Düsseldorfer Entscheidungsnummer: 2714
Landgericht Düsseldorf
Urteil vom 24. Oktober 2017, Az. 4a O 90/17
- I. Die einstweilige Verfügung des Landgerichts Düsseldorf vom 09.08.2017 (4a O 90/17) wird in den Ziffern I.1., I.2. und II. des Tenors bestätigt.
- II. Im Übrigen wird die einstweilige Verfügung vom 09.08.2017 unter Zurückweisung des auf ihren Erlass gerichteten Antrags aufgehoben.
- III. Von den Kosten des einstweiligen Verfügungsverfahrens trägt die Verfügungsklägerin 15 % und die Verfügungsbeklagte 85 %.
- IV. Die weitere Vollziehung der einstweiligen Verfügung in den Ziffern I.1., I.2. und II. des Tenors ist davon abhängig, dass die Verfügungsklägerin der Verfügungsbeklagten Sicherheit in Höhe von EUR 170.000,00 leistet. Für die Verfügungsbeklagte ist das Urteil (wegen der Kosten) ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar; die Verfügungsklägerin kann jedoch die vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 115 % des aufgrund dieses Urteils gegen sie vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Verfügungsbeklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 115 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
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T a t b e s t a n d
- Die Verfügungsklägerin nimmt die Verfügungsbeklagte wegen behaupteter Gebrauchsmusterverletzung im Wege des einstweiligen Rechtschutzes auf Unterlassung in Anspruch.
- Die A LLC (USA) ist die im Register (vgl. Anlage K7a) des Deutschen Patent- und Markenamts (DPMA) eingetragene Inhaberin des Gebrauchsmusters DE 20 2012 012 XXX U1 (nachfolgend: Verfügungsgebrauchsmuster). Das Verfügungsgebrauchsmuster wurde aus der deutschen Patentanmeldung DE 10 2012 023 XXX abgezweigt und am 05.12.2012 angemeldet. Es beansprucht das Prioritätsdatum 06.12.2011. Die Eintragung des Verfügungsgebrauchsmusters erfolgte am 22.03.2013 und wurde am 16.05.2013 im Patentblatt bekannt gemacht.
- Das Verfügungsgebrauchsmuster steht in Kraft. Auf den Löschungsantrag eines Dritten (firmierend unter: „B“) wurde das Verfügungsgebrauchsmuster von der Löschungsabteilung des DPMA mit Beschluss vom 14.07.2017 in einer beschränkten Fassung aufrechterhalten. Auf den in Anlage EVK2 vorgelegten Beschluss, der den Patentanwälten der Verfügungsklägerin am 25.07.2017 zugestellt wurde, und das in Anlage EVK1 vorgelegte Protokoll der mündlichen Verhandlung vor der Löschungsabteilung am 14.07.2017 wird Bezug genommen.
- Herr D C stellte vor dem DPMA unter dem 16.08.2017 einen weiteren Löschungsantrag, über den noch nicht entschieden worden ist. Für den Inhalt dieses Löschungsantrags wird auf das Anlagenkonvolut AG2 verwiesen.
