I-2 U 32/25 – Pharmazeutische Zusammensetzung zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose IV

Düsseldorfer Entscheidungen Nr. 3427

Oberlandesgericht Düsseldorf

Urteil vom 24. Juli 2025, I-2 U 32/25

Vorinstanz: 4b O 70/24

  1. I. Auf die Berufung der Verfügungsbeklagten wird das am 30.01.2025 verkündete Urteil der 4b Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf abgeändert.
    Die einstweilige Verfügung vom 28.11.2024 wird aufgehoben und der auf ihren Erlass gerichtete Antrag zurückgewiesen.
  2. II. Die Verfügungsklägerin hat die Kosten des Verfahrens erster und zweiter Instanz zu tragen.
  3. III. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 3.000.000,- € festgesetzt.
  4. Gründe:
  5. A.
    Die Verfügungsklägerin macht als eingetragene Inhaberin des deutschen Teils des europäischen Patents 2 653 XXA (vorgelegt als Anlage rop 4, in deutscher Übersetzung als Anlage rop 4a, nachfolgend: Verfügungspatent) wegen dessen Verletzung durch das von der Verfügungsbeklagten, einem Generikaunternehmen, vertriebene Arzneimittel „Dimethylfumarat XY“ (angegriffene Ausführungsform) im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes einen Unterlassungsanspruch geltend.
    Das Verfügungspatent ist aus einer Teilanmeldung zu der dem europäischen Patent 2 137 XXB (nachfolgend: Stammpatent) zugrundeliegenden Anmeldung (WO 2008/097XXC; nachfolgend: Anmeldung) hervorgegangen und nimmt deren Anmeldetag vom 07.02.2008 sowie die Priorität der US 888XXD P vom 08.02.2007 in Anspruch. Der Hinweis auf die Erteilung des Verfügungspatents wurde am 20.07.2022 veröffentlicht. Das Verfügungspatent ist in Kraft.
    Gegen die Erteilung des Verfügungspatents wurde von verschiedenen Seiten Einspruch beim Europäischen Patentamt (EPA) eingelegt. Nachdem die Einspruchsabteilung des EPA in ihrem vorläufigen Hinweis vom 06.11.2023 (Anlage rop 1c) zunächst die Auffassung vertreten hatte, dass das Verfügungspatent weder in der erteilten Fassung noch in der Fassung eines der anhängigen Hilfsanträge schutzfähig sei, hat sie das Verfügungspatent durch Entscheidung vom 11.12.2024 in der Fassung des Hilfsantrags 12 aufrechterhalten (Anlage AG 8, in deutscher Übersetzung vorgelegt als Anlage AG 8a). Gegen diese Entscheidung ist Beschwerde bei der Technischen Beschwerdekammer eingelegt worden (Anlage AG 9), über die noch nicht entschieden ist.
    Das in englischer Sprache erteilte Verfügungspatent betrifft Zusammensetzungen und deren Verwendung zur Behandlung von multipler Sklerose. Die hier streitgegenständlichen Ansprüche 1 und 5 des Verfügungspatents lauten in ihrer im Einspruchsverfahren erlangten Fassung in deutscher Übersetzung wie folgt (die Änderungen gegenüber der erteilten Fassung sind durch Durch-/Unterstreichung gekennzeichnet):
    1. Pharmazeutische Zusammensetzung zur Verwendung bei der Behandlung von schubförmig remittierender Multipler Sklerose (RRMS), wobei die Zusammensetzung Folgendes umfasst:
    (a) Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester und
    (b) einen oder mehrere pharmazeutisch unbedenkliche Arzneimittelträger,
    wobei die Zusammensetzung einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose RRMS oral zu verabreichen ist und wobei die zu verabreichende Dosis Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester 480 mg pro Tag beträgt.
    5. Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester zur Verwendung bei der Behandlung von schubförmig remittierender Multipler Sklerose (RRMS), wobei der Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose RRMS mit einer Dosis von 480 mg pro Tag oral zu verabreichen ist.
    Das Stammpatent wurde im Rahmen eines von zehn Einsprechenden – darunter die Verfügungsbeklagte – geführten Einspruchsverfahrens mit Entscheidung vom 13.06.2016 von der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts widerrufen, weil es auch mit Blick auf die zuletzt gestellten Hilfsanträge an einer erfinderischen Tätigkeit fehle (Anlage AG 3, in deutscher Übersetzung Anlage AG 3a). Die dagegen gerichtete Beschwerde wies die Technische Beschwerdekammer mit Entscheidung vom 20.01.2022 zurück (Anlage AG 10, in deutscher Übersetzung Anlage AG 10a), weil der Gegenstand der Hilfsanträge über den Inhalt der Anmeldung in der eingereichten Fassung hinausgehe.
    Die Ansprüche 1 und 7 des Stammpatents in seiner erteilten Fassung lauten in deutscher Übersetzung wie folgt, wobei Abweichungen gegenüber dem Wortlaut der Ansprüche 1 und 5 des Verfügungspatents unterstrichen sind:
    1. Pharmazeutische Zusammensetzung zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei die Zusammensetzung aus Folgendem besteht:
    (a) Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester und
    (b) einen oder mehrere pharmazeutisch unbedenkliche Arzneimittelträger,
    wobei die Zusammensetzung einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose oral zu verabreichen ist und wobei die zu verabreichende Dosis Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester 480 mg pro Tag beträgt.
    7. Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester zur Verwendung bei der Behandlung Multipler Sklerose, wobei der Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester der einzige zu verabreichende, neuroprotektive Bestandteil ist, wobei der Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei Multipler Sklerose mit einer Dosis von 480 mg pro Tag oral zu verabreichen ist.
    Bei der Verfügungsklägerin und den mit ihr verbundenen Unternehmen handelt es sich um einen Biotechnologiekonzern. Zu seinen Arzneimitteln gehört das mit einer Tagesdosis von 480 mg/Tag oral zu verabreichende Medikament XZ zur Behandlung schubförmig remittierender Multipler Sklerose (RRMS). In der Bundesrepublik Deutschland wird XZ durch die zum Konzern der Verfügungsklägerin gehörende Y GmbH vertrieben.
    Bei der Verfügungsbeklagten handelt es sich um ein Generikaunternehmen, das ein Generikum von XZ, „Dimethylfumarat XY“ (angegriffene Ausführungsform), unter den Marktzulassungen Nr. xxx und xxx erstmals zum 15.06.2022 als verkehrsfähig in der IFA-Datenbank (Lauer-Taxe) listete und anschließend in den Verkehr brachte. Die angegriffene Ausführungsform wurde in magensaftresistenten Hartkapseln mit einem Inhalt von 120 mg und 240 mg Dimethylfumarat (DMF) zur Behandlung der RRMS vertrieben. Ausweislich der Gebrauchsinformation (Anlage rop 3) wird Patienten empfohlen, das Medikament mit einer Anfangsdosis von 2×120 mg (240 mg/Tag) und anschließend einer regulären Dosis von 2×240 mg (480 mg/Tag) einzunehmen. Seit dem 01.06.2023 wird die angegriffene Ausführungsform in der IFA-Datenbank als „nicht verkehrsfähig“ gelistet.
    Einen gegen das Angebot und den Vertrieb der angegriffenen Ausführungsform gerichteten Antrag der Verfügungsklägerin auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vom 21.07.2022 hat das Landgericht mit Urteil vom 22.09.2022 zurückgewiesen (Az.: 4b O 50/22, GRUR-RS 2022, 26959 – MS-Therapie III, vorgelegt als Anlage AG 1). Die gegen diese Entscheidung gerichtete Berufung hat der Senat mit Urteil vom 23.02.2023 zurückgewiesen (Az.: I-2 U 116/22, GRUR-RS 2023, 5166 – Fumarsäureester; vorgelegt als Anlage AG 2).
    Dem Antrag der Verfügungsklägerin auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vom 27.11.2024 hat das Landgericht am 28.11.2024 stattgegeben und die einstweilige Verfügung durch Urteil vom 30.01.2025 bestätigt (nachfolgend: LGU). Es hat angenommen, dass der Rechtsbestand des Verfügungspatents durch die Entscheidung der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts vom 11.12.2024 (nunmehr) hinreichend gesichert sei. Die Entscheidung der Einspruchsabteilung zum Stammpatent stehe zwar im Widerspruch zur Einspruchsentscheidung betreffend das Verfügungspatent. Die Einspruchsabteilung, die das Stammpatent erstinstanzlich widerrufen habe, werde aber nicht über das Verfügungspatent entscheiden. Zur Entscheidung über das Verfügungspatent seien vielmehr im weiteren Instanzenzug nur die Technische Beschwerdekammer des EPA und das zeitlich nachgeordnete Bundespatentgericht und der Bundesgerichtshof berufen. Die Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer zum Stammpatent stehe nicht im Widerspruch zu der erstinstanzlichen Entscheidung der Einspruchsabteilung über das Verfügungspatent. Letztere sei jedenfalls vertretbar, weshalb von einem hinreichend gesicherten Rechtsbestand auszugehen sei.
    Hiergegen wendet sich die Verfügungsbeklagte mit ihrer Berufung.
    Von einer weitergehenden Darstellung des Sachverhaltes wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1, 542 Abs. 2 S. 1 ZPO abgesehen.
  6. B.
    Die zulässige Berufung der Verfügungsbeklagten hat Erfolg. Richtigerweise hätte das Landgericht dem Antrag der Verfügungsklägerin auf Erlass einer einstweiligen Verfügung nicht stattgeben dürfen, da der Rechtsbestand des Verfügungspatents nicht in hinreichendem Maße gesichert ist.
  7. I.
    Das Verfügungspatent betrifft Zusammensetzungen und deren Verwendung zur Behandlung von Multipler Sklerose.
    Multiple Sklerose (MS) ist, wie das Verfügungspatent in seiner einleitenden Beschreibung schildert (Anlage rop 4 Abs. [0002]; nachfolgende Bezugnahmen beziehen sich – soweit nicht anders angegeben – auf die Verfügungspatentschrift), eine Autoimmunerkrankung, bei der die Autoimmunaktivität gegen Antigene des Zentralen Nervensystems (ZNS) gerichtet ist. Entzündungen in Teilen des ZNS führen zum Verlust der Myelinscheide um die Nervenfasern (Demyelinisierung), zum Verlust von Nervenfasern und schließlich zum Tod von Neuronen, Oligodenrozyten und Gliazellen. Bei MS handelt es sich um eine chronische, fortschreitende, behindernde Krankheit, an der weltweit schätzungsweise 2,5 Mio. Menschen leiden. Die Diagnose wird in der Regel im Alter zwischen 20 und 40 Jahren gestellt, wobei auch ein früherer Beginn möglich ist. MS ist nicht vererbbar, eine genetische Anfälligkeit spielt aber bei der Entwicklung eine Rolle. Die schubförmig remittierende MS (RRMS) äußert sich durch wiederkehrende Schübe mit fokalen oder multifokalen neurologischen Störungen. Die Schübe können scheinbar zufällig über viele Jahre hinweg auftreten, remittieren und wiederkehren. Wenn eine Attacke auf die nächste folgt, kommt es, weil die Remission oft unvollständig ist, zu einer schrittweisen Verschlechterung mit zunehmenden permanenten neurologischen Defiziten (Abs. [0003]).
    Verschiedene immuntherapeutische Medikamente können, so das Verfügungspatent weiter (Abs. [0004]), MS-Patienten Linderung verschaffen. Es ist allerdings keines dieser Medikamente in der Lage, das Fortschreiten der Krankheit aufzuhalten, und einige können schwerwiegende unerwünschte Nebenwirkungen verursachen. Die meisten der derzeitigen Therapien zielen auf die Verringerung der Entzündung und die Unterdrückung oder Modulation des Immunsystems. Die verfügbaren Behandlungen (Stand 2006) verringern die Entzündung und die Zahl der neuen Schübe, nicht alle haben jedoch Auswirkungen auf das Fortschreiten der Krankheit. Einige klinische Studien haben gezeigt, dass die Unterdrückung von Entzündungen bei chronischer MS nur selten die Akkumulation von Behinderungen durch ein anhaltendes Fortschreiten der Krankheit begrenzt. Dies deutet darauf hin, dass neuronale Schäden und Entzündungen unabhängige Pathologien sind. Einige der wichtigsten Ziele für die Behandlung von MS sind die Förderung von Remyelinisierung des ZNS als Reparaturmechanismus und die Verhinderung von axonalem Verlust und neuronalem Absterben.
    Sodann erläutert das Verfügungspatent (Abs. [0005]), dass „Phase-2-Enzyme“ in Säugetierzellen als Schutzmechanismus gegen Sauerstoff-/Stickstoffspezies (ROS/RNS), Elektrophile und Xenobiotika dienen. Die Expression dieser normalerweise nicht in ihrem maximalen Umfang exprimierten Enzyme kann durch eine Vielzahl natürlicher und synthetischer Stoffe induziert werden. Der Nuklearfaktor E2-verwandte Faktor 2 (Nrf2) ist ein Transkriptionsfaktor, der für die Induktion einer Vielzahl wichtiger oxidationshemmender und entgiftender Enzyme verantwortlich ist.
    ROS/RNS sind am schädlichsten im Gehirn und im neuronalen Gewebe, wo sie post-mitotische (d.h. sich nicht teilende) Zellen wie Gliazellen, Oligodendozyten und Neuronen – die besonders empfindlich auf freie Radikale reagieren – angreifen, was zu neuronalen Schäden führt. Das Verfügungspatent schildert verschiedene Beobachtungen und Erkenntnisse aus dem Stand der Technik. Diese deuten unter anderem darauf hin, dass der Nrf2-Signalweg bei neurodegenerativen und neuroinflammatorischen Erkrankungen als körpereigener Schutzmechanismus aktiviert werden könnte. Es wurde zudem berichtet, dass die induzierte Aktivierung von Nrf2-abhängigen Genen durch bestimmte Cyclopenanon-basierte Verbindungen (NEPP) den toxischen Wirkungen der Stoffwechselhemmung der ROS/RNS-Produktion im Gehirn entgegenwirkt und die Neuronen in vitro und in vivo vor dem Tod schützt (Abs. [0006]).
    Neue Erkenntnisse deuten ferner darauf hin, dass die neuroprotektiven Wirkungen von Verbindungen in natürlichen pflanzlichen Stoffen, die ursprünglich auf ihre antioxidativen Eigenschaften zurückgeführt wurden, durch die Aktivierung zellulärer Stressreaktionswege, einschließlich des Nrf2-Signalwegs, ausgeübt werden, was zu einer Hochregulierung von neuroprotektiven Genen führt. Der genaue Wirkmechanismus dieser Verbindungen wird allerdings weiterhin nur unzureichend verstanden (Abs. [0007]). Bis heute wurden mehr als zehn verschiedene chemische Klassen von Induktoren des Nrf2-Signalwegs identifiziert (Abs. [0008]).
    Das Verfügungspatent würdigt eine Veröffentlichung mit dem Titel „BG00012, a novel oral fumarate is effective in patients with relapsing remitting multiple sclerosis“ von „Kappos“ et al., welche über die Ergebnisse einer Phase II b-Studie berichtet, in der die Wirksamkeit von drei Dosierungen (120 mg/Tag, 360 mg/Tag, 720 mg/Tag) diskutiert wurde. Es wurde, so das Verfügungspatent, festgestellt, dass BG00012 (= DMF) in einer Dosierung von 720 mg/Tag (240 mg tid) die Aktivität der im MRT nachweisbaren Hirnläsionen bei RRMS-Patienten signifikant reduziert (Abs. [0009]).
