4b O 5/18 – Süßware

Düsseldorfer Entscheidungsnummer: 2816

Landgericht Düsseldorf

Urteil vom 18. September 2018, Az. 4b O 5/18

  1. 1.
    Das Versäumnisurteil des Landgerichts Düsseldorf vom 7. März 2018 wird aufrechterhalten.
  2. 2.
    Der Beklagten werden auch die weiteren Kosten des Rechtsstreits auferlegt.
  3. 3.
    Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von € 220.000,00 vorläufig vollstreckbar. Die Zwangsvollstreckung aus dem Versäumnisurteil vom 7. März 2018 darf nur fortgesetzt werden, wenn diese Sicherheitsleistung geleistet ist.
  4. Tatbestand
  5. Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen Verletzung des mit Wirkung für die Bundes-republik Deutschland erteilten europäischen Patents 1 463 XXX (nachfolgend: Klagepatent; Anlagen TW 2, TW 5) auf Unterlassung, Auskunft und Rechnungslegung, Rückruf sowie Feststellung der Schadensersatzpflicht in Anspruch.
  6. Die Klägerin ist eingetragene und verfügungsberechtigte Inhaberin des Klagepatents. Es wurde am 20. Dezember 2002 unter Inanspruchnahme der Priorität der US-Schrift 27XXX vom 20. Dezember 2001 veröffentlicht. Der Hinweis auf seine Erteilung wurde am 15. Dezember 2010 veröffentlicht. Der von der Klägerin geltend gemachte Patentanspruch 1 des Klagepatents betrifft eine Süßware und lautet in der deutschen Übersetzung wie folgt:
  7. „Eine Süßware, umfassend
    ein Gehäuse, umfassend eine Vorderseite und eine Rückseite, wobei das Gehäuse eine obere Kammer und eine untere Kammer definiert,
    einen Süßigkeitenhalter zum Unterstützen eines Stücks der Süßigkeit und umfassend einen Griff an seinem unteren Ende, während der Süßigkeitenhalter innerhalb der unteren Kammer aufnehmbar ist, um die Kammer zu schließen, und davon selektiv entfernbar ist,
    ein Stück der Süßigkeit das durch den Süßigkeitenhalter unterstützt ist,
    eine komprimierbare Flasche innerhalb der oberen Kammer des Gehäuses, wobei die Flasche eine aromatisierte Flüssigkeit enthält, wobei mindestens zwei Seiten der Flasche zugänglich sind, während die Flasche innerhalb des Gehäuses gehalten ist, wodurch ein Nutzer Druck auf die Flasche anwenden kann, um die aromatisierte Flüssigkeit auf die feste Süßigkeit abzugeben.“
  8. Die Beklagte stellte auf der Süßwarenmesse A in B im Januar 2018 die Produkte „C“ (nachfolgend: angegriffene Ausführungsform I) und „D“ (nachfolgend: angegriffene Ausführungsform II) aus.
  9. Eine leicht verkleinerte Abbildung der angegriffenen Ausführungsform I ist der Klageschrift (Seite 10) entnommen. Sie zeigt die angegriffene Ausführungsform I mit teilweise herausgezogenem Süßigkeitenhalter inklusive Griff und entfernter Kappe des Flüssigkeitsbehälters. Bei den roten Pfeilen handelt es sich um Beschriftungen der Klägerin.
  10. Die nachfolgend leicht verkleinerte Abbildung der angegriffenen Ausführungsform II stammt aus der Einspruchsschrift (Seite 10), wobei die dortige Beschriftung von der Beklagten herrührt.
  11. Die Klägerin ist der Ansicht, die angegriffenen Ausführungsformen verletzten das Klagepatent. Sie bestreitet daneben mit Nichtwissen, dass die Beklagte abgesehen von dem Messeauftritt keine weiteren Benutzungshandlungen im Sinne des § 9 PatG begangen habe.
