Zöliakiediagnoseverfahren; GRUR 2012, 803 Rn. 46 – Calcipotriol-Monohydrat; GRUR 2010, 123 Rn. 38 ff. – Escitalopram; GRUR 2019, 1032 Rn. 31 – Fulvestrant; GRUR 2020, 1178 Rn. 108 – Pemetrexed II; GRUR 2024, 1432 Rn. 83 – Mirabegron). Hatte der Fachmann am Prioritätstag Anlass, zu irgendeinem, gegebe-nenfalls auch späteren Zeitpunkt vollständige Studien zur Dosis-Wirkungs-Beziehung eines bestimmten Wirkstoffs anzustellen, ist eine Dosierung, die sich aufgrund einer solchen Studie als vorteilhaft erweist, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs durch den Stand der Technik nahegelegt.
    In der von den Parteien in diesem Rechtsstreit diskutierten Entscheidung „Tadalafil“ (GRUR 2020, 603) hat der Bundesgerichtshof festgestellt, dass es bei der Entwick-lung einer Formulierung für einen Humanarzneimittelwirkstoff in der Regel nicht maßgeblich sei, ob der Fachmann erwarten könne, ein für eine klinische Studie geeignetes Ergebnis zu finden. Vielmehr sei entscheidend, ob der Fachmann am Prioritätstag Anlass hatte, zu irgendeinem, ggf. auch späteren Zeitpunkt vollständi-ge Studien zur Dosis-Wirkungs-Beziehung eines bestimmten Wirkstoffs anzustel-len; eine Dosierung, die sich aufgrund einer solchen Studie als vorteilhaft erweise, sei durch den Stand der Technik nahegelegt (GRUR 2020, 603 Rn. 64 ff.; vgl. auch den Leitsatz in der parallelen Entscheidung des Supreme Court v. 27.03.2019 in GRUR Int. 2019, 662: „Ein Patentanspruch auf Dosierung beruht nicht auf erfinde-rischer Tätigkeit, wenn im Rahmen klinischer und präklinischer Studien ein qualifi-ziertes Expertenteam die beanspruchte Dosierung routinemäßig ausprobieren wür-de, selbst dann, wenn die vorherige Erfolgserwartung relativ gering war.“).
    Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine technische Lehre, die eine von einem bestimmten Ausgangspunkt aus eher nicht zu erwartende Wirkung zeitigt, dem Fachmann daher dennoch nahegelegt, wenn sie sich aus einer ande-ren Perspektive als naheliegende Lösung ergibt. Die überraschende Wirkung ist in solchen Konstellationen als bloßer Bonuseffekt anzusehen, der nicht zur Bejahung der erfinderischen Tätigkeit führen kann (st. Rspr., vgl. nur BGH, GRUR 2020, 603 Rn. 74 – Tadalafil).
    In der Entscheidung „Dexmedetomidin“ (Urt. v. 17.09.2019 – X ZR 71/17, BeckRS 2019, 28185) hat der Bundesgerichtshof daher die erfinderische Tätigkeit im Hin-blick auf ein Medikament verneint, welches unerwartet und vorteilhaft eine wirksa-me Sedierung mit einer besonders ausgeprägten Ansprechbarkeit und Aufrechter-haltung der Orientiertheit des Patienten verbindet. Zur Begründung hat der Bun-desgerichtshof insbesondere ausgeführt, für den Fachmann, der Dexmedetomidin als naheliegende Auswahl aus den ihm zur Verfügung stehenden Sedierungsmit-teln heranzogen habe, stelle dessen besondere Sedierungsqualität einen Bonus-Effekt dar, der nicht vorhersehbar gewesen sein mag, gleichwohl aber das Ergebnis fachmännischen Handelns gewesen sei (BeckRS 2019, 28185 LS 2 u. Rn. 50-68).