    Eine Aufgabenstellung benennt das Verfügungspatent nicht ausdrücklich. Den Absätzen [0001] und [0010] lässt sich jedoch entnehmen, dass das Verfügungspatent diese in der Bereitstellung einer Behandlung von MS (nunmehr: RRMS) sieht (vgl. auch die Einspruchsentscheidung zum Stammpatent v. 13.06.2016, Anlage AG 3 Rn. 8.1). Ob es sich hierbei um eine verbesserte oder nur eine weitere Behandlungsmethode handelt, wird noch näher zu erörtern sein.
    Zur Lösung der Problemstellung sieht Patentanspruch 1 in seiner im Einspruchsverfahren erlangten Fassung eine Kombination der folgenden Merkmale vor:
    1. Pharmazeutische Zusammensetzung zur Verwendung bei der Behandlung von schubförmig remittierender Multipler Sklerose (RRMS), die Folgendes umfasst:
    1.1. Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester und
    1.2. einen oder mehrere pharmazeutisch unbedenkliche Arzneimittelträger.
    2. Die Zusammensetzung ist einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei schubförmig remittierender Multipler Sklerose (RRMS) oral zu verabreichen.
    3. Die zu verabreichende Dosis Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester beträgt 480 mg pro Tag.
    Patentanspruch 5 lässt sich in die folgenden Merkmale gliedern:
    1. Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester zur Verwendung bei der Behandlung schubförmig remittierender Multipler Sklerose (RRMS).
    2. Der Fumarsäuredimethylester oder Fumarsäuremonomethylester ist einem Patienten mit Behandlungsbedarf bei schubförmig remittierender Multipler Sklerose (RRMS) mit einer Dosis von 480 mg pro Tag oral zu verabreichen.
    Eine Zusammensetzung nach Anspruch 1 des Verfügungspatents beinhaltet somit neben einem pharmazeutisch unbedenklichen Arzneimittelträger entweder Fumarsäuredimethylester (DMF) oder Fumarsäuremonomethylester (MMF). Sie ist, wie der Fachmann dem Wortlaut „Zusammensetzung, … die umfasst“ – in der nach Art. 70 Abs. 1 EPÜ maßgeblichen englischen Verfahrenssprache: „composition comprising“ – entnimmt, aber nicht auf DMF oder MMF als alleinigen Wirkstoff beschränkt, sondern kann daneben auch weitere Wirkstoffe enthalten. Anspruch 5 des Verfügungspatents beansprucht DMF oder MMF zur Verwendung bei der Behandlung von MS, wobei es sich mangels einer einschränkenden Vorgabe ebenfalls nicht um den einzigen Wirkstoff handeln muss. Eine Beschränkung auf DMF oder MMF als einzigem zu verabreichenden Neuroprotektivum enthalten erst die Untersprüche 6 bis 8 des Verfügungspatents.
    Hingegen ist Anspruch 1 des (rechtskräftig widerrufenen) Stammpatents nach dem insoweit abweichenden Wortlaut „wobei die Zusammensetzung aus Folgendem besteht“ („the composition consisting of“) in seiner erteilten Fassung auf DMF oder MMF als einzigen Wirkstoff beschränkt (sog. Monotherapie). Anspruch 1 des Stammpatents schließt somit aus, dass neben DMF oder MMF weitere Wirkstoffe vorhanden sind, z.B. Wirkstoffe, die zur Behandlung der MS nach demselben oder einem anderen Wirkmechanismus geeignet sind (vgl. Beschwerdeentscheidung zum Stammpatent, Anlage AG 10 Rn. 4.1). Entsprechendes gilt für Anspruch 7 des Stammpatents, der ebenfalls auf DMF oder MMF als einzigem zu verabreichenden Neuroprotektivum beschränkt ist.
    Im Einspruchsverfahren hat das Verfügungspatent eine Einschränkung dahingehend erfahren, dass sowohl Anspruch 1 als auch Anspruch 5 auf die Behandlung der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose (RRMS) als eine besondere Form der MS beschränkt worden sind. Eine solche Einschränkung weist das Stammpatent nicht auf.
    Darüber hinausgehende Unterschiede zwischen den Ansprüchen 1 und 5 des Verfügungspatents auf der einen und den Ansprüchen 1 und 7 des Stammpatents auf der anderen Seite bestehen – worüber zwischen den Parteien zu Recht Einigkeit herrscht – nicht.
    Klarstellend ist noch festzustellen, dass Merkmal 3 der vorstehend wiedergegebenen Merkmalsgliederung des Patentanspruchs 1 – wie bereits das Landgericht zutreffend festgestellt hat und zwischen den Parteien unstreitig ist – nicht auf die ausschließliche und stete Verabreichung einer Tagesdosis von 480 mg/Tag DMF oder MMF beschränkt ist. Vielmehr wird auch eine Dosierung vom Schutzbereich umfasst, bei der vor oder nach einer Dosierung von 480 mg/Tag DMF oder MMF eine niedrigere oder höhere Dosierung erfolgt, wie es beispielsweise bei zweiphasigen Dosierungsschemata der Fall ist, die in einer ersten Phase eine höhere Dosierung und in einer zweiten Phase eine niedrigere Dosierung als Erhaltungsdosis vorsehen.
  8. II.
    Es fehlt an dem erforderlichen Verfügungsgrund, weil der Rechtsbestand des Verfügungspatents nicht in dem für den Erlass einer einstweiligen Verfügung erforderlichen Umfang gesichert ist.
  9. 1.
    Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats (InstGE 9, 140 – Olanzapin; InstGE 12, 114 – Harnkatheterset; GRUR-RR 2011, 81, 82 – Gleitsattel-Scheibenbremse II; Urt. v. 06.12.2012, Az.: I-2 U 46/12, BeckRS 2013, 13744; GRUR-RR 2013, 236, 239 f. – Flupirtin-Maleat; Urt. v. 07.11.2013, Az.: I-2 U 94/12, GRUR-RS 2014, 04902 – Desogestrel; Urt. v. 18.12.2015, Az.: I-2 U 35/15, GRUR-RS 2016, 6208 Rn. 18 – diagnostisches Verfahren; Urt. v. 31.08.2017, Az.: I-2 U 11/17, BeckRS 2017, 125974 Rn. 48; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 12 – Kombinationszusammensetzung; Urt. v. 26.09.2019, Az.: I-2 U 28/19, GRUR-RS 2019, 33227 = GRUR-RR 2020, 240 [Ls.] – MS-Therapie; GRUR-RR 2021, 249 Rn. 15 – Cinacalcet II; GRUR-RR 2021, 400 Rn. 34 – MS-Therapie II; GRUR 2024, 447 Rn. 16 – RRMS-Therapie), dass der Erlass einer einstweiligen Verfügung insbesondere auf Unterlassung nur in Betracht kommt, wenn sowohl die Frage der Patentverletzung als auch der Bestand des Verfügungsschutzrechts im Ergebnis so eindeutig zugunsten des Verfügungsklägers zu beantworten sind, dass eine fehlerhafte, in einem etwa nachfolgenden Hauptsacheverfahren zu revidierende Entscheidung nicht ernstlich zu erwarten ist. Davon kann regelmäßig ausgegangen werden, wenn das Verfügungspatent bereits ein erstinstanzliches Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren überstanden hat (Senat, InstGE 9, 140, 146 – Olanzapin; InstGE 12, 114 – Harnkatheterset; GRUR-RR 2011, 81, 82 – Gleitsattel-Scheibenbremse II; Urt. v. 07.11.2013, Az.: I-2 U 94/12, GRUR-RS 2014, 04902 – Desogestrel; Urt. v. 18.12.2014, Az.: I-2 U 60/14, BeckRS 2015, 01829 Rn. 17; Urt. v. 18.12.2015, Az.: I-2 U 35/15, GRUR-RS 2016, 6208 Rn. 18 – diagnostisches Verfahren; Urt. v. 31.08.2017, Az.: I-2 U 11/17, BeckRS 2017, 125974 Rn. 48; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 12 – Kombinationszusammensetzung; Urt. v. 26.09.2019, Az.: I-2 U 28/19, GRUR-RS 2019, 33227 = GRUR-RR 2020, 240 [Ls.] – MS-Therapie; GRUR-RR 2021, 249, 250 Rn. 16 – Cinacalcet II; GRUR-RR 2021, 400 Rn. 35 – MS-Therapie II; GRUR 2024, 447 Rn. 18 – RRMS-Therapie).
    Ohne eine erstinstanzliche Bestandsentscheidung oder einen qualifizierten Hinweis des Bundespatentgerichts wird es für das Verletzungsgericht erfahrungsgemäß schwierig sein, im Verfügungsverfahren eine hinreichend verlässliche Prognose über den künftigen Rechtsbestand zu treffen. Gleichwohl hat es den voraussichtlichen Rechtsbestand in jedem Einzelfall zu prüfen. Zweifel, ob sich das Patent als rechtsbeständig erweisen wird, sind hierbei insbesondere dann ausgeräumt, wenn die gegen den Rechtsbestand erhobenen Einwendungen auch bei der (im Verfügungsverfahren allein möglichen) summarischen Prüfung ersichtlich unbegründet sind (OLG München, GRUR 2025, 952 [LS] = GRUR-RS 2023, 56236 Rn. 42 – Rechtsbestand im Verfügungsverfahren).
    Darüber hinaus hat der Senat in ständiger Rechtsprechung bestimmte Sonderfälle entwickelt, in denen auch ohne das Vorliegen einer dem Verfügungskläger günstigen kontradiktorischen Rechtsbestandsentscheidung der Erlass einer einstweiligen Verfügung in Betracht kommt. Dies gilt beispielsweise dann, wenn sich der Verfügungsbeklagte (oder ein anderer ernstzunehmender Wettbewerber) bereits mit eigenen Einwendungen am Erteilungsverfahren beteiligt hat, so dass die Patenterteilung sachlich der Entscheidung in einem zweiseitigen Einspruchsverfahren gleichsteht, wenn ein Rechtsbestandsverfahren deshalb nicht durchgeführt worden ist, weil das Verfügungsschutzrecht allgemein als schutzfähig anerkannt wird (was sich durch das Vorhandensein namhafter Lizenznehmer oder dergleichen widerspiegelt) oder wenn (z.B. mit Rücksicht auf die Marktsituation oder die aus der Schutzrechtsverletzung drohenden Nachteile) außergewöhnliche Umstände gegeben sind, die es für den Verfügungskläger ausnahmsweise unzumutbar machen, den Ausgang des Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahrens abzuwarten (vgl. Senat, InstGE 12, 114, 121 – Harnkatheterset; Urt. v. 07.11.2013, Az.: I-2 U 94/12, GRUR-RS 2014, 04902 – Desogestrel; GRUR-RR 2013, 236, 240 – Flupirtin-Maleat; Urt. v. 18.12.2015, Az.: I-2 U 35/15, GRUR-RS 2016, 6208 Rn. 19 – diagnostisches Verfahren; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 12 – Kombinationszusammensetzung). Letzteres kann insbesondere im Hinblick auf Verletzungshandlungen von Generikaunternehmen der Fall sein (vgl. Senat, GRUR-RR 2013, 236, 240 – Flupirtin-Maleat; Urt. v. 07.11.2013, Az.: I-2 U 94/23, GRUR-RS 2014, 04902 – Desogestrel; Urt. v. 19.02.2016, Az.: I-2 U 54/15, BeckRS 2016, 6344 Rn. 13; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 12 – Kombinationszusammensetzung; GRUR-RR 2021, 249 Rn. 22 – Cinacalcet II; GRUR-RR 2021, 400 Rn. 47 – MS-Therapie II; GRUR 2024, 447 Rn. 2 – RRMS-Therapie).
    Liegt eine positive streitige Rechtsbestandsentscheidung vor, ist prinzipiell von einem ausreichend gesicherten Bestand des Verfügungspatents auszugehen (Senat, Urt. v. 19.02.2016, Az.: I-2 U 54/15, BeckRS 2016, 6344 Rn. 12; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 12 – Kombinationszusammensetzung; Urt. v. 26.09.2019, Az.: I-2 U 28/19, GRUR-RS 2019, 33227 Rn. 16 = GRUR-RR 2020, 240 [Ls.] – MS-Therapie; GRUR-RR 2021, 249 Rn. 19 – Cinacalcet II; GRUR 2024, 147 Rn. 34 – RRMS-Therapie). Das Verletzungsgericht hat – ungeachtet seiner Pflicht, auch nach erstinstanzlichem Abschluss eines Rechtsbestandsverfahrens selbst ernsthaft die Erfolgsaussichten der dagegen gerichteten Angriffe zu prüfen, um sich in eigener Verantwortung ein Bild von der Schutzfähigkeit der Erfindung zu – grundsätzlich die von der zuständigen Fachinstanz (DPMA, EPA, BPatG) nach technisch sachkundiger Prüfung getroffene Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Verfügungspatents hinzunehmen und, sofern im Einzelfall keine besonderen Umstände vorliegen, die gebotenen Schlussfolgerungen zu ziehen, indem es zum Schutz des Patentinhabers die erforderlichen Unterlassungsanordnungen trifft (Senat, Urt. v. 19.02.2016, Az.: I-2 U 54/15, BeckRS 2016, 6344 Rn. 12; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 13 – Kombinationszusammensetzung; Urt. v. 26.09.2019, Az.: I-2 U 28/19, GRUR-RS 2019, 33227 Rn. 16 = GRUR-RR 2020, 240 [Ls.] – MS-Therapie; GRUR-RR 2021, 249 Rn. 19 – Cinacalcet II; GRUR 2024, 147 Rn. 35 – RRMS-Therapie). Hiernach ist es für den Regelfall nicht angängig, den Verfügungsantrag trotz erstinstanzlich aufrechterhaltenen Schutzrechts allein deshalb zurückzuweisen, weil das Verletzungsgericht seine eigene (laienhafte) Bewertung des technischen Sachverhaltes an die Stelle der Beurteilung durch die zuständige Einspruchs- oder Nichtigkeitsinstanz setzt (Senat, Urt. v. 18.12.2014, Az.: I-2 U 60/14, BeckRS 2015, 01829 Rn. 17; Urt. v. 19.02.2016, Az.: I-2 U 54/15, BeckRS 2016, 6344 Rn. 12; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 13 – Kombinationszusammensetzung; GRUR-RR 2021, 249 Rn. 20 – Cinacalcet II; GRUR 2024, 147 Rn. 36 – RRMS-Therapie). Solches verbietet sich ganz besonders dann, wenn es sich um eine technisch komplexe Materie (z.B. aus dem Bereich der Chemie, Pharmazie oder Elektronik) handelt, in Bezug auf die die Einsichten und Beurteilungsmöglichkeiten des technisch nicht vorgebildeten Verletzungsgerichts von vornherein limitiert sind.