  12. Laut der Postzustellungsurkunde wurde die Klage auf der Messe A durch Übergabe an einen Beschäftigten der Beklagten am 31. Januar 2018 zugestellt. Nachdem sich nach Ablauf der Frist zur Verteidigungsanzeige niemand für die Beklagte bestellt und die Klägerin einen weiteren Antrag auf Vernichtung patentverletzender Erzeugnisse zurückgenommen hatte, hat die Klägerin den Erlass eines Versäumnisurteils beantragt, das die Kammer mit folgendem Tenor am 7. März 2018 erlassen hat:
  13. „I. Die Beklagte wird verurteilt,
  14. 1. es bei Meidung eines für jeden Fall der Zuwiderhandlung fälligen Ordnungsgeldes in Höhe von bis zu 250.000,00 Euro, ersatzweise Ordnungshaft oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, die an den gesetzlichen Vertretern der Beklagten zu vollstrecken ist, zu unterlassen,
  15. eine Süßware, umfassend
    ein Gehäuse, umfassend eine Vorderseite und eine Rückseite, wobei das Gehäuse eine obere Kammer und eine untere Kammer definiert,
    einen Süßigkeitenhalter zum Unterstützen eines Stücks der Süßigkeit und umfassend einen Griff an seinem unteren Ende, während der Süßigkeitenhalter innerhalb der unteren Kammer aufnehmbar ist, um die Kammer zu schließen, und davon selektiv entfernbar ist,
    ein Stück der Süßigkeit das durch den Süßigkeitenhalter unterstützt ist
    eine komprimierbare Flasche innerhalb der oberen Kammer des Gehäuses, wobei die Flasche eine aromatisierte Flüssigkeit enthält, wobei mindestens zwei Seiten der Flasche zugänglich sind, während die Flasche innerhalb des Gehäuses gehalten ist, wodurch ein Nutzer Druck auf die Flasche anwenden kann, um die aromatisierte Flüssigkeit auf die feste Süßigkeit abzugeben,
  16. in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in den Verkehr zu bringen und/oder zu gebrauchen und/oder zu den genannten Zwecken einzuführen oder zu besitzen;
  17. 2. der Klägerin darüber Auskunft zu erteilen, in welchem Umfang die Beklagte die unter der Ziffer I. 1. bezeichneten Handlungen seit dem 16. Januar 2011 begangen hat, und zwar unter Vorlage eines chronologisch geordneten Verzeichnisses unter Angabe
    a) der Namen und Anschriften der Hersteller, Lieferanten und anderer Vorbesitzer,
    b) der Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,
    c) der Menge der hergestellten, ausgelieferten, erhaltenen und bestellten Erzeugnisse sowie der Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse bezahlt wurden,
    wobei zum Nachweis der Angaben die entsprechenden Einkaufs-und Verkaufsbelege (Rechnungen) in Kopie, oder falls keine Rechnungen ausgestellt wurden, Lieferpapiere in Kopie vorzulegen sind, und wobei geheimhaltungsbedürftige Details außerhalb der auskunftspflichtigen Daten geschwärzt werden dürfen;
  18. 3. der Klägerin schriftlich darüber Rechnung zu legen, in welchem Umfang sie die vorstehend zu Ziffer I. 1. bezeichneten Handlungen seit dem 15. Januar 2011 begangen hat, und zwar unter Vorlage eines chronologisch geordneten Verzeichnisses unter Angabe
    a) der einzelnen Lieferungen, aufgeschlüsselt nach Liefermengen, -zeiten, -preisen und Typenbezeichnungen sowie aufgeschlüsselt nach den Namen und Anschriften der gewerblichen Abnehmer sowie der Verkaufsstellen, für die die Erzeugnisse bestimmt waren,
    b) der einzelnen Angebote, aufgeschlüsselt nach Angebotsmengen, -zeiten und -preisen unter Einschluss von Typenbezeichnungen sowie der Namen und Anschriften der Angebotsempfänger, wobei der Beklagten vorbehalten bleibt, Namen und Anschriften ihrer Angebotsempfänger statt der Klägerin einem von dieser zu bezeichnenden, ihr gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichteten, vereidigten Wirtschaftsprüfer mit Sitz in der Bundesrepublik Deutschland mitzuteilen, sofern die Beklagte dessen Kosten trägt und ihn ermächtigt und verpflichtet, der Klägerin auf konkrete Anfragen mitzuteilen, ob ein bestimmter Angebotsempfänger in dem Verzeichnis enthalten ist,
    c) der betriebenen Werbung, aufgeschlüsselt nach Werbeträgern, der Auflagenhöhe, Verbreitungszeitraum und Verbreitungsgebiet, im Falle von Internetwerbung der jeweiligen Domain, Zugriffszahlen und Schaltungszeiträume,
    d) der nach einzelnen Kostenfaktoren aufgeschlüsselten Gestehungskosten, einschließlich Bezugspreisen, und des erzielten Gewinns;
  19. 4. die vorstehend unter Ziffer I. 1. bezeichneten, seit dem 15. Januar 2011 in den Verkehr gelangten und im Besitz gewerblicher Abnehmer befindlichen Erzeugnisse aus den Vertriebswegen zurückzurufen, indem diejenigen gewerblichen Abnehmer, die sich im Besitz dieser Erzeugnisse befinden, schriftlich darüber informiert werden, dass das angerufene Gericht auf eine Verletzung des europäischen Patent EP 1 463 XXX B1 erkannt hat, und sie aufgefordert werden, die Erzeugnisse an die Beklagte zurückzugeben, und den gewerblichen Abnehmern im Fall der Rückgabe der Erzeugnisse die Rückzahlung des gegebenenfalls bereits gezahlten Kaufpreises sowie die Übernahme der durch die Rückgabe entstehenden Verpackungs- und Transport- bzw. Versandkosten zugesagt wird.