- In der beschränkt aufrechterhaltenen Fassung gemäß dem Beschluss der Löschungsabteilung (Anlage EVK2) lauten die vorliegend geltend gemachten Ansprüche 1 und 15 des Verfügungsgebrauchsmusters wie folgt:
- “1. Einzelkettenring (50) für eine Fahrradvorderkurbelanordnung zum Eingreifen in eine Antriebskette (10),
- wobei die Antriebskette (10) überlappend angeordnete äußere Verbindungselemente zum Ausbilden von ersten Verbindungsräumen (40) und innere Verbindungselemente zum Ausbilden von zweiten Verbindungsräumen (42) umfasst, wobei die ersten Verbindungsräume (40) eine größere Quererstreckung bezüglich der Kettenlängsrichtung aufweisen als die zweiten Verbindungsräume (42), wobei der Kettenring aufweist:
- eine um einen Umfang des Kettenrings (50) ausgebildete Vielzahl von Zähnen (52), wobei die Vielzahl der Zähne eine gerade Anzahl an Zähnen ist; wobei die Vielzahl von Zähnen eine erste Zahngruppe (58) zum Eingreifen in erste Verbindungsräume (40) der Antriebskette (10) und eine zweite Zahngruppe (60) zum Eingreifen in zweite Verbindungsräume (42) der Antriebskette (10) umfasst, die alternierend zwischen der ersten Zahngruppe (58) angeordnet ist; wobei die Anzahl der ersten Zahngruppe (58) und die Anzahl der zweiten Zahngruppe (60) gleich ist;
- wobei jede der ersten und zweiten Zahngruppen (58; 60) eine Außenseite (54) und eine Innenseite (56) aufweist, die entgegengesetzt zu der Außenseite (54) angeordnet ist;
- wobei jede Außenseite (54) und jede Innenseite (56) jeder zweiten Zahngruppe eine in dem Kettenring entlang jeder zweiten Zahngruppe ausgebildete Ausnehmung definiert.“
- „15. Fahrradkurbelanordnung, aufweisend: einen Fahrradkurbelarm; und einen Einzelkettenring nach einem der voranstehenden Ansprüche.”
- Zur Veranschaulichung der beanspruchten Lehre werden nachfolgend die Fig. 7 und 8 des Verfügungsgebrauchsmusters verkleinert eingeblendet:
- Die Verfügungsbeklagte ist ein deutsches Unternehmen, das Fahrradkomponenten vertreibt, darunter auch Kettenringe des Unternehmens E und Eigen-Produkte, etwa den Tune-Kettenring mit der Bezeichnung „F“ (nachfolgend: angegriffene Ausführungsform I; Bilder hiervon sind in Anlage EVK12 zur Akte gereicht worden). Daneben vertreibt die Verfügungsbeklagte auch komplette Fahrradkurbelanordnungen, etwa unter der Bezeichnung „G“ (nachfolgend: angegriffene Ausführungsform II). Schließlich vertreibt sie unter der Bezeichnung „H“ Fahrradkurbelarme (nachfolgend: angegriffene Ausführungsform III). Die angegriffene Ausführungsform II enthält einen Kettenring gemäß der angegriffenen Ausführungsform I; die Fahrradkurbelarme gemäß der angegriffenen Ausführungsform III können mit einem solchen Kettenring kombiniert werden.
- Die Verfügungsklägerin mahnte die Verfügungsbeklagte mit anwaltlichem Schreiben vom 28.07.2017 (Anlage EVK3) ab; die hierin geforderte Unterlassungserklärung wurde von der Verfügungsbeklagten nicht abgegeben.
- Die Verfügungsklägerin trägt vor, sie sei aktivlegitimiert, was sich aus der in Anlage EVK8 beigefügten Erklärung der Inhaberin des Verfügungsgebrauchsmusters (der A LLC) ergebe.
- Es liege hinsichtlich der angegriffenen Fahrradkurbelarme (angegriffene Ausführungsform III) eine mittelbare Gebrauchsmusterverletzung vor. Dass es sich hierbei um ein wesentliches Element der Erfindung handele, zeige sich schon darin, dass ein Fahrradkurbelarm in Anspruch 15 ausdrücklich genannt ist.
- Die Verfügungsklägerin ist der Ansicht, aufgrund der Entscheidung im Löschungsverfahren handele es sich bei dem Verfügungsgebrauchsmuster um ein geprüftes Schutzrecht, dessen Rechtsbestand als gesichert anzusehen sei.
- Die nun von der Verfügungsbeklagten vorgelegte Entgegenhaltung US 2002/0098XXX A1 liege noch weiter vom Gegenstand des Verfügungsgebrauchsmusters entfernt als der im ersten Löschungsverfahren diskutierte Stand der Technik. Zudem sei mit der Entgegenhaltung WO 03/095XXX A1 im ersten Löschungsverfahren ein hierzu sehr ähnlicher Stand der Technik bereits diskutiert worden. Die Verweise der Verfügungsbeklagten auf das (parallele) Erteilungsverfahren zum EP 2 602 XXX könnten den gesicherten Rechtsbestand nicht in Frage stellen; auch deshalb, weil dort eine andere Anspruchsfassung Gegenstand ist.