    Ein verantwortungsvoller Umgang mit dem den Antragsgegner im Zweifel nachhaltig belastenden Mittel der Unterlassungsverfügung verlangt – umgekehrt – aber auch, dass das Vorliegen einer negativen streitigen Rechtsbestandsentscheidung die Annahme eines gesicherten Rechtsbestandes in der Regel ausschließt. So ist der Verfügungsgrund in aller Regel zu verneinen, wenn eine erstinstanzliche Entscheidung ergangen ist, die das Patent widerrufen oder für nichtig erklärt hat (Senat, InstGE 9, 140 – Olanzapin; InstGE 12, 114 – Harnkatheterset; Urt. v. 31.08.2017, Az.: I-2 U 11/17, BeckRS 2017, 125974 Rn. 50). Auch wenn ein Vorbescheid die Vernichtung oder eine aus der Benutzung hinausführende Beschränkung des Verfügungspatents in Aussicht stellt, wird sich das Verletzungsgericht mangels überlegener eigener technischer Sachkunde im Zweifel keine Überzeugung vom Rechtsbestand bilden können (Senat, GRUR-RR 2021, 249 Rn. 22 ff. – Cinacalcet II; Urt. v. 04.03.2021, Az.: I-2 U 32/20, GRUR-RS 2021, 4506 Rn. 10 – Cinacalcet III; vgl. auch Urt. v. 26.09.2019, Az.: I-2 U 28/19, GRUR-RS 2019, 33227 Rn. 52 – MS-Therapie). Dies gilt in gleicher Weise bei einer Rechtsbestandsentscheidung bezogen auf ein Stamm- oder Parallelpatent, wenn sich deren zur Schutzrechtsvernichtung führende Argumentation auf das Verfügungsschutzrecht übertragen lässt (Senat, Urt. v. 26.09.2019, Az.: I-2 U 28/19, GRUR-RS 2019, 33227 Rn. 52 – MS-Therapie). Dem steht die Entscheidung „Phoenix Contact/Harting“ des Gerichtshofs der Europäischen Union EuGH in der Rechtssache C-44/21 (GRUR 2022, 811) nicht entgegen. Aus der vom Gerichtshof der Europäischen Union aufgestellten Gültigkeitsvermutung lässt sich nicht die Vermutung ableiten, dass gegen die Schutzfähigkeit angeführte Gründe nicht durchgreifen werden, sich das Patent im Falle eines Rechtsbestandsangriffs also auch künftig als rechtsbeständig erweisen wird (genauso: OLG München, GRUR 2025, 952 – Rechtsbestand im Verfügungsverfahren).
  10. 2.
    Von diesen Grundsätzen ausgehend ist der Rechtsbestand des Verfügungspatents nicht in dem für den Erlass einer einstweiligen Verfügung ausreichenden Maße gesichert.
  11. a)
    Es ist zwar zunächst festzustellen, dass eine Konstellation vorliegt, in der nach den dargestellten Maßstäben grundsätzlich von einem hinreichend gesicherten Rechtsbestand auszugehen ist, weil mit der Einspruchsentscheidung zum Verfügungspatent vom 11.12.2024 (Anlage AG 8) eine von der zuständigen Fachinstanz (EPA) nach technisch sachkundiger Prüfung getroffene Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Verfügungspatents vorliegt, die die Vermutung der Rechtsbeständigkeit begründet. Allerdings wird diese Vermutung durch den rechtskräftigen Widerruf des Stammpatents erschüttert. Damit liegt eine Situation vor, in der sich zu derselben rechtlichen Frage zwei Entscheidungen gleichrangiger Spruchkörper inhaltlich widersprechend gegenüberstehen.
  12. aa)
    Die in dem das Stammpatent betreffenden Verfahren getroffene Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 13.06.2016 (Anlage AG 3) steht inhaltlich im Widerspruch zu der das Verfügungspatent betreffenden Entscheidung der Einspruchsabteilung vom 11.12.2024 (Anlage AG 8).
    Die Erwägungen der Einspruchsabteilung zum Stammpatent sind grundsätzlich auf die Lehre des Verfügungspatents übertragbar. Unterschiede zwischen den in Rede stehenden Ansprüchen 1 und 5 des Verfügungspatents sowie den Ansprüchen 1 und 7 des Stammpatents bestehen – wie erörtert – darin, dass das Stammpatent auf DMF oder MMF als Wirkstoff bzw. Neuroprotektivum beschränkt ist, während das Verfügungspatent das Vorhandensein weiterer Wirkstoffe zulässt, und dass das Verfügungspatent auf die Behandlung der RRMS als spezielle Form der MS beschränkt ist, während das Stammpatent die Behandlung sämtlicher Formen der MS erfasst.
    Im Hinblick auf die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit bezogen auf die Anpassung der Dosis auf 480 mg/Tag bestehen zwischen den verschiedenen Anspruchsfassungen keine relevanten Unterschiede. Die beiden Entscheidungen der Einspruchsabteilung zum Stammpatent und zum Verfügungspatent stehen sich hier vielmehr inhaltlich widersprechend gegenüber (so auch LGU S. 21). Beide Entscheidungen stellen insoweit auf den gleichen Stand der Technik ab, nämlich die Präsentation „Efficacy of a novel single-agent Fumarate, BG00012, in patients with relapsing-remitting multiple sclerosis: results of a phase II study“ von Kappos et al. (vorgelegt als Anlage rop 21-3 und Anlage AG 6, im Einspruchsverfahren betreffend das Verfügungspatent: D 6b; im Einspruchsverfahren betreffend das Stammpatent: D11-A3; nachfolgend: „Kappos“) und die Präsentation „Oral fumaric acid esters fort he treatment of active multiple sclerosis: an open-label, baseline-controlled pilot study“, European Journal of Neurology 2006, 13: 604-610“ von Schimrigk et al. (vorgelegt als Anlage AG 7; im Einspruchsverfahren betreffend das Verfügungspatent: D 9; im Einspruchsverfahren betreffend das Stammpatent: D 2; nachfolgend: „Schimrigk“). Beide Entgegenhaltungen betreffen unstreitig RRMS. Soweit mit der D128 im Einspruchsverfahren betreffend das Verfügungspatent eine überarbeitete Fassung “BG00012, a novel oral fumarate, is effective in patients with relapsing-remitting multiple sclerosis“ von „Kappos“ vorgelegt wurde, enthält diese zusätzliche Ergebnisse der zweiten Phase („24-week blinded safety extension phase“), entspricht aber im Übrigen der bekannten Präsentation von „Kappos“.
    Während die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Stammpatent die objektive Aufgabe der Erfindung darin sieht, eine alternative Tagesdosis von DMF für die Behandlung von MS bereitzustellen (Anlage AG 3 Rn. 8.6.1.), formuliert die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Verfügungspatent die objektive Aufgabe dahin, dass eine verbesserte orale Behandlung für RRMS bereitgestellt werden soll (Anlage AG 8 Rn. 3.5.12). Ausgehend hiervon hat die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Stammpatent dessen Ansprüche 1 und 7 nicht als erfinderisch angesehen, während die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Verfügungspatent in Bezug auf dessen Ansprüche 1 und 5 zu einem anderen Ergebnis gelangt ist.
    Die Entscheidung der Einspruchsabteilung zum Stammpatent wird durch die nachfolgende Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer vom 20.01.2022 nicht in Frage gestellt. Zwar hat die Technische Beschwerdekammer den von der Einspruchsabteilung angenommenen Widerrufsgrund der fehlenden erfinderischen Tätigkeit nicht geprüft, sondern die Beschwerde aus einem anderen Grund – unzulässige Erweiterung (Art. 123 Abs. 2 EPÜ) – zurückgewiesen. Hinweise darauf, dass die Bewertung der Einspruchsabteilung aus Sicht der Technischen Beschwerdekammer unzutreffend war, ergeben sich daraus indes nicht. Bei der unzulässigen Erweiterung handelt es sich um einen selbstständigen, zum Widerruf führenden Einspruchsgrund (Art. 101 Abs. 1 S. 1, Art. 100 lit. c) EPÜ), der logisch prinzipiell vorrangig ist (weil sich die Frage von Neuheit und Erfindungshöhe sinnvoll erst mit Blick auf eine rechtlich zulässige Anspruchsfassung stellen und beantworten lässt) und dessen Vorliegen weitere Ausführungen entbehrlich macht.
    Dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung zum Stammpatent aus dem Jahre 2016 stammt, mithin inzwischen 9 Jahre alt ist, führt – entgegen der Auffassung der Verfügungsklägerin – nicht per se dazu, dass sie überholt ist. Der Zeitablauf ändert weder etwas an der Vergleichbarkeit der Anspruchsfassungen von Stammpatent und Verfügungspatent noch an der Argumentation im Hinblick auf die erfinderische Tätigkeit.
    Soweit die Einspruchsentscheidung in ihrer Entscheidung zum Verfügungspatent neuere Rechtsprechung, insbesondere die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer vom 23.03.2023 in der Rechtsache G 2/21, berücksichtigt hat, ist die Entscheidung zum Stammpatent selbstverständlich im Hinblick hierauf kritisch zu überprüfen. Ihr aber von vornherein eine geringere Bedeutung zuzusprechen als der Entscheidung zum Verfügungspatent, geht fehl. Es mag zwar zutreffen, dass bei der Entscheidung zum Verfügungspatent ein Mitglied mitgewirkt hat, das bereits an der Entscheidung zum Stammpatent beteiligt war, dass die Argumentation der Einspruchsabteilung zur erfinderischen Tätigkeit in ihrer Entscheidung zum Stammpatent – insbesondere ihre Ausführungen zum Naheliegen der beanspruchten Lehre – aber nunmehr unvertretbar wäre, lässt sich der Entscheidung zum Verfügungspatent nicht entnehmen und muss vom Senat in eigener Verantwortung geprüft werden. Dabei geht es nicht darum, dass ein Verletzungsgericht, welches weder über ein annähernd vergleichbares Wissen noch über Erfahrung bezüglich der Entwicklungsarbeit von Technikern verfügt, seine eigene, notwendigerweise laienhafte Einschätzung über die Überlegungen einer fundierten Rechtsbestandsentscheidung stellt. Vielmehr hat sich das Verletzungsgericht mit zwei gleichermaßen fundierten und im Instanzenzug gleichrangigen Rechtsbestandsentscheidungen zu befassen und deshalb darüber zu entscheiden, ob und ggf. welcher dieser Entscheidungen die größere Überzeugungskraft zukommt.
  13. bb)
    In einer solchen Konstellation, wenn zur Aufrechterhaltungsentscheidung ein gegensätzliches Erkenntnis einer technisch ebenfalls sachkundigen, gleich- oder höherrangigen Stelle vorliegt (z.B. zu parallelen Schutzrechten, Stammanmeldungen oder dergleichen), ohne dass deren Erwägungen von vornherein als unvertretbar zu qualifizieren sind, sodass sich die technischen Fachleute mit jeweils beachtlichen Gründen uneins darüber sind, ob eine bestimmte technische Lehre schutzfähig ist oder nicht, wird – trotz einstweilen positiver Rechtsbestandsentscheidung zum Verfügungspatent – in der Regel nicht von einem hinreichend gesicherten Rechtsbestand auszugehen sein (grundlegend: Senat, Urt. v. 31.08.2017, Az.: I-2 U 11/17, BeckRS 2017, 125974 Rn. 59 – Stoßwellengerät; vgl. auch: Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 16. Auflage 2024, Kap. G Rn. 119).
    Soweit der Senat in seiner Entscheidung „MS-Therapie“ (Urt. v. 26.09.2019 – 2 U 28/19; GRUR-RS 2019, 33227 Rn. 43) darauf hingewiesen hat, dass nicht jede anderslautende, irgendwo unter Beteiligung technischen Sachverstandes (etwa durch technische Richter oder externe Sachverständige) getroffene Entscheidung im vorgenannten Sinne rechtsschutzhindernd sei, es vielmehr erforderlich sei, dass die gegenläufige Erkenntnis von einem Entscheider herrühre, der Zugriff auf das Verfügungsschutzrecht habe, weil er in den für die Beurteilung seines Rechtsbestandes vorgesehenen Instanzenzug eingebunden sei, erfolgten diese Ausführungen insbesondere mit Blick auf entgegenstehende (Rechtsbestands-) Entscheidungen in den europäischen Mitgliedstaaten. In dem seinerzeit zu entscheidenden Verletzungsverfahren wurden diverse Entscheidungen anderer Jurisdiktionen (z.B. britischer, norwegischer oder italienischer Verletzungsgerichte) eingeführt, die in Widerspruch zu der aufrechterhaltenden Entscheidung der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts standen. Sowohl das seinerzeitige Verfügungspatent als auch das parallele Stammpatent sind aber durch die Einspruchsabteilung und damit durch die für die Beurteilung des Rechtsbestandes primär zuständige Stelle für schutzfähig erachtet worden.
    Entsprechend hat der Senat damals festgestellt, dass die Situation sich inhaltlich widersprechender Entscheidungen gleich- oder höherrangiger technischer Spruchkörper nicht gegeben sei. Dem Patentinhaber dürfe eine vorläufige Durchsetzung seines Schutzrechts trotz einer von ihm erstrittenen Aufrechterhaltungsentscheidung durch (mindestens) einen im deutschen bzw. europäischen Instanzenzug zuständigen Spruchkörper nicht unter Hinweis darauf versagt werden, dass anderswo (= in anderen Jurisdiktionen) ein Patentamt oder Gericht zu einem (vielleicht ebenso gut vertretbaren) gegenteiligen Resultat gelangt ist. Dies ist als Ausdruck des Grundsatzes zu verstehen, dass die von der zuständigen Fachinstanz (DPMA, EPA, BPatG) nach technisch sachkundiger Prüfung getroffene Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Verfügungspatents vom Verletzungsgericht grundsätzlich hinzunehmen ist.
    In seiner das Verfügungspatent betreffenden ersten Entscheidung vom 23.02.2023 (I-2 U 116/22) hat der Senat ebenfalls betont, dass sich nicht die Entscheidungen „zwei mindestens gleichrangiger Spruchkörper (gleichwertig) gegenüberstehen“ (GRUR-RS 2023, 5166 Rn. 31). Seinerzeit standen sich die Entscheidung der Prüfungsabteilung betreffend die Erteilung des Verfügungspatents und die Entscheidung der Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts, mit der diese das zum Verfügungspatent weitgehend inhaltsgleiche und wegen der Wirkstoffbegrenzung sogar enger gefasste Stammpatent widerrufen hat, gegenüber. Bei der Einspruchsabteilung handelt es sich um einen im Vergleich zur Prüfungsabteilung höherrangigen, im Instanzenzug übergeordneten Spruchkörper.
    Demgegenüber stehen sich nunmehr mit der Entscheidung der Einspruchsabteilung zum Stammpatent und der Entscheidung der Einspruchsabteilung zum Verfügungspatent die Entscheidungen zweier gleichrangiger Spruchkörper gegenüber, die im europäischen und deutschen Instanzenzug grundsätzlich für die Entscheidung über den Rechtsbestand des Verfügungspatents zuständig sind. Stammt aber nicht nur die Aufrechterhaltungsentscheidung, sondern auch die die Schutzfähigkeit verneinende Entscheidung von einem Spruchkörper, der im europäischen oder deutschen Instanzenzug grundsätzlich zur Entscheidung über den Rechtsbestand des Verfügungsschutzrechts berufen ist, und kommt der Aufrechterhaltungsentscheidung nicht schon deshalb ein höheres Gewicht zu, weil sie von einem im Instanzenzug übergeordneten Spruchkörper erlassen wurde, so ist regelmäßig davon auszugehen, dass die Schutzfähigkeit nicht in ausreichendem Maße geklärt ist und – trotz einstweilen positiver Rechtsbestandsentscheidung zum Verfügungspatent – in der Regel eine Unterlassungsverfügung nicht ergehen kann.