    Darüber hinaus können – wie bereits ausgeführt – besondere Vorteile nur dann zur Begründung einer erfinderischen Tätigkeit herangezogen werden, wenn sie in den Anmeldeunterlagen bzw. der Patentschrift offenbart oder für den Fachmann bereits aufgrund seines Fachwissens erkennbar sind (BGH, Urt. v. 27.11.2018 – X ZR 41/17, BeckRS 2018, 40825 Rn. 46; Urt. v. 28.01.2021 – X ZR 178/18, GRUR-RS 2021, 4292 Rn. 135 – Hadamardbasierte Sequenzen; GRUR 2023, 1259 Rn. 76 – Schlossgehäuse; BPatG, Urt. v. 21.11.2023 – 3 Ni 16/22 (EP), GRUR-RS 2023, 45095 Rn. 28 – Gaszufuhr; Urt. v. 05.02.2019 – 4 Ni 47/17, BeckRS 2019, 9123 Rn. 103 – Verfahren zum Herstellen eines Zahnmodells; GRUR 2019, 1176 Rn. 104 – Verschleißschutzschicht; Schulte/Moufang, PatG, 12. Aufl., § 34 Rn. 424; En-gels/Ackermann, GRUR 2024, 729, 733). Nur dann kann die technische Wirkung als erfindungsbegründend herangezogen werden, insbesondere auch nachträglich als Argument für eine gezielte, erfinderische und nicht nur eine beliebige Auswahl z.B. bestimmter Parameter reklamiert werden. Ein Nachbringen vorteilhafter, aber ursprünglich nicht offenbarter oder „erkennbarer“ Effekte scheidet danach zur Be-gründung der erfinderischen Tätigkeit aus (Engels/Ackermann, GRUR 2024, 729, 733 m.w.N.).
    Es wurde oben bereits im Einzelnen dargestellt, dass der Fachmann ausgehend von „Kappos“ eine ausreichende Motivation hatte, weitere Dosisfindungsstudien durchzuführen und dabei insbesondere auch die therapeutische Wirksamkeit der beanspruchten Tagesdosis von 480 mg DMF zu untersuchen. Auf dieser Grundlage wäre er in naheliegender Weise zu der Dosierung von 480 mg/Tag gelangt.
    Der Umstand, dass eine niedrigere Dosis von 480 mg/Tag DMF oder MMF bei der Behandlung von RRMS ähnlich wirksam ist wie eine Dosis von 720 mg/Tag DMF oder MMF, gereicht nicht zur Patentfähigkeit des Gegenstands des Verfügungspa-tents. Denn dabei handelt es sich lediglich um einen zusätzlichen, unerwarteten und überraschenden Effekt, der nach der vorstehend erörterten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Annahme einer erfinderischen Leistung für sich ge-nommen nicht rechtfertigen kann (vgl. insbesondere: BGH, GRUR 2003, 317, 320 – Kosmetisches Sonnenschutzmittel I; GRUR 2010, 123 Rn. 41 – Escitalopram; GRUR 2015, 356 Rn. 44 – Repaglinid; Urt. v. 17.09.2019 – X ZR 71/17, BeckRS 2019, 28185 Rn. 68 – Dexmedetomidin; GRUR 2020, 603 Rn. 74 – Tadalafil).
  29. (3)
    Dass im vorliegenden Fall noch keine deutsche Nichtigkeitsklage anhängig ist, sondern „lediglich“ ein Einspruchsverfahren vor dem EPA, und eine Nichtigkeitsla-ge gegen den deutschen Teil des Verfügungspatents derzeit auch nicht zulässig wäre (§ 81 Abs. 1 S. 2 PatG), steht der Berücksichtigung der nationalen Praxis nicht entgegen.