  20. II. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin allen Schaden zu ersetzen, der ihr durch die zu Ziffer I. 1. bezeichneten, seit dem 15. Januar 2011 begangenen Handlungen entstanden ist und künftig noch entstehen wird.“
  21. Am 13. März 2018 hat die Kammer einen Beschluss zur Berichtigung des Tatbestandes erlassen. Der Beklagten ist das Versäumnisurteil am 12. April 2018 zugestellt worden. Die Beklagte hat am 26. April 2018 Einspruch eingelegt und einen Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung gestellt, den die Kammer mit Beschluss vom 4. Mai 2018 zurückwies.
  22. Die Klägerin beantragt nunmehr,
    das Versäumnisurteil vom 7. März 2018 aufrechtzuerhalten.
  23. Die Beklagte beantragt,
    das Versäumnisurteil aufzuheben.
  24. Die Beklagte bestreitet mit Nichtwissen, dass die Klageschrift an eine bei ihr beschäftigte Person auf der Messe B übergeben worden sei.
  25. Sie behauptet, dass sie – bis auf das Ausstellen der angegriffenen Ausführungsformen auf der Messe A im Januar 2018 – in der Bundesrepublik Deutschland keine weiteren Benutzungshandlungen im Sinne des § 9 PatG begangen habe. Die angegriffenen Ausführungsformen von der Messe seien nicht weiter vertrieben, sondern wieder aus der Bundesrepublik Deutschland ausgeführt worden.
  26. Die Beklagte ist weiter der Ansicht, das Versäumnisurteil sei gesetzeswidrig ergangen. Ferner verletze keine der angegriffenen Ausführungsformen das Klagepatent. Sie wiesen beide kein Gehäuse auf, das eine obere und untere Kammer definiere. Der Klagepatentanspruch gebe durch die Ausrichtung des Griffs am unteren Ende des in die untere Kammer eingesetzten Süßigkeitenhalters zugleich die Orientierung des Gehäuses vor. Bei den angegriffenen Ausführungsformen gebe es bei ein-gesetztem Süßigkeitenhalter mit Griff am unteren Ende nur nebeneinander ange-ordnete Kammern. Umgekehrt befinde sich am unteren Ende des Süßigkeitenhalters kein Griff, wenn das Gehäuse so orientiert sei, dass es eine untere Kammer gebe.
  27. Daneben verfüge die angegriffene Ausführungsform II nicht über eine Kammer, die das Behältnis mit der Flüssigkeit halte, sondern lediglich über zwei Haltearme auf einer Fußfläche.
  28. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze und auf die zu den Akten gereichten Unterlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 16. August 2018 Bezug genommen.
  29. Entscheidungsgründe
  30. Der Einspruch ist zwar zulässig (I.), hat jedoch in der Sache keinen Erfolg, da die Klage zulässig und begründet ist (II.).
  31. I.
    Der Einspruch ist zulässig. Die Beklagte hat den Einspruch insbesondere fristgerecht am 26. April 2018 erhoben. Das Versäumnisurteil ist den Prozessbevollmächtigten der Beklagten am 12. April 2018 zugestellt worden. Insofern ist die zweiwöchige Einspruchsfrist gewahrt.
  32. II.
    Der Einspruch verfängt jedoch in der Sache nicht, weil die Klage zulässig und begründet ist.