    Im Einklang hiermit wird auch in der Literatur die Rechtsprechung des Senats dahin verstanden, dass trotz einer positiven Rechtsbestandsentscheidung von einem hinreichend gesicherten Rechtsbestand nicht ausgegangen werden kann, wenn sich mehrere mindestens gleichrangige Spruchkörper mit den fraglichen Entgegenhaltungen und ihrer Bedeutung für die Beurteilung von Neuheit und/oder Erfindungshöhe befasst haben und dabei mit jeweils nachvollziehbaren Gründen zu entgegengesetzten Resultaten gelangt sind (Wuttke/Voß in BeckOK PatR, 36. Edition Stand: 01.05.2025, vor §§ 139-142b (Verletzungsprozess) Rn. 299; Voß in Cepl/Voß, Prozesskommentar, 3. Aufl. 2022, § 940 Rn. 134).
    Das Recht des Schutzrechtsinhabers auf die Gewährung eines effektiven einstweiligen Rechtsschutzes wird hierdurch nicht unangemessen eingeschränkt. Denn dem Patentinhaber bleibt eine vorläufige Durchsetzung seines Schutzrechts auf der Grundlage einer von ihm erstrittenen Aufrechterhaltungsentscheidung nur dort (ausnahmsweise) versagt, wo die einstweilen positive Rechtsbestandsentscheidung als verlässliche Beurteilungsgrundlage für das einstweilige Verfügungsverfahren wegfällt, weil durch die (im europäischen und/oder deutschen Instanzenzug) zuständigen (mindestens gleichrangigen) Instanzen bereits widerrufende oder vernichtende Erkenntnisse zu dem fraglichen technischen Sachverhalt ergangen sind. Insofern ähnelt die Situation derjenigen bei Nichtvorliegen einer dem Verfügungskläger günstigen kontradiktorischen Rechtsbestandsentscheidung.
  14. cc)
    In einer solchen (Sonder-) Konstellation wiederum sind die Besonderheiten von Generikafällen zu berücksichtigen. Während der von Generikaherstellern angerichtete Schaden im Falle einer späteren Aufrechterhaltung des Patents vielfach enorm und (mit Rücksicht auf den durch eine entsprechende Festsetzung von Festbeträgen verursachten Preisverfall) nicht wiedergutzumachen ist, hat eine (wegen späterer Vernichtung des Patents) unberechtigte Verfügung lediglich zur Folge, dass das Generikaunternehmen vorübergehend zu Unrecht vom Markt ferngehalten wird, was durch entsprechende Schadensersatzansprüche gegen den Patentinhaber vollständig ausgeglichen werden kann. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass das Generikaunternehmen für seine Marktpräsenz im Allgemeinen keine eigenen wirtschaftlichen Risiken eingeht (weil das Präparat dank des Patentinhabers medizinisch hinreichend erprobt und am Markt etabliert ist). Es hat deswegen eine Verbotsverfügung zu ergehen, auch wenn für das Verletzungsgericht mangels einer fachkundigen Rechtsbestandsentscheidung keine endgültige und eindeutige Sicherheit über den Rechtsbestand gewonnen werden kann, sofern das Verletzungsgericht (aufgrund der ihm angesichts der betroffenen technischen Materie möglichen eigenen Einschätzung) für sich die Überzeugung (im Sinne hinreichender Glaubhaftmachung) davon gewinnt, dass das Verfügungsschutzrecht rechtsbeständig ist, weil sich die mangelnde Patentfähigkeit seines Erfindungsgegenstandes nicht feststellen lassen wird. Hierfür müssen aus der Sicht des Verletzungsgerichts entweder die besseren Argumente für die Patentfähigkeit sprechen, so dass sich diese positiv bejahen lässt, oder es muss (mit Rücksicht auf die im Rechtsbestandsverfahren geltende Beweislastverteilung) die Frage der Patentfähigkeit mindestens ungeklärt bleiben, so dass das Verletzungsgericht, wenn es anstelle des Patentamtes oder des BPatG in der Sache selbst zu befinden hätte, den Rechtsbestand zu bejahen hätte, wobei im Rahmen der vom Verletzungsgericht zu treffenden Prognoseentscheidung bereits ergangene Entscheidungen der zuständigen Stellen zum Rechtsbestand zu berücksichtigen sind (Senat, GRUR-RR 2013, 236, 240 – Flupirtin-Maleat; Urt. v. 07.11.2013, Az.: I-2 U 94/23, GRUR-RS 2014, 04902 – Desogestrel; Urt. v. 10.12.2015, Az.: I-2 U 35/15, BeckRS 2016, 6208 Rn. 43 – Diagnostisches Verfahren; Urt. v. 19.02.2016, Az.: I-2 U 54/15, BeckRS 2016, 6344 Rn. 13; Urt. v. 14.12.2017, Az.: I-2 U 18/17, GRUR-RS 2017, 142305 Rn. 12 – Kombinationszusammensetzung; GRUR-RR 2021, 249 Rn. 22 – Cinacalcet II; GRUR-RR 2021, 400 Rn. 47 – MS-Therapie II; GRUR 2024, 447 Rn. 2 – RRMS-Therapie; OLG Düsseldorf [15. ZS], Urt. v. 11.01.2018, Az. I-15 U 66/17, BeckRS 2018, 1291 Rn. 57 – Rasierklingen; OLG München, GRUR 2023, 796 Rn. 8 – Aminopyridin; vgl. auch: Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 16. Auflage 2024, Kap. G Rn. 87).
    Der Annahme eines „Generikafalles“ steht vorliegend nicht entgegen, dass es infolge des vom 15.06.2022 bis zum 31.05.2023 vorübergehenden Auftretens generischer Produkte zu einer Marktsituation gekommen ist, die den Streitfall wegen der dadurch eingetretenen Preiserosion von den typischen Generika-Fällen unterscheidet. Die Verfügungsklägerin war bereits in der Vergangenheit gezwungen, Open-House-Rabattverträge mit den gesetzlichen Krankenkassen zu schließen, durch die XXX. unter dem Listenpreis veräußert wurde. Nachdem die Verfügungsklägerin diese Rabattverträge aufgrund des Vermarktungsverbots kündigen konnte, werden auch keine Preisnachlässe mehr gewährt. Zu Recht ist das Landgericht davon ausgegangen, dass zu erwarten steht, dass genau diese Preisnachlässe wieder eingeräumt werden müssen, wenn das Vermarktungsverbot endet und die Verfügungsklägerin dann nicht durch eine einstweilige Verfügung geschützt ist (vgl. LGU S. 44/45).
  15. b)
    Dies vorausgeschickt, ist der Rechtsbestand des Verfügungspatents für den Erlass einer Unterlassungsverfügung vorliegend nicht hinreichend gesichert (im Ergebnis genauso: Rechtbank Den Haag, Urt. v. 22.01.2025 – C/09/639604 / HA ZA 22-1028, vorgelegt als Anlage AG 29/29a, Tribunal Judiciaire de Paris, Urt. v. 03.02.2025 – G 24/58777, vorgelegt als Anlage AG 30/30a; Schweizer Bundespatentgericht, Urt. v. 08.07.2025 – S2024_005, vorgelegt als Anlage AG 33). Denn der aufrechterhaltenden Entscheidung der Einspruchsabteilung zum Verfügungspatent steht die dieser im Hinblick auf die Annahme einer erfinderischen Tätigkeit (Art. 56 EPÜ) inhaltlich widersprechende Entscheidung der Einspruchsabteilung zum Stammpatent gegenüber, die den Senat – auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich ergangenen Rechtsprechung der Technischen Beschwerdekammer und der Großen Beschwerdekammer – im Ergebnis mehr überzeugt als die entgegenstehende Entscheidung der Einspruchsabteilung zum Verfügungspatent. Im Einzelnen:
  16. aa)
    Eine Erfindung beruht auf einer erfinderischen Tätigkeit, wenn sie sich für die Fachperson nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt (Art. 56 EPÜ). Der Ausdruck „in naheliegender Weise“ bezeichnet etwas, das nicht über die normale technologische Weiterentwicklung hinausgeht, sondern sich lediglich ohne Weiteres oder folgerichtig aus dem bisherigen Stand der Technik ergibt, d. h. etwas, das nicht die Ausübung einer Geschicklichkeit oder einer Fähigkeit abverlangt, die über das bei einer Fachperson voraussetzbare Maß hinausgeht (vgl. EPA Prüfungsrichtlinien, Teil G. Kap. VII. Ziff. 4.).
    Das EPA wendet bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit den sog „Aufgabe-Lösungs-Ansatz“ an, der im Wesentlichen die folgenden methodischen Schritte umfasst (vgl. Entscheidung der Großen Beschwerdekammer vom 23.03.2023, G 2/21 Punkt 24, GRUR-RS 2023, 9088 Rn. 92 – Insecticide compositions; nachfolgend: G 2/21):
    – Ermittlung des nächstliegenden Stands der Technik,
    – Vergleich des streitigen Anspruchsgegenstands mit der Offenbarung des nächstliegenden Stands der Technik und Bestimmung des Unterschieds/der Unterschiede zwischen beiden,
    – Ermittlung der technischen Wirkungen oder der Ergebnisse, die durch diesen Unterschied/diese Unterschiede erzielt werden bzw. mit diesen in Zusammenhang stehen,
    – Bestimmung der technischen Aufgabe, deren erfindungsgemäße Lösung diese Wirkungen oder diese Ergebnisse erzielen sollen und
    – Prüfung der Frage, ob die beanspruchten technischen Merkmale, mit denen die erfindungsgemäßen Ergebnisse erzielt werden, angesichts des Stands der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ für einen Fachmann naheliegend gewesen wären.
  17. (1)
    Dabei wird die objektive Aufgabe der Erfindung im Sinne einer „technischen Differenzaufgabe“ bestimmt. In den EPA Prüfungsrichtlinien (Teil G. Kap. VII. Ziff. 5.2) heißt es insofern:
    „Im Rahmen des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes besteht die technische Aufgabe darin, über die Änderung oder Anpassung des nächstliegenden Stands der Technik die technischen Wirkungen zu erzielen, die die Erfindung über den nächstliegenden Stand der Technik mit sich bringt.“
    Der Begriff „technische Aufgabe“ wird hierbei weit ausgelegt; er impliziert nicht notwendigerweise, dass die technische Lösung eine Verbesserung des Stands der Technik bringt. Ebenso kann die Aufgabe einfach darin bestehen, nach einer Alternative zu einer bekannten Vorrichtung oder einem bekannten Verfahren zu suchen, das die gleichen oder ähnliche Wirkungen hat oder kostengünstiger ist (EPA Prüfungsrichtlinien, Teil G. Kap. VII. Ziff. 5.2).
    Die technische Aufgabe muss sich allerdings stets aus Wirkungen ergeben, die unmittelbar und kausal mit den technischen Merkmalen der beanspruchten Erfindung zusammenhängen. Eine Wirkung kann nicht wirksam für die Formulierung der technischen Aufgabe verwendet werden, wenn hinsichtlich dieser Wirkung zusätzliche Informationen benötigt werden, die dem Fachmann selbst bei Berücksichtigung des Inhalts der betreffenden Anmeldung nicht zur Verfügung stehen (G 2/21 Punkt 25, GRUR-RS 2023, 9088 Rn 93).
  18. (a)
    In ihren Entscheidungen zum Stammpatent und zum Verfügungspatent hat die Einspruchsabteilung jeweils „Kappos“ als nächstliegenden Stand der Technik bestimmt und festgestellt, dass der Unterschied zwischen der Lehre des Stammpatents/Verfügungspatents und „Kappos“ in der im Stammpatent/Verfügungspatent beanspruchten niedrigeren Tagesdosis liege (nämlich 480 mg/Tag gegenüber 720 mg/Tag). Welche technische Wirkung allerdings durch die unterschiedliche Dosierung erzielt wird, beurteilt die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Stammpatent anders als in ihrer Entscheidung zum Verfügungspatent.
    In ihrer Entscheidung zum Stammpatent geht die Einspruchsabteilung davon aus, dass mit der Dosis von 480 mg/Tag DMF eine mögliche wirksame orale Behandlung von MS bereitgestellt wird und formuliert die technische Aufgabe hiervon ausgehend dahin, dass es um die Bereitstellung einer alternativen Tagesdosis von DMF für die wirksame orale Behandlung von MS gehe (Anlage AG 3 Rn. 8.6.1). Unberücksichtigt lässt sie dabei den Umstand, dass in den nachveröffentlichten Dokumenten D20 (Declaration of Katherine T. Dawson, M.D. v. 22.12.2011, vorgelegt als Anlage rop 20) und D25 (Declaration of Prof. Dr. Ralf Gold v. 25.01.2013, vorgelegt als Anlage rop 21) von einer ähnlichen Wirksamkeit der Tagesdosis von 480 mg DMF gegenüber einer Tagesdosis von 720 mg DMF berichtet wird. Insofern hat die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Stammpatent die Auffassung vertreten, die in den Dokumenten D20 und D25 gezeigte (überraschende) Wirkung sei außer Acht zu lassen, weil die Anmeldung in der eingereichten Fassung zwar die Information enthalte, dass die Dosis von 480 mg/Tag eine wirksame orale Dosis von DMF oder MMF sein könne, letztlich aber jeder der aufgeführten Werte als wirksame Dosis angesehen werden könne. Keinen von ihnen hätte die Fachperson – ausgehend von der Anmeldung in der eingereichten Fassung – als plausible Lösung für die Aufgabe einer wirksamen oralen Behandlung von MS erachtet (Anlage AG 3 Rn. 8.5).
    Diesen Punkt hat die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Verfügungspatent anders bewertet und angenommen, die therapeutische Wirksamkeit der Dosis von 480 mg/Tag bei der Behandlung von RRMS sei aus der ursprünglichen Anmeldung (implizit) ableitbar gewesen (Anlage AG 8 Rn. 3.5.10). Hiervon ausgehend ist die Einspruchsabteilung zu dem Schluss gekommen, dass die nachveröffentlichten Dokumente D20 und D25 bei der Bestimmung der objektiven Aufgabe berücksichtigt werden könnten. Da in ihnen gezeigt werde, dass die niedrigere Dosierung von 480 mg/Tag DMF bei der Behandlung von RRMS ähnlich wirksam sei wie die Dosis von 720 mg/Tag, liege die objektive Aufgabe der Erfindung in der Bereitstellung einer verbesserten oralen Behandlung für RRMS (Anlage AG 8 Rn 3.5.12).
  19. (b)
    Nach der Entscheidungspraxis des EPA kann der Patentinhaber nicht nur in der Beschreibung erwähnte, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch nachgebrachte technische Effekte zur Verteidigung des Patents geltend machen.
    Dies wird in Ziffer 1 der Entscheidungsformel in der Rechtssache G 2/21 im Grundsatz bestätigt. Hiernach dürfen Beweismittel, die von einem Patentanmelder oder -inhaber zum Nachweis einer technischen Wirkung vorgelegt werden und auf die er sich für die Anerkennung erfinderischer Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands beruft, nicht allein aus dem Grund unberücksichtigt bleiben, dass diese Beweismittel, auf denen die Wirkung beruht, vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden (vgl. auch: G 2/21 Punkt 91, GRUR-RS 2023, 9088 Rn. 190). Die Tatsache, dass D20 und D25 nachveröffentlicht sind, schließt daher für sich genommen nicht aus, dass diese Veröffentlichungen bzw. Beweismittel, welche das Ausmaß der Wirksamkeit einer niedrigeren Dosis von 480 mg/Tag (ähnliche Wirksamkeit wie eine Dosis von 720 mg/Tag) zeigen, bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit Berücksichtigung finden.