- Die Entgegenhaltung US 4,174,XXX stelle die Schutzfähigkeit des Verfügungsgebrauchsmusters ebenso wenig in Frage. Die Bewertung dieser Entgegenhaltung und die Auslegung des Verfügungsgebrauchsmusters seitens der Löschungsabteilung seien zutreffend.
- Die – unstreitig im ersten Löschungsverfahren erörterte – Entgegenhaltung JP S56-42XXX U (D3/D5) sei ebenfalls weder neuheitsschädlich noch relevant für den erfinderischen Schritt des Verfügungsgebrauchsmusters.
- Der Erlass einer einstweiligen Verfügung sei dringlich; insbesondere habe die Verfügungsklägerin nicht zögerlich gehandelt. Ein Verfügungsantrag sei ihr erst nach der Bestätigung der Schutzfähigkeit im Löschungsverfahren mit Beschluss des DPMA vom 14.07.2017 möglich gewesen.
- Unter dem 07.08.2017 hat die Verfügungsklägerin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Unterlassungsverfügung aus dem Verfügungsgebrauchsmuster gestellt. Mit Beschluss vom 09.08.2017 (Az. 4a O 90/17) hat das Landgericht Düsseldorf der Verfügungsbeklagten
- „I. (…) im Wege der einstweiligen Verfügung – wegen der besonderen Dringlichkeit ohne vorherige mündliche Verhandlung – untersagt,
- 1.Einzelkettenringe für eine Fahrradvorderkurbelanordnung zum Eingreifen in eine Antriebskette, wobei die Antriebskette überlappend angeordnete äußere Verbindungselemente zum Ausbilden von ersten Verbindungsräumen und innere Verbindungselemente zum Ausbilden von zweiten Verbindungsräumen umfasst, wobei die ersten Verbindungsräume eine größere Quererstreckung bezüglich der Kettenlängsrichtung aufweisen als die zweiten Verbindungsräume,
- wobei der Kettenring aufweist:
- eine um einen Umfang des Kettenrings ausgebildete Vielzahl von Zähnen,
- wobei die Vielzahl der Zähne eine gerade Anzahl an Zähnen ist,
- wobei die Vielzahl von Zähnen eine erste Zahngruppe zum Eingreifen in erste Verbindungsräume der Antriebskette und eine zweite Zahngruppe zum Eingreifen in zweite Verbindungsräume der Antriebskette umfasst, die alternierend zwischen der ersten Zahngruppe angeordnet ist,
- wobei die Anzahl der ersten Zahngruppe und die Anzahl der zweiten Zahngruppe gleich ist,
- wobei jede der ersten und zweiten Zahngruppen eine Außenseite und eine Innenseite aufweist, die entgegengesetzt zu der Außenseite angeordnet ist,
- wobei jede Außenseite und jede Innenseite jeder zweiten Zahngruppe eine in dem Kettenring entlang jeder zweiten Zahngruppe ausgebildete Ausnehmung definiert,
- in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in den Verkehr zu bringen und/oder zu diesen Zwecken einzuführen oder zu besitzen;
- und/oder
- 2.Fahrradkurbelanordnungen, aufweisend einen Fahrradkurbelarm und einen Einzelkettenring der vorstehend unter Ziffer I.1 bezeichneten Art,
- in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in den Verkehr zu bringen und/oder zu diesen Zwecken einzuführen oder zu besitzen;
- und/oder
- 3.Fahrradkurbelarme Dritten in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten und/oder zu liefern, die zur Nutzung der Lehre des Gebrauchsmusters DE 20 2012 012 XXX nicht berechtigt sind,