    Der Senat hat erst kürzlich in anderer Sache betreffend die Aussetzung (§ 148 ZPO) eines Patentverletzungsrechtsstreits darauf hingewiesen, dass das Verlet-zungsgericht nicht gehindert ist, im Rahmen des ihm in § 148 ZPO eingeräumten Ermessens auch die Besonderheiten der in Rede stehenden Verfahrenskonstellati-on zu berücksichtigen (vgl. Protokollhinweis v. 06.02.2025 – I-2 U 10/24). Zwar ist bei der Entscheidung über die Aussetzung in der Regel von ausschlaggebender Bedeutung, welche Erfolgsaussicht das Verletzungsgericht dem anhängigen Rechtsbestandsangriff beimisst. Bei uneingeschränkter Anlegung dieses Maßstabs käme eine Aussetzung aber etwa dann nicht in Betrachtung, wenn einem Angriff gegen den Rechtsbestand des Patents Erfolgsaussichten nur im Hinblick auf eine Entgegenhaltung beigemessen werden können, die im Einspruchsverfahren vor dem Europäischen Patentamt nicht berücksichtigt werden darf. Das Verletzungsge-richt ist in einem solchen Fall nicht gehindert, im Rahmen des ihm in § 148 ZPO eingeräumten Ermessens auch die Besonderheiten der in Rede stehenden Verfah-renskonstellation zu berücksichtigen. Es kann und muss von der Möglichkeit, das Verfahren im Hinblick auf ein anhängiges Einspruchsverfahren auszusetzen, des-halb auch dann Gebrauch machen, wenn es damit rechnet, dass das Einspruchs-verfahren erfolglos bleiben wird, eine im Anschluss daran erhobene Nichtigkeits-klage wegen einer Entgegenhaltung, die nur in diesem Verfahren berücksichtigt werden darf, aber hinreichende Erfolgsaussicht hat (BGH, GRUR 2011, 848 Rn. 20 ff. – Mautberechnung; Senat, Urt. v. 06.12.2012 – I-2 U 46/12, BeckRS 2013, 13744; GRUR-RR 2022, 153 Rn. 8 – Aussetzungsmaßstab; BeckOK Patent-recht/Wuttke/Voß, Vor §§ 139–142b PatG Rn. 185; Kühnen, Handbuch der Patent-verletzung, 16. Aufl. 2024, Kap. E Rn. 958). Diese Grundsätze finden auch dann Anwendung, wenn feststeht, dass die Spruchpraxis zu bestimmten Widerrufs- bzw. Nichtigkeitsgründen vor dem Europäischen Patentamt und im nationalen Nichtig-keitsverfahren divergiert, so dass die Präsentation einer bestimmten Argumentation im Einspruchsverfahren aus Rechtsgründen aussichtslos ist, diese im deutschen Nichtigkeitsverfahren indes offensichtlich zum Erfolg führen wird (vgl. Senat, GRUR-RR 2022, 153 Rn. 9 f. – Aussetzungsmaßstab; Kühnen, Handbuch der Pa-tentverletzung, 16. Aufl. 2024, Kap. E Rn. 959).
    Im Rahmen eines Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Verfügung scheidet zwar eine Aussetzung der Verhandlung aus. Wenn der Patentinhaber mittels Klage keine Titulierung eines Unterlassungsanspruchs erreichen kann, kann aber auch kein überwiegendes Interesse an einem dahingehenden vorläufigen sichernden Ausspruch gegeben sein. Da infolge des Eilcharakters eine Aussetzung des Verfü-gungsverfahrens nicht in Betracht kommt, ist in dieser Situation der Antrag auf Er-lass einer einstweiligen Verfügung zurückzuweisen (vgl. Senat, Urt. v. 06.12.2012 – 2 U 46/12, BeckRS 2013, 13744 m.w.N.).
  30. c)
    Da der Senat nach den vorstehenden Ausführungen eine erfinderische Tätigkeit im Hinblick auf eine Tagesdosis von 480 mg/Tag DMF nicht erkennen kann, kommt es auf die Frage, ob Patentanspruch 1 ausführbar offenbart (Art. 83 EPÜ) und/oder gegenüber der ursprünglichen Offenbarung unzulässig erweitert ist (Art. 123 Abs. 2 EPÜ), nicht mehr an.
  31. III.
    Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO.
    Eines Ausspruches zur vorläufigen Vollstreckbarkeit bedurfte es nicht, weil das vor-liegende Urteil als zweitinstanzliche Entscheidung im Verfahren der einstweiligen Verfügung keinem Rechtsmittel mehr unterliegt (§ 542 Abs. 2 S. 1 ZPO) und ohne besonderen Ausspruch endgültig vollstreckbar ist.

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