    Die Große Beschwerdekammer hat allerdings nicht entschieden, dass sich ein Patentanmelder oder -inhaber stets auf eine nachgebrachte technische Wirkung berufen kann. Vielmehr hat die Beschwerdekammer in Ziffer 2 der Entscheidungsformel zwingende zu erfüllende Voraussetzungen festgelegt (vgl. hierzu auch: EPA, Entsch. v. 28.07.2023 – T 0116/18, GRUR-RS 2023, 33506 Rn. 48). Hiernach kann sich ein Patentanmelder oder -inhaber zum Nachweis der erfinderischen Tätigkeit auf eine technische Wirkung nur dann berufen, wenn der Fachmann ausgehend vom allgemeinen Fachwissen und auf der Grundlage der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung schlussfolgern würde, dass diese Wirkung von der technischen Lehre umfasst und von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert wird (G 2/21 Punkt 94, GRUR-RS 2023, 9088 Rn. 193). Dabei kommt es auf die technische Lehre der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht an, wie sich insbesondere aus den Punkten 71 und 93 der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer ergibt (vgl. auch: EPA, Entsch. v. 30.6.2023 – T 1989/19, GRUR-RS 2023, 35482 Rn. 67).
    Nachdem die Große Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung zunächst ausführlich die bisherige Rechtsprechung der Beschwerdekammern dargestellt hat (G 2/21 Punkt 60 ff., GRUR-RS 2023, 9088 Rn. 129 ff.), führt sie in Punkt 71 (GRUR-RS 2023, 9088 Rn. 156) aus, dass sie dieser Rechtsprechung als gemeinsame Basis entnehme, dass es im Kern um die Frage gehe, was der Fachmann – ausgehend vom allgemeinen Fachwissen am Anmeldetag der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung – als technische Lehre der beanspruchten Erfindung verstehe. Im Anschluss führt die Große Beschwerdekammer aus, dass sie diese Auffassung auf die in ihre Entscheidung zuvor genannten Entscheidungen angewandt habe und zu der Überzeugung gelangt sei, dass das Ergebnis in keinem einzigen Fall anders ausgefallen wäre als die tatsächliche Feststellung der jeweiligen Beschwerdekammer. Unabhängig von der Verwendung des – auch von der Einspruchsabteilung in der Entscheidung zum Verfügungspatent verwendeten – terminologischen Konzepts der Plausibilität schienen – so die Große Beschwerdekammer weiter – die angeführten Entscheidungen zu zeigen, dass sich die einzelnen Beschwerdekammern jeweils auf die Frage konzentriert hätten, ob die vom Patentanmelder oder -inhaber geltend gemachte technische Wirkung für den Fachmann aus der technischen Lehre der Anmeldungsunterlagen erkennbar gewesen sei oder nicht (G 2/21 Punkt 72, GRUR-RS 2023, 9088 Rn.157).
    Abschließend stellt die Große Beschwerdekammer nach Würdigung der nationalen Rechtsprechung zur Berücksichtigungsfähigkeit nachveröffentlichter Beweismittel fest, dass der Begriff „Plausibilität“ kein eigener Rechtsbegriff und kein spezifisches Patentrechtserfordernis nach dem EPÜ sei, insbesondere nicht nach Artikel 56 und 83 EPÜ. Er beschreibe vielmehr ein generisches Schlagwort, das in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern, von einigen nationalen Gerichten und von Nutzern des europäischen Patentsystems verwendet werde. Der maßgebliche Standard für die Stützung auf eine behauptete technische Wirkung bei der Beurteilung, ob der beanspruchte Gegenstand eine erfinderische Tätigkeit aufweise, sei die Frage, was der Fachmann ausgehend vom allgemeinen Fachwissen am Anmeldetag der ursprünglich eingereichten Anmeldung als technische Lehre der beanspruchten Erfindung verstehen würde. Die – auch zu einem späteren Zeitpunkt – geltend gemachte technische Wirkung müsse von dieser technischen Lehre umfasst sein und dieselbe Erfindung verkörpern, denn eine solche Wirkung ändere nicht die Art der beanspruchten Erfindung (G 2/21 Punkt 93, GRUR-RS 2023, 9088 Rn. 192).
    Nach der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer G 2/21 kann eine durch nachveröffentlichte Beweismittel nachgewiesene technische Wirkung somit dann anerkannt werden, wenn sie als von der technischen Lehre der ursprünglich eingereichten Anmeldung umfasst und als von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert ableitbar ist (vgl. auch: EPA, Entsch. v. 30.6.2023 – T 1989/19, GRUR-RS 2023, 35482 Rn. 73). Was die geforderte Ableitbarkeit als „von der technischen Lehre umfasst“ und „von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert“ anbelangt, wird dies in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern dahin verstanden, dass es sich um zwei Kriterien handelt, die kumulativ erfüllt sein müssen (EPA, Entsch. v. 28.07.2023 – T 0116/18, GRUR-RS 2023, 33506 Rn. 52; Entsch. v. 30.6.2023 – T 1989/19, GRUR-RS 2023, 35482 Rn. 73).
    Soweit sich ein Patentanmelder zum Nachweis der erfinderischen Tätigkeit nach den Ausführungen der Großen Beschwerdekammer auf eine geltend gemachte technische Wirkung berufen kann, wenn der Fachmann ausgehend vom allgemeinen Fachwissen und auf der Grundlage der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung schlussfolgern würde, dass diese Wirkung von der technischen Lehre umfasst und von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert wird, wird man dies dahin zu verstehen haben, dass die Wirkung für den Fachmann aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung zumindest unter Heranziehung seines allgemeinen Fachwissens ableitbar bzw. entnehmbar sein muss. Denn die Große Beschwerdekammer legt ihren Erläuterungen zugrunde, dass es im Kern um die Frage geht, was der Fachmann – unter Berücksichtigung seines allgemeinen Fachwissens am Anmeldetag – der ursprünglich eingereichten Anmeldung als technische Lehre der beanspruchten Erfindung entnimmt (vgl. G 2/21 Punkt 157: „ob die vom Patentanmelder oder -inhaber geltend gemachte technische Wirkung für den Fachmann aus der technischen Lehre der Anmeldungsunterlagen erkennbar war oder nicht“). Für die Anerkennung bzw. Berücksichtigung einer technischen Wirkung im Rahmen der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist es hierbei nicht Voraussetzung, dass die geltend gemachte Wirkung in der Anmeldung ausdrücklich genannt oder darin nachgewiesen ist (vgl. EPA, Entsch. v. 30.6.2023 – T 1989/19, GRUR-RS 2023, 35482 Rn. 73; Entsch. v. 28.07.2023 – T 0116/18, GRUR-RS 2023, 33506 Rn. 58, 61; Entsch. v. 15.4.2024 – T 1994/22, GRUR-RS 2024, 14734 Rn. 21 ff.). Vielmehr dürfte es darauf ankommen, ob der Fachmann unter Berücksichtigung seines allgemeinen Fachwissens am Anmeldetag und auf der Grundlage der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung berechtigte Gründe hatte, zu bezweifeln, dass mit dem beanspruchten Gegenstand die behauptete technische Wirkung erzielt werden kann (vgl. EPA, Entsch. v. 28.07.2023 – T 0116/18, GRUR-RS 2023, 33506 Rn. 59, 71 f.). Auf der Grundlage der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung und der hierin offenbarten technischen Lehre ist insoweit eine behauptete technische Wirkung, die zur Begründung der erfinderischen Tätigkeit herangezogen wird, daraufhin zu beurteilen, ob der Fachmann in Anbetracht des allgemeinen Fachwissens einen erheblichen Grund gehabt hätte, sie (die behauptete erfindungsrelevante technische Wirkung) anzuzweifeln. Bestehen derartige Zweifel, scheint sich ein Patentanmelder oder -inhaber auch nach der Rechtsauffassung der Großen Beschwerdekammer zum Nachweis der erfinderischen Tätigkeit nicht erfolgreich auf eine sich aus nachveröffentlichten Dokumenten ergebende technische Wirkung berufen zu können (vgl. dazu bereits Senat, Urt. v. 23.02.2023 – I-2 U 116/22, GRUR-RS 2023, 5166 Rn. 50 – Fumarsäureester).
  20. (c)
    In Anwendung dieses Maßstabes hat der Senat bereits an dieser Stelle durchgreifende Bedenken, dass die Fachperson – ein multidisziplinäres Team, bestehend aus einem Arzt mit mehrjähriger Erfahrung in der Behandlung von neurologischen Erkrankungen, insbesondere MS, und einem Pharmakologen mit mehrjähriger Erfahrung in der Entwicklung von Arzneimitteln zur Behandlung von neurologischen Erkrankungen, insbesondere MS – der ursprünglich eingereichten Anmeldung, der WO 2008/097XXC (vorgelegt als Anlage AG 20), entnimmt, dass die technische Lehre auf die Bereitstellung einer verbesserten Behandlung von RRMS durch die orale Gabe von 480 mg/Tag DMF oder MMF gerichtet ist.
    Die Lehre des Verfügungspatents in der Ursprungsoffenbarung basiert darauf, dass eine Aktivierung des Nrf2-Signalweges einen Schutz gegenüber neurodegenera-tiven oder neuroinflammatorischen Erkrankungen bieten kann. Mit möglichen Dosierungen bei der oralen Verabreichung von DMF oder MMF an Menschen befasst sich die Stammanmeldung nur an einer einzigen Stelle, nämlich in Abs. [0116]. Nach der dortigen Darstellung ist die Dosierung innerhalb eines weiten Spektrums erlaubt und dem jeweiligen Einzelfall überlassen, wenn es heißt:
    „Für DMF oder MMF kann eine wirksame Menge im Bereich von 1 mg/kg bis 50 mg/kg (z.B. von 2,5 mg/kg bis 20 mg/kg oder von 2,5 mg/kg bis 15 mg/kg) liegen. Die wirksamen Dosierungen variieren auch, wie Fachleute wissen, in Abhängigkeit von dem Verabreichungsweg, der Verwendung von Arzneimittelträgern und der Möglichkeit der gleichzeitigen Verwendung mit anderen therapeutischen Behandlungen, einschließlich der Verwendung anderer therapeutischer Mittel. Beispielsweise kann eine wirksame Dosis von DMF oder MMR [sic], die einem Patienten oral verabreicht werden soll, etwa 0,1 g bis 1 g pro Tag, 200 mg bis etwa 800 mg pro Tag (z.B. etwa 240 mg bis etwa 720 mg pro Tag; oder von etwa 480 mg bis etwa 720 mg pro Tag; oder etwa 720 mg pro Tag) betragen. …“
    Verstärkt wird der Eindruck einer weitgehend beliebigen Dosierbarkeit von DMF und MMF zusätzlich durch den sich unmittelbar anschließenden Hinweis in Abs. [0117], wo es heißt:
    „Die Dosierung (Anm.: nach Maßgabe von Abs. [0116]) kann von einem Arzt bestimmt und gegebenenfalls angepasst werden, um die beobachteten Wirkungen der Behandlung anzupassen. …“
    Angesichts der Breite der in Abs. [0116] – völlig unterschiedslos und ohne jegliche Präferenz – genannten Bereiche möglicher Dosierungen mit Tagesdosen zwischen 0,1 g (= 100 mg) und 1 g (= 1000 mg) erscheint zumindest zweifelhaft, ob der Fachmann dem Beschreibungstext eine konkrete Behauptung zu einer überlegenen oder auch nur gleichrangigen Wirksamkeit bestimmter dort genannter Dosierungen entnimmt.
    Dies hat auch schon die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Stammpatent so gesehen und festgestellt, dass die Anmeldung in der eingereichten Fassung nicht plausibel darstelle, dass mit der spezifischen Dosis von 480 mg/Tag DMF oder MMF die Aufgabe der wirksamen Behandlung von MS (gleiches gilt für RRMS) gelöst werde (Anlage AG 3 Rn. 8.5). Diese Auffassung ist durch die Technische Beschwerdekammer in ihrer nachfolgenden Beschwerdeentscheidung zum Stammpatent nicht in Frage gestellt worden. Vielmehr hat die Technische Beschwerdekammer festgestellt, dass sich die Dosis von 480 mg/Tag nicht aus der Vielzahl der Bereiche hervorhebe (Anlage AG 10 Rn. 4.2). Zwar geht es dort um die im Rahmen der unzulässigen Erweiterung erörterte Frage, ob die Dosis von 480 mg/Tag als bevorzugte Dosis angegeben oder das Ergebnis einer Auswahl ist, weshalb sich die Ausführungen nicht unmittelbar auf die von der Einspruchsabteilung erörterte Plausibilität übertragen lassen. Es lässt sich aber jedenfalls feststellen, dass die Technische Beschwerdekammer der von der Einspruchsabteilung geäußerten Auffassung, wonach der Fachmann anhand der Darstellung in Abs. [0116] den Wert von 480 mg nicht als bekanntlich wirksam erkennt, nicht widerspricht (Anlage AG 10 Rn. 4.2.2).
    Demgegenüber hat die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Verfügungspatent angenommen, dass sich die Wirksamkeit einer Tagesdosis von 480 mg/Tag DMF zur oralen Behandlung von RRMS aus Abs. [0116] ergebe, weil die Offenbarung in Zusammenhang mit der allgemeinen Lehre in den Abs. [0001], [0030] und [0104] zu lesen sei. Insofern führt sie aus, dass in Abs. [0116] eine wirksame orale Dosis von 480 mg/Tag bis 720 mg/Tag angegeben sei. Es sei aufgrund von klinischen Studien der Phase II b (D6b/D128, „Kappos“) bereits bekannt gewesen, dass eine orale Dosis von 720 mg/Tag DMF wirksam sei. Darüber hinaus hätten die Daten von D6b („Kappos“ Folie 12 auf S. 6) einen Trend zu einer Verringerung der Anzahl neuer Gd+-Läsionen bei Patienten gezeigt, die mit 360 mg/Tag behandelt worden seien, jedenfalls im Vergleich zu der Placebo-Gruppe. Auch die D9 („Schimrigk“), die in Abs. [0030] der Anmeldung zitiert werde, berichte über eine wirksame Behandlung von RRMS mit DMF nach einer 18-wöchigen Behandlungsphase mit 720 mg/Tag, gefolgt von einer 48-wöchigen Erhaltungsphase mit 360 mg/Tag. Es gebe daher – so die Einspruchsabteilung – keinen Grund, die technische Lehre in Abs. [0116] der Anmeldung in der eingereichten Fassung anzuzweifeln, wonach DMF oder MMF in einer Dosierung von 480 mg bis 720 mg pro Tag eine wirksame Behandlung von MS, insbesondere RRMS, darstelle (vgl. Anlage AG 8a Punkt 3.5.7, 3.5.8, 3.5.10).