- soweit die Fahrradkurbelarme für Fahrradkurbelanordnungen aufweisend den Fahrradkurbelarm und einen Einzelkettenring der vorstehend unter Ziffer I.1 bezeichneten Art geeignet sind,
- ohne
- – im Falle des Anbietens im Angebot ausdrücklich und unübersehbar darauf hinzuweisen, dass der Fahrradkurbelarm nicht ohne Zustimmung der A LLC, I, Illinois, USA, als Inhaberin des Gebrauchsmusters DE 20 2012 012 XXX verwendet werden darf für Fahrradkurbelanordnungen aufweisend den Fahrradkurbelarm und einen Einzelkettenring der vorstehend unter Ziffer I.1 bezeichneten Art,
- – im Falle der Lieferung an gewerbliche Abnehmer diesen unter Auferlegung einer an die Gebrauchsmusterinhaberin zu zahlenden Vertragsstrafe von 1.000,– EUR für den Fall der schuldhaften Zuwiderhandlung, mindestens jedoch 500,– EUR pro Fahrradkurbelarm, die schriftliche Verpflichtung aufzuerlegen, den Fahrradkurbelarm nicht ohne Zustimmung der Gebrauchsmusterinhaberin für Fahrradkurbelanordnungen zu verwenden, die mit einem Einzelkettenring der vorstehend unter Ziffer I.1 bezeichneten Art ausgestattet sind.
- II. Der Antragsgegnerin wird für jeden Fall der Zuwiderhandlung gegen dieses gerichtliche Verbot als Zwangsvollstreckungsmaßnahme ein Ordnungsgeld bis zu 250.000,- EUR, ersatzweise Ordnungshaft, oder eine Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Falle wiederholter Zuwiderhandlung bis zu insgesamt zwei Jahren, zu vollziehen an einem ihrer Geschäftsführer, angedroht.
- III. Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragsgegnerin.“
- Die einstweilige Verfügung ist der Verfügungsbeklagten am 15.08.2017 und zusätzlich deren Prozessbevollmächtigten am 23.08.2017 zugestellt worden. Die Verfügungsbeklagte hat am 18.08.2017 Widerspruch gegen die erlassene einstweilige Verfügung eingelegt. Einen mit gleichem Schriftsatz gestellten Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung aus der einstweiligen Verfügung hat die Kammer mit Beschluss vom 28.08.2017 (Bl. 134 ff. GA) zurückgewiesen.
- Die Klägerin beantragt,
- die einstweilige Verfügung des Landgerichts Düsseldorf vom 09.08.2017 (Az. 4a O 90/17) zu bestätigen.
- Die Verfügungsbeklagte beantragt,
- die einstweilige Verfügung vom 09.08.2017 aufzuheben und den auf ihren Erlass gerichteten Antrag vom 07.08.2017 zurückzuweisen;
- hilfsweise: die weitere Vollziehung der einstweiligen Verfügung von einer Sicherheitsleistung nicht unter EUR 750.000,00 abhängig zu machen.
- Die Verfügungsbeklagte trägt vor, die Aktivlegitimation der Verfügungsklägerin sei nicht ausreichend glaubhaft gemacht. Die Verfügungsbeklagte bestreitet die Vertretungsmacht des Unterzeichners der Erklärung für die A LLC mit Nichtwissen.
- Es liege keine mittelbare Gebrauchsmusterverletzung durch die angegriffene Ausführungsform III vor. Die angegriffenen Fahrradkurbelarme seien kein wesentliches Element der Erfindung.
- Die Verfügungsbeklagte meint, das Verfügungsgebrauchsmuster sei nicht schutzfähig. Der von Herrn C eingereichte (zweite) Löschungsantrag werde zur Löschung des Verfügungsgebrauchsmusters führen.