  33. Die Klägerin hat gegen die Beklagte Ansprüche auf Unterlassung, Auskunft und Rechnungslegung, Rückruf und Schadensersatz dem Grunde nach aus Art. 64 Abs. 1 EPÜ i.V.m. §§ 139, 140a, 140b PatG, §§ 242, 259 BGB.
  34. 1.
    Das Klagepatent betrifft eine Süßware. Aus dem Stand der Technik sind laut dem Klagepatent verschiedene Vorrichtungen bekannt, die eine Süßware mit einem Flüssigkeitsspender kombinieren, wobei die Süßigkeit und die Flüssigkeit gemeinsam konsumiert werden. Das Hinzugeben einer Flüssigkeit gestattet es dem Konsumenten, den Geschmack der Süßigkeit seinem oder ihrem Geschmack durch die verschiedenen abgegebenen Mengen der Flüssigkeit auf die Süßigkeit anzupassen. Nach dem Klagepatent offenbart das US-Patent Nr. 5,324,527 (Coleman) bereits eine Vorrichtung, die Flüssigkeit aus einem Reservoir auf eine Süßware abgibt. Dies geschieht durch die Ausübung von Druck auf das Flüssigkeitsreservoir oder durch die Ausübung einer Drehkraft auf einen Gewindeschaft, wodurch die Flüssigkeit durch Kanäle in der Süßigkeit auf die Süßigkeit gedrückt wird. Ferner nennt das Klagepatent eine vorbekannte Vorrichtung aus dem US-Patent Nr. 6,187,352 (Crosbie), die Flüssigkeit aus einem Reservoir mit einem Sprüh-Mechanismus abgibt. Die Flüssigkeit wird direkt in den Mund des Konsumenten gesprüht, um nach dem Konsum einer scharf aromatisierten Süßigkeit einen kühlenden Effekt zur gewährleisten.
  35. Das Klagepatent formuliert keine explizite Aufgabe. Es möchte angesichts des erörterten Standes der Technik eine Vorrichtung zum Halten einer Süßigkeit und zum Abgeben eines Tröpfchenstroms einer aromatisierten Flüssigkeit auf die Süßigkeit bereitstellen, um ein zufriedenstellendes Geschmackserlebnis zu erzeugen.
  36. Eine solche Vorrichtung beschreibt das Klagepatent in Anspruch 1 mit folgenden Merkmalen:
  37. 1.
    Eine Süßware, die ein Gehäuse umfasst.
    a)
    Das Gehäuse umfasst eine Vorderseite und eine Rückseite.
    b)
    Das Gehäuse definiert eine obere Kammer und eine untere Kammer.
  38. 2.
    Die Süßware umfasst einen Süßigkeitenhalter zum Unterstützen eines Stücks der Süßigkeit.
    a)
    Der Süßigkeitenhalter umfasst einen Griff an seinem unteren Ende.
    b)
    Der Süßigkeitenhalter ist innerhalb der unteren Kammer aufnehmbar, um die Kammer zu schließen, und ist davon selektiv entfernbar.
  39. 3.
    Die Süßware umfasst ein Stück der Süßigkeit, das durch den Süßigkeitenhalter unterstützt ist.
  40. 4.
    Die Süßware umfasst eine komprimierbare Flasche innerhalb der oberen Kammer des Gehäuses.
    a)
    Die Flasche enthält eine aromatisierte Flüssigkeit.
    b)
    Mindestens zwei Seiten der Flasche sind zugänglich.
    c)
    Die Flasche wird innerhalb des Gehäuses gehalten, wodurch ein Nutzer Druck auf die Flasche anwenden kann, um die aromatisierte Flüssigkeit auf die feste Süßigkeit abzugeben.
  41. 2.
    Die Parteien streiten über die Auslegung der Begriffe der oberen und unteren Kammer im Sinne des Merkmals 1b und der Merkmalsgruppe 2 (dazu unter a)). Weiter sind auch die Anforderungen streitig, die das Klagepatent an die Ausgestaltung der oberen Kammer stellt (Merkmal 4; dazu unter b)).
  42. a)
    Die obere und untere Kammer werden allein durch das Gehäuse der Vorrichtung definiert.