    Diese Argumentation überzeugt den Senat nicht. Der in der Anmeldung angegebene Bereich ist gerade nicht (nur) eine Dosis von 480 mg bis 720 mg pro Tag, sondern „etwa 0,1 g bis 1 g pro Tag, 200 mg bis etwa 800 mg pro Tag (z.B. etwa 240 mg bis etwa 720 mg pro Tag; oder von etwa 480 mg bis etwa 720 mg pro Tag; oder etwa 720 mg pro Tag“ (vgl. Abs. [0116] der Anmeldeschrift). G 2/21 wird in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern aber auch dahin interpretiert, dass diese Entscheidung darauf abzielt, spekulative Erfindungen zu verhindern (EPA, Entsch. v. 28.07.2023 – T 0116/18, GRUR-RS 2023, 33506 Rn. 48, 58). Je breiter die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ist, desto wahrscheinlicher ist es nach dieser Rechtsprechung, dass die darin definierte Erfindung von Anfang an spekulativ war (EPA, Entsch. v. 28.07.2023 – T 0116/18, GRUR-RS 2023, 33506 Rn. 58). Im Streitfall wird in der Anmeldung in der ursprünglichen Fassung sogar eine Wirksamkeit von Dosierungen von unterhalb 360 mg/Tag pauschal behauptet. Dass DMF oder MMF in einer Dosierung von 100 mg bis weniger als 360 mg pro Tag eine (relevante) wirksame Dosis für die Behandlung von MS, insbesondere RRMS, darstellt, dürfte für den Fachmann im Hinblick auf „Kappos“ und „Schimrigk“ fernliegend und nicht glaubhaft gewesen sein. Dass der Fachmann vor diesem Hintergrund aus der Anmeldung eine therapeutische Wirksamkeit gerade einer Tagesdosis von 480 mg DMF oder MMF abgeleitet hätte, begegnet jedenfalls Bedenken.
    Soweit die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Verfügungspatent weiter angenommen hat, dass im Lichte der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer in der Rechtssache G 2/21 dann, wenn eine technische Wirkung (hier: therapeutische Wirksamkeit von 480 mg/Tag DMF oder MMF bei der Behandlung von RRMS) aus der ursprünglich eingereichten Anmeldung abgeleitet werden kann, auch das Ausmaß (hier: ähnliche Wirksamkeit einer Tagesdosis von 480 mg DMF/MMF bei der Behandlung von RRMS im Vergleich zu einer Tagesdosis von 720 mg DMF/MMF) als „implizit ableitbar“ angesehen werden müsse (Anlage AG 8a Rn. 3.5.8), überzeugt auch dies den Senat nicht. Zwar wird in der neueren Rechtsprechung der Beschwerdekammern wohl überwiegend angenommen, dass dann, wenn das Kriterium der Ableitbarkeit einer technischen Wirkung im Sinne von Punkt 2 der Entscheidungsformel in der Rechtsache G 2/21 erfüllt ist, dies gleichermaßen (implizit) auch für eine Verbesserung dieser Wirkung (hier: ähnliche Wirksamkeit einer geringeren Tagesdosis von 480 mg DMF/MMF bei der Behandlung von RRMS im Vergleich zu einer Tagesdosis von 720 mg DMF/MMF) gilt (vgl. EPA, Entsch. v. 30.6.2023 – T 1989/19, GRUR-RS 2023, 35482 Rn. 86; Entsch. v. 15.4.2024 – T 1994/22, GRUR-RS 2024, 14734 Rn. 33 f.; Entsch. v. 25.6.2024 – T 0840/22, GRUR-RS 2024, 23688 Rn. 46). Dass dies eine zwingende Folge der Entscheidung G 2/21 ist, vermag der Senat dieser Entscheidung allerdings nicht zu entnehmen (ebenso wohl: EPA, Entsch. v. 03.04.2025 –T 0996/22, GRUR-RS 2025, 12049 Rn 54 ff., in deutscher Übersetzung vorgelegt als Anlage AG 35a, dort Rn. 3.2.4 ff.).
    Letztlich bedarf dies hier aber keiner weiteren Vertiefung und Entscheidung.
  21. (2)
    Denn auch, wenn man die objektive Aufgabe der Erfindung in der Bereitstellung einer verbesserten oralen Behandlung von RRMS sehen wollte, hält es der Senat – unter Verweis auf die bereits im Verfahren I-2 U 116/22 erfolgten Ausführungen – für wahrscheinlich, dass der Fachmann ausgehend von „Kappos“ in naheliegender Weise zu der Dosierung von 480 mg/Tag gelangt wäre (genauso: Rechtbank Den Haag, Urt. v. 22.01.2025 – C/09/639604 / HA ZA 22-1028, vorgelegt als Anlage AG 29/29a, Tribunal Judiciaire de Paris, Urt. v. 03.02.2025 – G 24/58777, vorgelegt als Anlage AG 30/30a; Tribunal Judiciaire de Paris, Urt. v. 18.06.2025 – RG 23/02356, vorgelegt als Anlage 34/34a; Schweizer Bundespatentgericht, Urt. v. 08.07.2025 – S2024_005, vorgelegt als Anlage AG 33).
    Voraussetzung hierfür ist nach der Rechtsprechung des EPA, dass sich im Stand der Technik insgesamt eine Lehre findet, die die mit der objektiven technischen Aufgabe befasste Fachperson veranlassen würde, den nächstliegenden Stand der Technik unter Berücksichtigung dieser Lehre zu ändern oder anzupassen und somit zu etwas zu gelangen, was unter den Patentanspruch fällt, und das zu erreichen, was mit der Erfindung erreicht wird (EPA Prüfungsrichtlinien Teil G. Kap. VII. Ziff. 4.). Dabei geht es nicht darum, ob die Fachperson durch eine Änderung oder Anpassung des nächstliegenden Stands der Technik zu der Erfindung hätte gelangen können, sondern darum, ob sie tatsächlich dahin gelangt wäre, weil der Stand der Technik sie dazu veranlasste, da sie sich davon eine Verbesserung oder einen Vorteil erwartete (EPA Prüfungsrichtlinien Teil G. Kap. VII. Ziff. 5.3).
  22. (a)
    Das übergeordnete Ziel von „Kappos“ besteht darin, ein Dosierungsschema für DMF zur oralen Behandlung von MS bereitzustellen, das effizient und sicher ist (Anlage AG 3 Rn. 8.2). Die Dosis von 720 mg/Tag wird insofern als wirksame Dosis dargestellt (Anlage AG 6 Folie 20) und es werden übliche Nebenwirkungen beobachtet, insbesondere Kopfschmerzen, Magen-Darm-Symptome und Flush (Anlage AG 6 Folie 19, S. 9). Die in den Studien verwendeten Dosierungen umfassen orale Dosen von 120 mg und 240 mg, die entweder einmal oder dreimal täglich verabreicht werden (1×120 mg/Tag; 3×120 mg/Tag; 3×240 mg/Tag). Die Studien zeigen, dass eine orale Behandlung mit DMF in einer Dosierung von 720 mg/Tag (240 mg dreimal täglich) zu einer statistisch signifikanten Verringerung der Gesamtzahl der Gadolinium-verstärkenden Hirnläsionen während der sechsmonatigen Behandlung gegenüber Placebo führt. Hinsichtlich der Behandlungsgruppe, die mit 360 mg pro Tag behandelt wurde, ergibt sich für den Fachmann aus den in „Kappos“ wiedergegebenen Folien ein widersprüchliches Bild. Während auf Folie 12, auf der über neue Läsionen in den Wochen 12 bis 24 für den vorgegebenen primären Endpunkt berichtet wird, ein Behandlungseffekt bereits bei einer Dosierung von 120 mg pro Tag im Vergleich zu Placebo einsetzt, der sich dann bei 360 mg pro Tag etwas verbessert und der sich schließlich bei 720 mg pro Tag ganz erheblich weiter verbessert, zeigen die weiteren Nachweise in den Folien 13-15 zunächst eine Verbesserung, wenn man von Placebo auf 120 mg pro Tag übergeht, dann ist die Wirkung bei 360 mg pro Tag weniger ausgeprägt und bei 720 mg wieder stärker ausgeprägt (vgl. auch die ausführliche Darstellung in dem Urt. des Schweizer Bundespatentgerichts v. 08.07.2025, dort S. 35 ff., vorgelegt als Anlage AG 33).
  23. (b)
    In ihrer Entscheidung zum Stammpatent hat die Einspruchsabteilung ausgeführt, dass der Fachmann in Anbetracht der Nebenwirkungen, die mit der in den Folien von „Kappos“ als wirksam dargestellten Tagesdosis von 720 mg verbunden seien, eine ausreichende Motivation für die Optimierung des Dosierungsschemas durch Routineversuche gehabt habe (Anlage AG 3 Rn. 8.7.1; Unterstreichung durch den Senat). Auf dieser Grundlage wäre er entweder mit „Kappos“ als einem allgemeinen Rahmen für weitere Studien zur Dosisoptimierung oder in Kombination mit dem allgemeinen Fachwissen, dargestellt durch die ICH Topic E 4 „Dose Response Information to Support Drug Registration“ (vorgelegt als Anlage rop 22; nachfolgend nur noch: ICH-Guidelines), die die Standardschritte der Dosisoptimierung widerspiegeln, in naheliegender Weise zu der Dosierung von 480 mg/Tag gelangt (Anlage AG 3 Rn. 8.7.1).
    Dies erscheint dem Senat im Ergebnis überzeugend. Die Fachperson erkennt, dass bei der Studie von „Kappos“ mehrere mögliche Dosierungsschritte zwischen der dort als klinisch nicht relevant bezeichneten Dosierung von 360 mg/Tag und der nachgewiesen wirksamen Dosierung von 720 mg/Tag übersprungen wurden. Für den Fachmann bestand auch unter Berücksichtigung der für ihn nicht ohne weiteres nachvollziehbaren Studienergebnisse zu der untersuchten Tagesdosis von 360 mg/Tag die Motivation, die Lücke zwischen 360 mg und 720 mg zu untersuchen (so auch das Schweizer Bundespatentgericht in seinem Urt. v. 08.07.2025, S. 39, vorgelegt als Anlage AG 33). Da in den klinischen Studien, über die in „Kappos“ berichtet wird, Tabletten mit 120 mg und 240 mg DMF verwendet worden sind, bestand der erste offensichtliche Datenpunkt zur Schließung dieser Lücke darin, anstelle von 3 Tabletten mit 120 mg für die Tagesdosis von 360 mg entweder 4 Tabletten mit 120 mg oder 2 Tabletten mit 240 mg zu verwenden, was in beiden Fällen zu einer Tagesdosis von 480 mg führt. Auch 5 Tabletten mit 120 mg hätte der Fachmann ggf. noch in Betracht gezogen, was zu einer Tagesdosis von 600 mg DMF führt. Für den Fachmann war angesichts der Studienergebnisse von „Kappos“ nicht auszuschließen, dass sich für eine der vorgenannten Tagesdosen eine therapeutische Wirksamkeit herausstellt. Vielmehr bestand für das Gegenteil eine gewisse Erfolgserwartung allein deshalb, weil es sich um einen reinen Zufall gehandelt hätte, wenn mit der – unter Auslassung mehrerer möglicher geringerer Dosen – getesteten Tagesdosis von 720 mg die erste und niedrigste therapeutisch wirksame Dosis gefunden worden wäre. Insofern weiß der Fachmann, dass Arzneimittel nicht linear sondern in einer sog. Dosis-Wirkungs-Kurve (Sigmoidal-Kurve), wirken, die beispielsweise wie folgt aussehen kann (vgl. Berufungserwiderung v. 05.06.2025 im Verfahren I-2 U 33/25, S. 8):
  24. Technisch-wissenschaftlich betrachtet bestand erheblicher Grund zu der Annahme, dass mit der Studie von „Kappos“ die (untere) Wirksamkeitsgrenze noch nicht ermittelt war, sondern diese weiter aufzuklären war. Nach dem Ergebnis der Studie von „Kappos“ lag die verbliebene Wissenslücke klar zutage und es war ebenso offensichtlich, was zu tun war, um sie zu schließen. Dem Fachmann war die Dosis-Wirkungs-Kurve von DMF nicht genau bekannt. Er hatte deshalb keine genauen Informationen darüber, ab welcher Dosierung das Wirkplateau von DMF beginnt und ob sich die nach „Kappos“ statistisch signifikante Dosis von 720 mg/Tag auf diesem Wirkplateau befindet oder nicht. Daher hatte der Fachmann auch keine Kenntnis darüber, ob mit einer geringeren Dosierung als 720 mg/Tag ein Wirkverlust einhergeht. Angesichts der erheblichen Spanne zwischen 360 mg/Tag und 720 mg/Tag hätte es aber einen Glücksgriff dargestellt, wenn mit der getesteten Wirkstoffdosis von 720 mg/Tag zufällig die erste und niedrigste therapeutisch wirksame Dosis gefunden worden wäre. Daher hält der Senat die Annahme der Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Stammpatent, wonach der Fachmann – trotz des Vorliegens einer (ersten) Phase II b-Studie – durchaus Anlass hatte, zu überprüfen, wo die 720 mg/Tag auf der Dosis-Wirkungskurve zu verorten sind und ob eine Reduzierung der Dosis überhaupt einen Wirkverlust bedeutet hätte, im Ergebnis für zutreffend.
    Nach den ICH-Richtlinien sind weitere Dosisfindungsstudien sogar nach Markteinführung noch zu empfehlen (ICH-Guidelines S. 5). Der Nutzen einer geringeren Wirkstoffdosis liegt darin, dass ein Patient weniger Tabletten am Tag einzunehmen hat und dass er auch mit Blick auf die Verstoffwechselung des Medikaments in der Leber potenziell toxische Abbauprodukte und der Auswirkungen auf die Nieren und andere Organe von einer geringeren Dosis profitieren würde. Dieser Gesichtspunkt hat vorliegend deshalb ganz besonderes Gewicht, weil von einer MS-Erkrankung betroffene Patienten Medikamente über außerordentlich lange Zeiträume, gegebenenfalls sogar Jahrzehnte, einzunehmen haben (genauso auch die Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Verfügungspatent, Anlage AG 8 Rn. 3.5.12).