- So sei der Gegenstand des Verfügungsgebrauchsmusters nicht neu gegenüber der US 2002/0098XXX, welche – insoweit unstreitig – nicht Gegenstand des ersten Löschungsverfahrens war. Aufgrund des zweiten Löschungsantrags mit neuem Stand der Technik könne die Entscheidung im ersten Löschungsverfahren nicht mehr zur Stützung des gesicherten Rechtsbestands herangezogen werden. Diese Entgegenhaltung sei der Verfügungsklägerin auch aus dem Erteilungsverfahren des parallelen Patents vor dem EPA (Anmeldenummer: 12 008 132.8) bekannt, wo sie dazu geführt habe, dass dort eine deutlich engere Anspruchsfassung verfolgt werde. Jedenfalls fehle dem geltend gemachten Anspruch die Erfindungshöhe gegenüber dieser Entgegenhaltung, da der Fachmann deren Lehre auf Fahrräder übertragen würde. Dies bestätige auch der Prüfer des EPA im parallelen Patenterteilungsverfahren.
- Auch die Entgegenhaltung US 4,174,XXX sei neuheitsschädlich für das Verfügungsgebrauchsmuster. Zwar ist diese Entgegenhaltung (unstreitig) bereits im Löschungsverfahren berücksichtigt worden. Die Aufrechterhaltung des geltend gemachten Anspruchs beruhe aber auf einer nicht nachvollziehbaren Argumentation des DPMA, wonach „Ausnehmungen“ im Verfügungsgebrauchsmuster als „Verbindungsaufnahmeausnehmungen“ interpretiert werden, deren Form sich an der Geometrie einer inneren Verbindungsplatte einer Antriebskette zu orientieren habe. Nur aufgrund dieser rechtsfehlerhaften Auslegung sei das DPMA nicht zur fehlenden Neuheit gegenüber dieser Entgegenhaltung gekommen.
- Die Entgegenhaltung JP S56-42XXX U sei im ersten Löschungsverfahren ebenfalls unzureichend gewürdigt worden. Auch diese Entgegenhaltung sei neuheitsschädlich. Dies bestätige der Prüfer im Erteilungsverfahren der parallelen Patentanmeldung.
- Die Angelegenheit sei zudem nicht dringlich. Die Verfügungsklägerin habe sich zögerlich verhalten, da diese (unstreitig) Testkäufe schon am 08.05.2017 bei der Verfügungsbeklagten und bereits am 14.12.2016 bei der Herstellerin der angegriffenen Ausführungsformen durchgeführt hat. Dass die Verfügungsklägerin über einen Zeitraum von 8 Monaten hinweg die Verfügungsbeklagte nicht abgemahnt hat, zeige, dass ihr die Sache nicht dringlich ist.
- Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird ergänzend auf die ausgetauschten Schriftsätze samt Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 10.10.2017 Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
- Auf den zulässigen Widerspruch der Verfügungsbeklagten ist die erlassene einstweilige Verfügung in den Ziffern I.1, I.2 und II. zu bestätigen, da die aktivlegitimierte Verfügungsklägerin (hierzu unter I.) in diesem Umfang einen Verfügungsanspruch (hierzu unter III.1.) und einen Verfügungsgrund (hierzu unter IV.) glaubhaft gemacht hat. In Bezug auf die angegriffene Ausführungsform III (Fahrradkurbelarme) war die einstweilige Verfügung dagegen aufzuheben und der auf ihren Erlass gerichtete Antrag zurückzuweisen (§ 925 Abs. 2 ZPO), da insoweit eine mittelbare Gebrauchsmusterverletzung nicht festgestellt werden kann (hierzu unter III.2.).
- I.Die Verfügungsklägerin ist aktivlegitimiert.
- Sie geht als einfache Lizenznehmerin der Gebrauchsmusterinhaberin, der A LLC, im Wege der gewillkürten Prozessstandschaft vor. Hierzu legt sie in Anlage EVK8 eine entsprechende Erklärung im Original vor, die für die Verfügungsklägerin von Herrn M L und für die A LLC von Herrn K R. J jr. unterzeichnet worden ist. Diese Erklärung ist für die Glaubhaftmachung der Aktivlegitimation inhaltlich ausreichend, da sie eine Prozessführungsermächtigung enthält und sich aus ihr ferner das Interesse der Verfügungsklägerin an der Prozessführung ergibt, da diese einfache Lizenznehmerin am Verfügungsgebrauchsmuster ist (vgl. Kühnen, Hdb. der Patentverletzung, 9. Aufl. 2017, Kap. D. Rn. 125 ff.).