  43. So ist nach dem Wortlaut des Klagepatentanspruchs zwischen dem unteren Ende des Süßigkeitenhalters und der durch das Gehäuse definierten unteren und oberen Kammer zu unterscheiden. Das untere Ende des Süßigkeitenhalters ist für die Ausrichtung des Gehäuses irrelevant. Die Orientierung beider Bauteile ist voneinander unabhängig. Das gilt auch für den Fall, dass der Süßigkeitenhalter in das Gehäuse eingesetzt ist. Die Ausrichtung des Griffs am Süßigkeitenhalter hat keine Auswirkungen auf die Ausrichtung des Gehäuses. Das abweichende Verständnis der Beklagten mag seine Ursache darin haben, dass in der deutschen Übersetzung des Klagepatentanspruchs die Merkmale 2a) und 2b) durch ein „während“ verknüpft sind („umfassend einen Griff an seinem unteren Ende, während der Süßigkeitenhalter innerhalb der unteren Kammer aufnehmbar ist“). Maßgeblich ist aber der englische Originalwortlaut des Klagepatentanspruchs, in dem eine solche Verknüpfung der Merkmale fehlt. Die Wendung „a handle at its lower end, said candy holder being receivable within said lower chamber“ formuliert als einzige räumlich-körperliche Anforderung, dass der Süßigkeitenhalter in die untere Kammer aufgenommen werden kann. Die räumliche Ausrichtung von Griff und Kammer bleibt davon unberührt. Eine Verknüpfung der beiden Merkmale durch das Wort „wobei“ entspricht diesen Zusammenhängen und ist von der englischen Fassung des Klagepatentanspruchs ohne weiteres umfasst. Die Anordnung des Griffs am unteren Ende des Süßigkeitenhalters dient funktional lediglich dazu, dass auf diese Weise eine selektive Entfernbarkeit aus dem Gehäuse im Sinne des Merkmals 2b) unproblematisch erfolgen und der Konsument danach die Süßigkeit in einer Bewegung zum Mund führen kann. Im Übrigen entspricht eine solche Anordnung der üblichen Haltung einer Süßigkeit. Der Anspruch verhält sich im Weiteren nicht dazu, in welcher Ausrichtung das Gehäuse die obere und untere Kammer vorsieht. Vorgegeben wird nur, dass der Süßigkeitenhalter in der unteren Kammer aufnehmbar ist und die Flasche mit der aromatisierten Flüssigkeit innerhalb der oberen Kammer gehalten wird. Das ergibt sich aus Merkmal 2b) und Merkmal 4. Funktional gewährleistet die Aufteilung in obere und untere Kammer lediglich eine kompakte Bauweise, die beide Komponenten – fester Lolli und flüssiges Liquid – in einem Gehäuse aufbewahrt. Dabei lässt sich dem Anspruch nicht entnehmen, dass darüber hinaus eine bestimmte Anordnung im Raum entscheidend ist. Es genügt, dass das Gehäuse so orientiert werden kann, dass es eine obere Kammer mit Flasche und eine untere Kammer mit einem Süßigkeitenhalter gibt. Anders als die Beklagte meint, lässt sich den Angaben „oben und unten“ nicht mehr entnehmen, als eine bestimmte Reihenfolge der Kammern, nicht jedoch eine Ortsangabe im Raum.
  44. Nichts anderes ergibt sich aus der Beschreibung des Klagepatents. Auch wenn in Absatz [0007] davon die Rede ist, dass in dem dortigen Ausführungsbeispiel der Boden der Hülle 10 offen ist und es sich in diesem Fall um die untere Kammer handelt, beschränkt dies die weiter gefasste technische Lehre nicht. Ein Ausführungsbeispiel erlaubt regelmäßig keine einschränkende Auslegung eines die Erfindung allgemein kennzeichnenden Patentanspruchs (vgl. BGH, GRUR 2004, 1023 – Bodenseitige Vereinzelungseinrichtung).
  45. b)
    Eine obere Kammer im Sinne des Klagepatents stellt einen Teil des Gehäuses dar, der die Flüssigkeitsflasche dergestalt aufnimmt, dass die Flasche mindestens auf zwei Seiten zugänglich ist, und ermöglicht, dass die Flüssigkeit durch Drücken der Flasche abgegeben wird.