    Insoweit teilt der Senat die Einschätzung der Verfügungsklägerin nicht, dass der Fachmann – auch aus ethischen Erwägungen – davon abgesehen hätte, eine geringere als die erwiesenermaßen wirksame Dosis von 720 mg/Tag in weiteren Dosisfindungsstudien einzusetzen, weil bei MS mit fortschreitenden Hirnläsionen irreparable Schäden drohen. Aus den ICH-Guidelines lässt sich solches nicht entnehmen; vielmehr werden auch bei lebensbedrohlichen Krankheiten weitere Dosisfindungsstudien unter bestimmten Umständen empfohlen:
    „In bestimmten therapeutischen Bereichen haben sich unterschiedliche therapeutische und forschungsbezogene Verhaltensweisen entwickelt, die sich auf die Art der typischerweise durchgeführten Studien auswirken. Parallele Dosis-Wirkungs-Studien mit Placebo oder placebokontrollierten Titrationsstudien (sehr wirksame Studien, die typischerweise bei Angina pectoris, Depressionen, Bluthochdruck usw. eingesetzt werden) wären bei der Untersuchung einiger Krankheiten, wie lebensbedrohlicher Infektionen oder potenziell heilbarer Tumore, nicht akzeptabel, zumindest wenn wirksame Behandlungen bekannt sind. Da in diesen therapeutischen Bereichen eine beträchtliche Toxizität in Kauf genommen werden könnte, werden in der Regel relativ hohe Dosen von Arzneimitteln gewählt, um schnell die größtmögliche positive Wirkung zu erzielen. Dieser Ansatz kann zu Dosisempfehlungen führen, die einigen Patienten den potenziellen Nutzen eines Arzneimittels vorenthalten, indem sie eine Toxizität hervorrufen, die zum Abbruch der Therapie führt. Andererseits kann die Verwendung niedriger, möglicherweise unzureichend wirksamer Dosen oder der Titration bis zur gewünschten Wirkung inakzeptabel sein, da ein anfänglicher Misserfolg in diesen Fällen eine für immer verlorene Chance auf Heilung darstellen kann.“ (S. 4, vierter Absatz, „Studies in Life-Threatening Diseases“)
    „Dennoch sollten die Entwickler von Arzneimitteln auch bei lebensbedrohlichen Krankheiten stets die Vor- und Nachteile verschiedener Therapieschemata abwägen und überlegen, wie sie Dosis, Dosisintervalle und Dosiseskalationsstufen am besten wählen. Selbst bei Indikationen mit lebensbedrohlichen Krankheiten ist die höchste tolerierte Dosis oder die Dosis mit der größten Wirkung auf einen Surrogatmarker nicht immer die optimale Dosis. Wird nur eine Einzeldosis untersucht, können die Blutkonzentrationsdaten, die aufgrund pharmakokinetischer Unterschiede fast immer eine erhebliche individuelle Variabilität aufweisen, im Nachhinein Hinweise auf mögliche Konzentrations-Wirkungs-Beziehungen liefern.“ (S. 4, fünfter Absatz)
    „Die Wahl des Studiendesigns und der Studienpopulation bei Dosis-Wirkungs-Studien hängt von der Entwicklungsphase, der zu untersuchenden therapeutischen Indikation und der Schwere der Erkrankung in der interessierenden Patientengruppe ab. Beispielsweise kann das Fehlen einer geeigneten Rettungstherapie für lebensbedrohliche oder schwere Erkrankungen mit irreversiblen Folgen die Durchführung von Studien mit Dosen unterhalb der maximal verträglichen Dosis aus ethischen Gründen ausschließen.“ (S. 5, vorletzter Absatz, „Study designs for assessing dose-response, general“)
    Hiernach sind selbst bei lebensbedrohlichen Krankheiten stets die Vor- und Nachteile verschiedener Therapieschemata abzuwägen und die höchste tolerierte Dosis ist nicht immer die optimale Dosis. Die Grenze für die Durchführung weiterer Dosisfindungsstudien ist nach den ICH-Guidelines dort erreicht, wo Patienten mit lebensbedrohlichen, aber potentiell heilbaren Krankheiten durch weitere Dosisfindungsstudien ggf. die zur Heilung notwendige Dosis vorenthalten bleibt. So liegt der Fall vorliegend aber nicht. Zum einen handelt es sich bei MS zwar um eine lebensbedrohliche Krankheit, diese ist aber nicht heilbar, sondern durch Medikation nur in ihrem Verlauf modifizierbar. Zum anderen lagen mit „Schimrigk“ und „Kappos“ bereits Dosisfindungsstudien vor, die gezeigt haben, dass auch eine Dosierung unter 720 mg/Tag DMF eine gewisse Wirksamkeit aufweist. Vor diesem Hintergrund wägt die Fachperson die mit einer weiteren Studie verbundenen Risiken einer nicht ausreichenden Behandlung von MS-Patienten gegen den übergeordnete Nutzen einer solchen Studie ab, die im Falle eines erfolgreichen Nachweises der Wirksamkeit einer geringeren Dosis unzählige Patienten davon befreit hätte, über lange und unabsehbare Zeit eine deutlich zu hohe Wirkstoffdosis einzunehmen mit der zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgeräumten Gefahr größerer Nebenwirkungen und zumindest der unter therapeutischen Gesichtspunkten unnötig hohen Belastung bei der Verstoffwechselung des Wirkstoffs. Dabei war es dem Fachmann ohne weiteres möglich, ein vor dem Hintergrund der Studien von „Schimrigk“ und „Kappos“ geeignetes Studiendesign zu wählen, das die Risiken für die teilnehmenden Patienten möglichst gering hält, wie dies auch die tatsächlich durchgeführten Phase III-Studien zeigen, in denen gerade eine Tagesdosis von 480 mg DMF untersucht wurde und die deren therapeutische Wirksamkeit belegt haben.
    Dabei kommt es nicht entscheidend auf die Frage an, ob sich aus den Folien von „Kappos“ eine (gegebenenfalls statistisch relevante) Dosisabhängigkeit der Nebenwirkungen entnehmen lässt oder eine Dosisabhängigkeit der Nebenwirkungen von DMF oder MMF zum Prioritätstag allgemeines Fachwissen war. Denn jedenfalls lässt sich den Folien von „Kappos“ entnehmen, dass die Tagesdosis von 720 mg/Tag mit Nebenwirkungen verbunden war (so auch die Entscheidung der Einspruchsabteilung zum Stammpatent, Anlage AG 3 Rn. 8.7.1, vgl. auch Rn. 8.2). Da der Fachmann zumindest eine gewisse Erwartungshaltung haben durfte, mit einer geringeren Dosierung ggf. die Nebenwirkungen reduzieren zu können (vgl. auch: Schweizer Bundespatentgericht, Urt. v. 08.07.2025 – S2024_005, S. 40, vorgelegt als Anlage AG 33), hatte er aus den vorstehend genannten Gründen eine ausreichende Motivation, ausgehend von „Kappos“ weitere Dosisfindungsstudien vorzunehmen. Ob er auch andere (medizinische) Möglichkeiten gehabt hätte, die Nebenwirkungen zu reduzieren, etwa durch eine alternative Formulierung oder eine zusätzliche, allein auf die Reduktion der Nebenwirkungen abzielende Medikation, spielt an dieser Stelle keine Rolle. Der Fachmann wird einer Dosisreduzierung jedenfalls den Vorrang geben vor der Verabreichung weiterer, den Körper ggf. zusätzlich belastender Medikamente, so lange er eine gewisse Erwartungshaltung hat, mit einer Reduzierung der Wirkstoffdosis ggf. auch die Nebenwirkungen reduzieren zu können.
    Soweit Prof. Kappos dem in seinen Stellungnahmen entgegengetreten ist und die Auffassung vertreten hat, dass auf der Grundlage der Studie zu erwarten gewesen wäre, dass eine niedrigere Dosis als 720 mg/Tag zu einer geringeren Wirksamkeit führen würde, und dass der Fachmann keine Dosisoptimierung vornehmen würde, indem er die einzig wirksame Dosis nach der Phase II b-Studie senke, ist zwar einzuräumen, dass den Erklärungen von Prof. Kappos als einem der Leiter der in den Folien gewürdigten Studie Gewicht zukommt und ihnen grundsätzlich Anhaltspunkte für das fachmännische Verständnis zum Prioritätstag entnommen werden können. Indes handelt es sich bei den Erklärungen von Prof. Kappos nicht um unparteiische Äußerungen, sondern um qualifizierten Sachvortrag der Verfügungsklägerin, die naturgemäß ein Interesse an einer abweichenden Beurteilung der Studienergebnisse hat. Schon deswegen können die parteigutachterlichen Bemerkungen für den Senat nicht denselben Stellenwert bei der Beurteilung des Rechtsbestands des Verfügungspatents besitzen, wie er der eingehend begründeten Entscheidung der persönlich und sachlich unabhängigen Einspruchsabteilung in ihrer Entscheidung zum Stammpatent zukommt, deren Erwägungen im Übrigen auch von dem technisch fachkundig besetzten Schweizer Bundespatentgericht in seinem ausführlich und überzeugend begründeten Urteil vom 08.07.2025 bestätigt wurden (Anlage AG 33, S. 30 ff. Rn. 42).
  25. (c)
    Soweit die Einspruchsabteilung demgegenüber in ihrer Entscheidung zum Verfügungspatent anführt, aus den in „Kappos“ beschriebenen Phase II-Dosisfindungsstudien habe sich ergeben, dass nur eine der getesteten Dosen, nämlich 720 mg/Tag, bei der Behandlung von RRMS wirksam sei, gab es – wie vorstehend erörtert – keine Anhaltspunkte dafür, dass mit dieser Menge – zufällig – die geringste signifikant wirksame Dosierung von DMF gefunden war. Anlass, hieran zu zweifeln, hatte der Fachmann allein aufgrund des großen Abstandes der Dosis von 720 mg/Tag DMF zu der nächsten getesteten geringeren Dosis von 360 mg/Tag DMF.
    Dies gilt umso mehr unter Berücksichtigung der bereits vorstehend dargestellten Unstimmigkeiten der Studienergebnisse von „Kappos“ im Hinblick auf die getestete Tagesdosis von 360 mg/Tag und die Studie von „Schimrigk“, die nahelegt, dass auch mit der Dosis von 360 mg/Tag DMF eine gewisse Wirksamkeit bei der Behandlung von RRMS erzielt werden kann. „Schimrigk“ berichtet über eine klinische Studie an 10 Patienten mit RRMS mit dem Produkt „Fumaderm forte®“. Das Medikament wurde in einer Dosierung verabreicht, bei der Patienten zunächst über einen kurzen Zeitraum von 18 Wochen eine Tagesdosis von 720 mg/Tag DMF erhielten, dann über 4 Wochen unbehandelt blieben und schließlich über 48 Wochen mit einer Dosis von 360 mg/Tag DMF behandelt wurden. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Patienten während der ersten Behandlungsphase eine deutliche Verbesserung gegenüber dem Ausgangswert verzeichneten und während der Erhaltungsphase mit der niedrigeren Dosis eine weitere Verbesserung erzielt wurde (Anlage AG 7 S. 607).
    Die Einspruchsabteilung führt in ihrer Entscheidung zum Verfügungspatent aus, dass in „Schimrigk“ zwar ein Behandlungseffekt für die DMF-Dosis von 360 mg/Tag in der zweiten Behandlungsphase nachgewiesen werde, allerdings erst nach einem ersten Zeitraum, in dem die Patienten DMF in der hohen Tagesdosis von 720 mg/Tag erhalten hätten. Aus „Schimrigk“ gehe hervor, dass die in der zweiten Phase berichtete therapeutische Wirksamkeit auf die erste Phase zurückzuführen sei und nicht allein auf die (als Erhaltungsdosis gedachte) Behandlung in der zweiten Phase. Aufgrund dessen erfordere „Schimrigk“ eindeutig eine Dosis von 720 mg/Tag als Vorbehandlung. Da ein Verlust an Wirksamkeit unerwünscht gewesen sei, seien die Vorteile einer niedrigeren Dosis von 480 mg/Tag bei ähnlicher Wirksamkeit wie bei 720 mg/Tag zum Zeitpunkt der Priorität nicht absehbar gewesen (Anlage AG 8 Rn. 3.5.13).
    Soweit dem die Vorstellung zugrunde liegen sollte, dass der Schutzbereich des Verfügungspatents keine Dosierungsschemata mit unterschiedlichen Dosierungen über bestimmte Zeiträume umfasse, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Das Verfügungspatent ist – worüber zwischen den Parteien kein Streit besteht – nicht auf die ausschließliche und stete Behandlung mit DMF in einer Tagesdosis von 480 mg beschränkt. Vielmehr werden auch Dosierungsschemata vom Schutzbereich umfasst, die vor oder nach der Behandlung mit 480 mg/Tag eine niedrigere oder höhere Dosierung vorsehen. Andernfalls wäre auch die angegriffene Ausführungsform nicht vom Schutzbereich des Verfügungspatents umfasst.
    Vor diesem Hintergrund aber belegt „Schimrigk“ eine gewisse therapeutische Wirksamkeit einer Tagesdosis von 360 mg/Tag DMF bei der oralen Behandlung von RRMS. Soweit „Kappos“ demgegenüber nahelegt bzw. zeigt, dass diese Dosis aber nicht die gleiche therapeutische Wirksamkeit aufweist wie eine Tagesdosis von 720 mg/Tag DMF, hätte dies – aus den vorstehend erörterten Gründen – den Fachmann nicht von weiteren Dosisfindungsstudien abgehalten, sondern ihn vielmehr veranlasst, den nicht getesteten Dosisbereich zwischen 360 mg/Tag und 720 mg/Tag weiter aufzuklären.
  26. bb)
    Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen kommt die Annahme eines hinreichend gesicherten Rechtsbestands aber jedenfalls im Hinblick auf die Praxis der deutschen Gerichte nicht in Betracht.
  27. (1)
    Nach der nationalen Praxis wird – anders als im Rahmen des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes des EPA – bereits in einem ersten Schritt eine objektive Aufgabe formuliert, die dazu dient, einen konkreten Stand der Technik aufzufinden, der einen gerechtfertigten „Ausgangspunkt“ für die Bemühungen des Fachmanns zur Lösung der Aufgabe bildet. Die Bestimmung des technischen Problems (der Aufgabe) dient dazu, den Ausgangspunkt der fachmännischen Bemühungen um eine Bereicherung des Stands der Technik ohne Kenntnis der Erfindung zu lokalisieren. Welche Anregungen dem Fachmann durch den Stand der Technik gegeben wurden, und ob der Gegenstand des Streitpatents geeignet ist, das der Erfindung zugrundeliegende technische Problem zu lösen, ist für dessen Bestimmung unerheblich, und erst bei der anschließenden und davon zu trennenden Prüfung der Schutzfähigkeit zu bewerten (vgl. BGH, GRUR 2015, 356 Rn. 9 – Repaglinid; GRUR 2015, 352 Rn. 16 f. – Quetiapin; GRUR 2016, 921 Rn. 14 – Pemetrexed; GRUR 2022, 67 Rn. 10 – Stereolithographiemaschine).
    Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs haben Vorteile, die sich erst durch die Erfindung als erreichbar herausgestellt haben, bei der Bestimmung des der Erfindung zugrundeliegenden Problems ebenso außer Betracht zu bleiben wie Elemente, die zur technischen Lösung gehören (BGH, GRUR 2015, 356 Rn. 9 – Repaglinid; GRUR 2020, 603 Rn. 12 – Tadalafil). Das der Erfindung zugrundeliegende technische Problem ist vielmehr so allgemein und neutral zu formulieren, dass sich die Frage, welche Anregungen der Fachmann durch den Stand der Technik erhielt, allein bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit stellt (BGH, GRUR 2015, 352 Rn. 17 – Quetiapin; GRUR 2020, 603 Rn. 12 – Tadalafil; GRUR 2024, 1432 Rn. 13 – Mirabegron). Die Aufgabe stellt somit lediglich den Ausgangspunkt für die fachmännischen Bemühungen zu einer Bereicherung des Stands der Technik ohne Kenntnis der Erfindung dar, von dem aus sodann die hieran erst anschließende und davon zu trennende Prüfung auf Patentfähigkeit, insbesondere auf erfinderische Tätigkeit, zu erfolgen hat (vgl. BGH, GRUR 2015, 356 Rn. 9 – Repaglinid; GRUR 2015, 352 Rn. 16 f. – Quetiapin).