- Die Geltung des Lizenzvertrages ist durch die in der mündlichen Verhandlung vom 10.10.2017 im Original überreichten eidesstattlichen Versicherungen von Herrn L (Anlage EVK36) und Herrn J jr. (Anlage EVK37) hinreichend glaubhaft gemacht.
- Die (zunächst bestrittene) Vertretungsmacht von Herrn J jr. nach dem maßgeblichen US-Recht ist ebenfalls hinreichend glaubhaft gemacht worden. Die Verfügungsklägerin hat eine eidesstattliche Versicherung von Herrn J jr. vorgelegt, aus der hervorgeht, dass er als CEO / Präsident der A LLC alleinvertretungsberechtigt sei. Dessen Stellung bei der A LLC belegt die Verfügungsklägerin zusätzlich mit einem Auszug von der Internetseite der A LLC und Daten des Wirtschaftsauskunftsdiensts Bloomberg (Anlage EVK38). Dass aus der Stellung als CEO auch die Alleinvertretungsberechtigung folgt, geht schließlich aus Anlage EVK39 hervor („Written Consent of the Sole Member of A, LLC“).
- Nachdem die Verfügungsklägerin die vorstehend genannten Dokumente und insbesondere eidesstattlichen Versicherungen vorgelegt hat, wurde die Aktivlegitimation von der Verfügungsbeklagten nicht mehr in Abrede gestellt.
- II.Das Verfügungsgebrauchsmuster (nachfolgend nach Abs. zitiert, ohne das Verfügungsgebrauchsmuster explizit zu nennen) betrifft Kettenräder bzw. Kettenringe, und insbesondere Einzelkettenringe zur Verwendung mit einer bekannten Kette in einem Fahrradantriebstrangsystem, das eine Fahrradkurbel umfasst.
- 1.In seiner einleitenden Beschreibung schildert das Verfügungsgebrauchsmuster, dass Fahrräder und andere kettenangetriebene Fahrzeuge in der Regel einen oder mehrere Kettenringe und einen Satz von an einer hinteren Narbe angebrachten Ritzeln verwenden, die mit dem Kettenring über eine Kette verbunden sind (Abs. [0001]). Während des Fahrens eines Fahrrads mit einem kettengetriebenen Antriebsstrang seien die Handhabung der Kette und der Kettenringeingriff für einen sicheren und effektiven Antrieb des Fahrrads besonders wichtig. Hierbei könne es schwierig sein, die Kette mit dem Kettenring in Eingriff zu halten. Dies gelte insbesondere bei Fahrrädern mit Gangschaltungen, bei denen erhebliche Veränderungen in der Kettenspannung und dynamische Bewegungen der Kette auftreten könnten, vor allem während des Fahrens im Gelände (Abs. [0002]).
- Ferner bestehe die Gefahr, dass der Kettenring die Kettenstrebe des Fahrradrahmens berührt, wenn sich die Kurbel in einer Position befindet, in der hohe Lasten von dem Fahrer ausgeübt werden, was eine elastische Deformation des Fahrradrahmens und der Kurbelanordnung verursache. Dies könne zu Schäden am Rahmen und am Kettenring führen und andere Probleme verursachen (Abs. [0003]).
- Eine Aufgabe nennt das Verfügungsgebrauchsmuster nicht ausdrücklich. Vor dem Hintergrund des geschilderten Stands der Technik und Abs. [0004], wonach die Erfindung „eine verbesserte Antriebskettenhandhabung (…), insbesondere für Fahrräder, die erfolgreich und zuverlässig im groben und anspruchsvollen Gelände gefahren werden“, bereitstellt, ist die Bereitstellung eines verbesserten Kettenrings als Aufgabe anzusehen.