  46. Für den Begriff der Kammer ist nicht auf eine allgemeine lexikalische Definition zurückzugreifen, vielmehr stellt das Klagepatent sein eigenes Lexikon dar (vgl. BGH, GRUR 1999, 909 – Spannschraube). Bereits der Klagepatentanspruch verlangt, dass die obere Kammer des Gehäuses so gestaltet sein muss, dass mindestens zwei Seiten der Flasche zugänglich sind, während die Flasche innerhalb des Gehäuses gehalten ist, wodurch ein Nutzer Druck auf die Flasche anwenden kann, um die Flüssigkeit abzugeben. Die Gestaltung dieser Zugänglichkeit ist in das Belieben des Fachmanns gestellt. Der Klagepatentanspruch macht dazu keine Vorgaben.
  47. Aus der Beschreibung des Klagepatents ist zu entnehmen, dass die Vorder- und Rückseite des Gehäuses Öffnungen umfassen, so dass der Benutzer auf die in dem Gehäuse, sprich der oberen Kammer, aufgenommene Flasche Druck ausüben kann (Absätze [0013], [0014]). Nach der Lehre des Klagepatents muss die Kammer daher keinen umschlossenen Raum darstellen. Hinzu kommt, dass bei der gebotenen funktionalen Betrachtung die obere Kammer lediglich die Funktion hat, die Flasche zu halten und es zu ermöglichen, dass Druck auf die Flasche ausgeübt wird. Dies kann durch jede Art von Bauteilen erfolgen, die in gewisser Weise einen Raum zur Aufnahme der Flasche definieren, wobei Zwischenräume welcher Größe auch immer zwischen den einzelnen Bauteilen vorhanden sind, um auf die Flasche drücken zu können. Die Größe der Zwischenräume gibt das Klagepatent nicht vor.
  48. c)
    Die Überreichung der deutschen Übersetzung des Klagepatents in der mündlichen Verhandlung ist nicht verspätet. Eine Verzögerung ist bereits vor dem Hintergrund nicht ersichtlich, dass beide Parteien ebenso wie die Kammer während des gesamten Verfahrens mit dem englischen Originalwortlaut gearbeitet haben.
  49. 3.
    Die angegriffenen Ausführungsformen verwirklichen die Merkmalsgruppen 1 und 2 sowie das Merkmal 4 des geltend gemachten Klagepatentanspruchs, wobei die übrigen Merkmale zu Recht zwischen den Parteien unstreitig sind.
  50. a)
    Nach obiger Auslegung sind die Merkmalsgruppen 1 und 2 durch die angegriffene Ausführungsform I verwirklicht. Die angegriffene Ausführungsform I verfügt über eine untere Kammer, die den Süßigkeitenhalter aufnimmt, und eine obere Kammer, in der die Flasche mit der Flüssigkeit gehalten wird. Hierbei ist die Drehung der angegriffenen Ausführungsform I im Raum irrelevant.
  51. b)
    Für die angegriffene Ausführungsform II gelten die Ausführungen zur Merkmalsgruppe 1 und 2 gleichermaßen. Die angegriffene Ausführungsform II verfügt über eine untere Kammer, die den Süßigkeitenhalter aufnimmt, und eine obere Kammer, in der die Flasche mit der Flüssigkeit gehalten wird. Die Orientierung der angegriffenen Ausführungsform II im Raum ist dabei unerheblich.
  52. Ferner verletzt die angegriffene Ausführungsform II auch das Merkmal 4. Der Haltearm und die Fußfläche der angegriffenen Ausführungsform II bilden eine obere Kammer des Gehäuses.
  53. 4.
    Aus der Verletzung des Klagepatents ergeben sich die im Versäumnisurteil tenorierten Rechtsfolgen.
  54. a)
    Die Beklagte benutzte die Lehre des Klagepatentanspruchs, weil sie die angegriffe-nen Ausführungsformen auf der Messe A angeboten hat. Die Klägerin hat gegen die Beklagte daher einen Anspruch auf Unterlassung nach Art. 64 EPÜ i.V.m. § 139 Abs. 1 PatG.