    Zwar bestimmt sich das technische Problem (die Aufgabe) danach, was die Erfindung objektiv leistet (vgl. BGH, GRUR 2010, 602 Rn. 27 – Gelenkanordnung; GRUR 2011, 607 Rn. 12 – Kosmetisches Sonnenschutzmittel III; GRUR 2012, 1130 Rn. 9 – Leflunomid; GRUR 2012, 1123 Rn. 22 – Palettenbehälter III; GRUR 2015, 352 Rn. 11 – Quetiapin; GRUR 2016, 921 Rn. 14 – Pemetrexed; GRUR 2018, 390 Rn. 32 – Wärmeenergieverwaltung). Maßgebend ist insoweit jedoch, was die im Streitpatent beschriebene Erfindung aus Sicht des Fachmanns in der Zeit vor Vollendung der Erfindung leistet (BPatG, Urt. v. 27.06.2023 – 3 Ni 13/22, GRUR-RS 2023, 43607 Rn. 21 – Fingolimod, m.w.N.). Mit einem Merkmal verbundene besondere Vorteile können nur dann zur Begründung einer erfinderischen Tätigkeit herangezogen werden, wenn sie in den Anmeldeunterlagen (BPatG, Urt. v. 05.02.2019 – 4 Ni 47/17, BeckRS 2019, 9123 Rn. 105 – Verfahren zum Herstellen eines Zahnmodells; BPatG, GRUR 2019, 1176 Rn. 104 – Verschleißschutzschicht) bzw. der Patentschrift (BGH, GRUR 2023, 1259 Rn. 76 – Schlossgehäuse) offenbart oder für den Fachmann erkennbar sind (BGH, Urt. v. 27.11.2018 – X ZR 41/17, BeckRS 2018, 40825 Rn. 46; Urt. v. 28.01.2021 – X ZR 178/18, GRUR-RS 2021, 4292 Rn. 135 – Hadamardbasierte Sequenzen; GRUR 2023, 1259 Rn. 76 – Schlossgehäuse). Fehlt es hieran, kann ein Vorteil aber auch bei der Formulierung der Aufgabe nicht berücksichtigt werden, wobei Vorteile, die sich erst durch die Erfindung als erreichbar herausgestellt haben, bei der Bestimmung des der Erfindung zugrundeliegenden Problems – wie ausgeführt – nach der nationalen Praxis ohnehin außer Betracht zu bleiben haben.
    Nach diesen Grundsätzen kann die Aufgabe ausgehend von „Kappos“ nur in der Bereitstellung einer alternativen oralen Behandlung von RRMS mit DMF oder MMF gesehen werden, da weder in der Anmeldung in ihrer eingereichten Fassung noch in der Patentschrift an irgendeiner Stelle offenbart ist, dass eine Tagesdosis von 480 mg DMF eine ähnliche therapeutische Wirkung haben könnte wie eine Tagesdosis von 720 mg DMF. Dies ist der Anmeldung bzw. Patentschrift auch nicht mittelbar zu entnehmen oder sonst wie für den Fachmann erkennbar.
  28. (2)
    Zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ist nach der nationalen Praxis zu prüfen, ob die Fachperson ausgehend vom Stand der Technik eine Veranlassung und eine angemessene Erwartungshaltung hatte, zu dem erfindungsgemäßen Gegenstand zu gelangen (vgl. BGH, GRUR 2023, 39 Rn. 88, 92 – Leuchtdiode; GRUR 2019, 1032 – Fulvestrant; GRUR 2020, 1178 Rn. 47 ff., 85 ff. – Pemetrexed II). Die Anforderungen an eine angemessene Erfolgserwartung lassen sich dabei nicht allgemeingültig formulieren, sondern sind jeweils im Einzelfall unter Berücksichtigung des in Rede stehenden Fachgebiets, der Größe des Anreizes für den Fachmann, des erforderlichen Aufwands für das Beschreiten und Verfolgen eines bestimmten Ansatzes und der gegebenenfalls in Betracht kommenden Alternativen sowie ihrer jeweiligen Vor- und Nachteile zu bestimmen (BGH, GRUR 2016, 1027 Rn. 22 – Zöliakiediagnoseverfahren; GRUR 2012, 803 Rn. 46 – Calcipotriol-Monohydrat; GRUR 2010, 123 Rn. 38 ff. – Escitalopram; GRUR 2019, 1032 Rn. 31 – Fulvestrant; GRUR 2020, 1178 Rn. 108 – Pemetrexed II; GRUR 2024, 1432 Rn. 83 – Mirabegron). Hatte der Fachmann am Prioritätstag Anlass, zu irgendeinem, gegebenenfalls auch späteren Zeitpunkt vollständige Studien zur Dosis-Wirkungs-Beziehung eines bestimmten Wirkstoffs anzustellen, ist eine Dosierung, die sich aufgrund einer solchen Studie als vorteilhaft erweist, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs durch den Stand der Technik nahegelegt.
    In der von den Parteien in diesem Rechtsstreit diskutierten Entscheidung „Tadalafil“ (GRUR 2020, 603) hat der Bundesgerichtshof festgestellt, dass es bei der Entwicklung einer Formulierung für einen Humanarzneimittelwirkstoff in der Regel nicht maßgeblich sei, ob der Fachmann erwarten könne, ein für eine klinische Studie geeignetes Ergebnis zu finden. Vielmehr sei entscheidend, ob der Fachmann am Prioritätstag Anlass hatte, zu irgendeinem, ggf. auch späteren Zeitpunkt vollständige Studien zur Dosis-Wirkungs-Beziehung eines bestimmten Wirkstoffs anzustellen; eine Dosierung, die sich aufgrund einer solchen Studie als vorteilhaft erweise, sei durch den Stand der Technik nahegelegt (GRUR 2020, 603 Rn. 64 ff.; vgl. auch den Leitsatz in der parallelen Entscheidung des Supreme Court v. 27.03.2019 in GRUR Int. 2019, 662: „Ein Patentanspruch auf Dosierung beruht nicht auf erfinderischer Tätigkeit, wenn im Rahmen klinischer und präklinischer Studien ein qualifiziertes Expertenteam die beanspruchte Dosierung routinemäßig ausprobieren würde, selbst dann, wenn die vorherige Erfolgserwartung relativ gering war.“).
    Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine technische Lehre, die eine von einem bestimmten Ausgangspunkt aus eher nicht zu erwartende Wirkung zeitigt, dem Fachmann daher dennoch nahegelegt, wenn sie sich aus einer anderen Perspektive als naheliegende Lösung ergibt. Die überraschende Wirkung ist in solchen Konstellationen als bloßer Bonuseffekt anzusehen, der nicht zur Bejahung der erfinderischen Tätigkeit führen kann (st. Rspr., vgl. nur BGH, GRUR 2020, 603 Rn. 74 – Tadalafil).
    In der Entscheidung „Dexmedetomidin“ (Urt. v. 17.09.2019 – X ZR 71/17, BeckRS 2019, 28185) hat der Bundesgerichtshof daher die erfinderische Tätigkeit im Hinblick auf ein Medikament verneint, welches unerwartet und vorteilhaft eine wirksame Sedierung mit einer besonders ausgeprägten Ansprechbarkeit und Aufrechterhaltung der Orientiertheit des Patienten verbindet. Zur Begründung hat der Bundesgerichtshof insbesondere ausgeführt, für den Fachmann, der Dexmedetomidin als naheliegende Auswahl aus den ihm zur Verfügung stehenden Sedierungsmitteln heranzogen habe, stelle dessen besondere Sedierungsqualität einen Bonus-Effekt dar, der nicht vorhersehbar gewesen sein mag, gleichwohl aber das Ergebnis fachmännischen Handelns gewesen sei (BeckRS 2019, 28185 LS 2 u. Rn. 50-68).
    Darüber hinaus können – wie bereits ausgeführt – besondere Vorteile nur dann zur Begründung einer erfinderischen Tätigkeit herangezogen werden, wenn sie in den Anmeldeunterlagen bzw. der Patentschrift offenbart oder für den Fachmann bereits aufgrund seines Fachwissens erkennbar sind (BGH, Urt. v. 27.11.2018 – X ZR 41/17, BeckRS 2018, 40825 Rn. 46; Urt. v. 28.01.2021 – X ZR 178/18, GRUR-RS 2021, 4292 Rn. 135 – Hadamardbasierte Sequenzen; GRUR 2023, 1259 Rn. 76 – Schlossgehäuse; BPatG, Urt. v. 21.11.2023 – 3 Ni 16/22 (EP), GRUR-RS 2023, 45095 Rn. 28 – Gaszufuhr; Urt. v. 05.02.2019 – 4 Ni 47/17, BeckRS 2019, 9123 Rn. 103 – Verfahren zum Herstellen eines Zahnmodells; GRUR 2019, 1176 Rn. 104 – Verschleißschutzschicht; Schulte/Moufang, PatG, 12. Aufl., § 34 Rn. 424; Engels/Ackermann, GRUR 2024, 729, 733). Nur dann kann die technische Wirkung als erfindungsbegründend herangezogen werden, insbesondere auch nachträglich als Argument für eine gezielte, erfinderische und nicht nur eine beliebige Auswahl z.B. bestimmter Parameter reklamiert werden. Ein Nachbringen vorteilhafter, aber ursprünglich nicht offenbarter oder „erkennbarer“ Effekte scheidet danach zur Begründung der erfinderischen Tätigkeit aus (Engels/Ackermann, GRUR 2024, 729, 733 m.w.N.).
    Es wurde oben bereits im Einzelnen dargestellt, dass der Fachmann ausgehend von „Kappos“ eine ausreichende Motivation hatte, weitere Dosisfindungsstudien durchzuführen und dabei insbesondere auch die therapeutische Wirksamkeit der beanspruchten Tagesdosis von 480 mg DMF zu untersuchen. Auf dieser Grundlage wäre er in naheliegender Weise zu der Dosierung von 480 mg/Tag gelangt.
    Der Umstand, dass eine niedrigere Dosis von 480 mg/Tag DMF oder MMF bei der Behandlung von RRMS ähnlich wirksam ist wie eine Dosis von 720 mg/Tag DMF oder MMF, gereicht nicht zur Patentfähigkeit des Gegenstands des Verfügungspatents. Denn dabei handelt es sich lediglich um einen zusätzlichen, unerwarteten und überraschenden Effekt, der nach der vorstehend erörterten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Annahme einer erfinderischen Leistung für sich genommen nicht rechtfertigen kann (vgl. insbesondere: BGH, GRUR 2003, 317, 320 – Kosmetisches Sonnenschutzmittel I; GRUR 2010, 123 Rn. 41 – Escitalopram; GRUR 2015, 356 Rn. 44 – Repaglinid; Urt. v. 17.09.2019 – X ZR 71/17, BeckRS 2019, 28185 Rn. 68 – Dexmedetomidin; GRUR 2020, 603 Rn. 74 – Tadalafil).
  29. (3)
    Dass im vorliegenden Fall noch keine deutsche Nichtigkeitsklage anhängig ist, sondern „lediglich“ ein Einspruchsverfahren vor dem EPA, und eine Nichtigkeitslage gegen den deutschen Teil des Verfügungspatents derzeit auch nicht zulässig wäre (§ 81 Abs. 1 S. 2 PatG), steht der Berücksichtigung der nationalen Praxis nicht entgegen.
    Der Senat hat erst kürzlich in anderer Sache betreffend die Aussetzung (§ 148 ZPO) eines Patentverletzungsrechtsstreits darauf hingewiesen, dass das Verletzungsgericht nicht gehindert ist, im Rahmen des ihm in § 148 ZPO eingeräumten Ermessens auch die Besonderheiten der in Rede stehenden Verfahrenskonstellation zu berücksichtigen (vgl. Protokollhinweis v. 06.02.2025 – I-2 U 10/24). Zwar ist bei der Entscheidung über die Aussetzung in der Regel von ausschlaggebender Bedeutung, welche Erfolgsaussicht das Verletzungsgericht dem anhängigen Rechtsbestandsangriff beimisst. Bei uneingeschränkter Anlegung dieses Maßstabs käme eine Aussetzung aber etwa dann nicht in Betrachtung, wenn einem Angriff gegen den Rechtsbestand des Patents Erfolgsaussichten nur im Hinblick auf eine Entgegenhaltung beigemessen werden können, die im Einspruchsverfahren vor dem Europäischen Patentamt nicht berücksichtigt werden darf. Das Verletzungsgericht ist in einem solchen Fall nicht gehindert, im Rahmen des ihm in § 148 ZPO eingeräumten Ermessens auch die Besonderheiten der in Rede stehenden Verfahrenskonstellation zu berücksichtigen. Es kann und muss von der Möglichkeit, das Verfahren im Hinblick auf ein anhängiges Einspruchsverfahren auszusetzen, deshalb auch dann Gebrauch machen, wenn es damit rechnet, dass das Einspruchsverfahren erfolglos bleiben wird, eine im Anschluss daran erhobene Nichtigkeitsklage wegen einer Entgegenhaltung, die nur in diesem Verfahren berücksichtigt werden darf, aber hinreichende Erfolgsaussicht hat (BGH, GRUR 2011, 848 Rn. 20 ff. – Mautberechnung; Senat, Urt. v. 06.12.2012 – I-2 U 46/12, BeckRS 2013, 13744; GRUR-RR 2022, 153 Rn. 8 – Aussetzungsmaßstab; BeckOK Patentrecht/Wuttke/Voß, Vor §§ 139–142b PatG Rn. 185; Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 16. Aufl. 2024, Kap. E Rn. 958). Diese Grundsätze finden auch dann Anwendung, wenn feststeht, dass die Spruchpraxis zu bestimmten Widerrufs- bzw. Nichtigkeitsgründen vor dem Europäischen Patentamt und im nationalen Nichtigkeitsverfahren divergiert, so dass die Präsentation einer bestimmten Argumentation im Einspruchsverfahren aus Rechtsgründen aussichtslos ist, diese im deutschen Nichtigkeitsverfahren indes offensichtlich zum Erfolg führen wird (vgl. Senat, GRUR-RR 2022, 153 Rn. 9 f. – Aussetzungsmaßstab; Kühnen, Handbuch der Patentverletzung, 16. Aufl. 2024, Kap. E Rn. 959).
    Im Rahmen eines Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Verfügung scheidet zwar eine Aussetzung der Verhandlung aus. Wenn der Patentinhaber mittels Klage keine Titulierung eines Unterlassungsanspruchs erreichen kann, kann aber auch kein überwiegendes Interesse an einem dahingehenden vorläufigen sichernden Ausspruch gegeben sein. Da infolge des Eilcharakters eine Aussetzung des Verfügungsverfahrens nicht in Betracht kommt, ist in dieser Situation der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückzuweisen (vgl. Senat, Urt. v. 06.12.2012 – 2 U 46/12, BeckRS 2013, 13744 m.w.N.).
  30. c)
    Da der Senat nach den vorstehenden Ausführungen eine erfinderische Tätigkeit im Hinblick auf eine Tagesdosis von 480 mg/Tag DMF nicht erkennen kann, kommt es auf die Frage, ob Patentanspruch 1 ausführbar offenbart (Art. 83 EPÜ) und/oder gegenüber der ursprünglichen Offenbarung unzulässig erweitert ist (Art. 123 Abs. 2 EPÜ), nicht mehr an.
    III.
    Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO.
    Eines Ausspruches zur vorläufigen Vollstreckbarkeit bedurfte es nicht, weil das vorliegende Urteil als zweitinstanzliche Entscheidung im Verfahren der einstweiligen Verfügung keinem Rechtsmittel mehr unterliegt (§ 542 Abs. 2 S. 1 ZPO) und ohne besonderen Ausspruch endgültig vollstreckbar ist.

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