- 2.Zur Lösung dieser (subjektiven) Aufgabe schlägt das Verfügungsgebrauchsmuster einen Einzelkettenring nach Maßgabe von dessen Anspruch 1 vor, der sich in Form einer Merkmalsanalyse wie folgt gliedern lässt:
- a Einzelkettenring (50) für eine Fahrradvorderkurbelanordnung zum Eingreifen in eine Antriebskette (10),
- a1 wobei die Antriebskette (10) überlappend angeordnete äußere Verbindungselemente zum Ausbilden von ersten Verbindungsräumen (40) und innere Verbindungselemente zum Ausbilden von zweiten Verbindungsräumen (42) umfasst,
- a2 wobei die ersten Verbindungsräume (40) eine größere Quererstreckung bezüglich der Kettenlängsrichtung aufweisen als die zweiten Verbindungsräume (42),
- b wobei der Kettenring eine um einen Umfang des Kettenrings (50) ausgebildete Vielzahl von Zähnen (52) aufweist;
- b1 wobei die Vielzahl der Zähne eine gerade Anzahl an Zähnen ist;
- b2 wobei die Vielzahl von Zähnen eine erste Zahngruppe (58) zum Eingreifen in erste Verbindungsräume (40) der Antriebskette (10) und eine zweite Zahngruppe (60) zum Eingreifen in zweite Verbindungsräume (42) der Antriebskette (10) umfasst, die alternierend zwischen der ersten Zahngruppe (58) angeordnet ist;
- b3 wobei die Anzahl der ersten Zahngruppe (58) und die Anzahl der zweiten Zahngruppe (60) gleich ist;
- b4 wobei jede der ersten und zweiten Zahngruppen (58; 60) eine Außenseite (54) und eine Innenseite (56) aufweist, die entgegengesetzt zu der Außenseite (54) angeordnet ist;
- b5 wobei jede Außenseite (54) und jede Innenseite (56) jeder zweiten Zahngruppe eine in dem Kettenring entlang jeder zweiten Zahngruppe ausgebildete Ausnehmung definiert.
- Anspruch 15 des Verfügungsgebrauchsmusters lautet in der aufrecht erhaltenen Fassung:
- „15. Fahrradkurbelanordnung, aufweisend einen Fahrradkurbelarm; und einen Einzelkettenring nach einem der Ansprüche 1 bis 14.“
- 3.Nach § 12a GebrMG wird der Schutzbereich eines Gebrauchsmusters durch den Inhalt der Schutzansprüche bestimmt, wobei die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung der Schutzansprüche heranzuziehen sind. Die Auslegung ist nach den gleichen Grundsätzen vorzunehmen wie bei einem Patent (BGH, GRUR 2007, 1059 – Zerfallszeitmessgerät); so entspricht § 12a GebrMG inhaltlich den für Patente einschlägigen Regelungen in § 14 S. 1 PatG bzw. Art. 69 Abs. 1 S. 1 EPÜ.
- Das Verfügungsgebrauchsmuster betrifft einen Einzelkettenring für eine Antriebkette, die in den Merkmalen a1) und a2) näher definiert wird. Hiernach weist die Antriebskette (mit der der anspruchsgemäße Einzelkettenring zusammenwirken soll) erste und zweite Verbindungsräume auf. Die ersten Verbindungsräume werden von den äußeren Verbindungselementen gebildet und haben eine größere Querstreckung zur Kettenlängsrichtung (d.h. sind breiter) als die zweiten Verbindungsräume, die von den inneren Verbindungselementen der Kette gebildet werden.