  55. b)
    Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Rechnungslegung und Auskunft aus § 140b Abs. 1 PatG i.V.m. Art. 64 EPÜ, §§ 242, 259 BGB zu. Der An-spruch auf Auskunft über die Herkunft und den Vertriebsweg der angegriffenen Ausführungsformen ergibt sich aufgrund der unberechtigten Benutzung des Erfin-dungsgegenstands unmittelbar aus § 140b Abs. 1 PatG, der Umfang der Auskunfts-pflicht aus § 140b Abs. 3 PatG. Die weitergehende Auskunftspflicht und die Ver-pflichtung zur Rechnungslegung folgen aus §§ 242, 259 BGB, damit die Klägerin in die Lage versetzt wird, den ihr zustehenden Schadensersatzanspruch zu beziffern. Die Klägerin ist auf die tenorierten Angaben angewiesen, über die sie ohne eigenes Verschulden nicht verfügt, und die Beklagte wird durch die von ihr verlangten Auskünfte nicht unzumutbar belastet.
  56. Sofern die Beklagte in der mündlichen Verhandlung zum Zwecke der Auskunft mitgeteilt hat, sie habe abgesehen von dem Messeauftritt keine weiteren Benutzungshandlungen begangen, stellt dies keine vollständige Erfüllung des Auskunfts- und Rechnungslegungsanspruchs dar. So hat die Beklagte zum Beispiel nicht konkret mitgeteilt, wie viele der angegriffenen Ausführungsformen sie oder ein Dritter für sie hergestellt, angeboten und beworben hat oder welche und wie viele Werbeträger (z.B. Flyer oder Messeaufsteller, wie sie aus der Abbildung auf Seite 8 der Klageschrift ersichtlich sind, etc.) sie verwendet hat. Auf Teilleistungen muss sich die Klägerin indes nicht einlassen, so dass ihr die Ansprüche weiterhin zustehen.
  57. c)
    Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Rückruf der angegriffenen Ausführungsformen aus den Vertriebswegen, da die Beklagte mit den angegriffenenen Ausführungsformen die klagepatentgemäße Erfindung im Sinne von § 9 S. 2 Nr. 1 PatG benutzt, ohne dazu berechtigt zu sein, § 140a Abs. 3 PatG i.V.m. Art. 64 EPÜ. Für die Unverhältnismäßigkeit des Anspruchs bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte.
  58. d)
    Die Klägerin hat gegen die Beklagte dem Grunde nach einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz aus § 139 Abs. 1 und 2 PatG i.V.m. Art. 64 EPÜ, weil die Beklagte die Patentverletzung schuldhaft beging. Als Fachunternehmen hätte die Beklagte die Patentverletzung bei Anwendung der im Geschäftsverkehr erforderlichen Sorgfalt zumindest erkennen können, § 276 BGB. Es ist auch nicht unwahr-scheinlich, dass der Klägerin als Inhaberin des Klagepatents durch die Patentverlet-zung ein Schaden entstanden ist. Das für die Zulässigkeit des Feststellungsantrags gemäß § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse ergibt sich daraus, dass die Klägerin derzeit nicht in der Lage ist, den konkreten Schaden zu beziffern und ohne eine rechtskräftige Feststellung der Schadensersatzpflicht die Verjährung von Schadensersatzansprüchen droht.
  59. III.
  60. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91 Abs. 1, 344 ZPO. Das Versäumnisurteil ist auch in gesetzmäßiger Weise ergangen. Der Beklagten ist ein Bestreiten mit Nichtwissen bezüglich der Zustellung verwehrt. Sie hat in ihrem Verantwortungsbereich zu klären, welcher Mitarbeiter von ihr auf der Messe vor Ort war und die Klage entgegen genommen hat. Ausweislich der Postzustellungsurkunde vom 31. Januar 2018 hat die Person lediglich keinen Namen angegeben. Der Umstand, dass der Wachtmeister auf der Messe eine Person angetroffen hat, die bereit war, die Klage für die Beklagte entgegenzunehmen und dem Wachtmeister gegenüber als Beschäftige aufgetreten ist, begründet ein Beweisanzeichen dafür, dass die Form des § 178 ZPO gewahrt wurde. Diese Wirkung kann die Beklagte als Adressatin nur durch eine plausible und schlüssige Darstellung von Tatsachen entkräften, aus denen folgt, dass es sich hierbei um keinen Beschäftigten von ihr gehandelt hat (vgl. BGH, NJW 2004, 2386). Hierfür genügt nicht der pauschale Vortrag, dass ihrer Kenntnis nach eine Zustellung an eine bei ihr beschäftigte Person nicht erfolgt sei.
  61. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO.
  62. IV.
    Der Streitwert wird auf € 200.000,00 festgesetzt.

 

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