- Das Verfügungsgebrauchsmuster sieht bei dem anspruchsgemäßen Ritzel (Einzelkettenring) passende Zähne zu einer solchen Kette vor. Diese sind in zwei Zahngruppen unterteilt, die sich auf dem Ritzel abwechseln (Merkmal b2). Die Zähne der zweiten Zahngruppe unterscheiden sich von den Zähnen der ersten Zahngruppe durch eine Ausnehmung, die an beiden Seiten des Ritzels entlang der zweiten Zahngruppe ausgebildet ist (Merkmal b5). Aufgrund dieser Ausnehmung sind die Zähne der zweiten Zahngruppe schmaler als die der ersten Zahngruppe. Damit können die (breiteren) Zähne der ersten Zahngruppe besser in die (breiteren) ersten Verbindungsräume der Kette eingreifen, während die Zähne der zweiten Zahngruppe besser in die schmaleren zweiten Verbindungsräume passen (vgl. Merkmal b2). Hierdurch wird eine besser definierte Kettenführung (im Sinne eines „passenderen“ Zusammenspiels) zwischen der Antriebskette und dem Ritzel erreicht.
- 4.Im Hinblick auf den Streit der Parteien bedürfen einige Merkmale der näheren Erörterung:
- a)Merkmalsgruppe a,
- „a Einzelkettenring (50) für eine Fahrradvorderkurbelanordnung zum Eingreifen in eine Antriebskette (10),
- a1 wobei die Antriebskette (10) überlappend angeordnete äußere Verbindungselemente zum Ausbilden von ersten Verbindungsräumen (40) und innere Verbindungselemente zum Ausbilden von zweiten Verbindungsräumen (42) umfasst,
- a2 wobei die ersten Verbindungsräume (40) eine größere Quererstreckung bezüglich der Kettenlängsrichtung aufweisen als die zweiten Verbindungsräume (42)“,lehrt zum einen, dass der beanspruchte Einzelkettenring „für eine Fahrradvorderkurbelanordnung“ eingesetzt werden kann, wobei er zum anderen „in eine Antriebskette“ eingreifen könne muss, die wiederum in den Merkmalen a1 / a2 näher umschrieben wird.
- Bei den Merkmalsteilen „für eine Fahrradvorderkurbelanordnung“ und „zum Eingreifen in eine Antriebskette“ handelt es sich jeweils um Zweckangaben. Derartigen Zweckangaben kommt regelmäßig keine unmittelbare schutzbereichsbeschränkende Wirkung zu (vgl. BGH, GRUR 1996, 747 – Lichtbogen-Plasma-Beschichtungssystem; BGH, GRUR 1991, 436 – Befestigungsvorrichtung II; Rinken/Kühnen in Schulte, PatG, 9. Aufl. 2014, § 14 Rn. 35). Allerdings können sie mittelbar eine bestimmte, in den übrigen Merkmalen nicht zum Ausdruck kommende Konstruktion umschreiben, nämlich dergestalt, dass diese Bauteile so ausgebildet sein müssen, dass sie die im Patentanspruch erwähnte Wirkung herbeiführen können (BGH, GRUR 2009, 837 – Bauschalungsstütze; BGH, GRUR 2012, 475 – Elektronenstrahltherapiesystem; OLG Düsseldorf, Urteil vom 15.05.2014 – I-2 U 74/13 – Rn. 189 bei Juris; Rinken/Kühnen in Schulte, a.a.O., § 14 Rn. 84). Unabhängig davon, ob der Gegenstand eines Patents für die Beurteilung seiner Patentfähigkeit oder zur Prüfung, ob das betreffende Patent verletzt wird, ermittelt wird, sind stets gleiche Maßstäbe anzulegen (BGH, GRUR 2007, 859 – Informationsübermittlungsverfahren I; BGH, GRUR 2009, 837, 838 [15] – Bauschalungsstütze), was jeweils auch für das Gebrauchsmusterrecht gilt. Für eine neuheitsschädliche Vorwegnahme dieses Merkmals muss demnach die Eignung zur Nutzung in einer Fahrradvorderkurbelanordnung zum Eingreifen in eine (bestimmte) Antriebskette in der betreffenden Entgegenhaltung offenbart sein, was sich für den Fachmann aber ggf. schon aus der Ausgestaltung des voroffenbarten Gegenstands ergeben kann.
- b)Die in den Merkmalen a1/a2 und b2,
- „b2 wobei die Vielzahl von Zähnen eine erste Zahngruppe (58) zum Eingreifen in erste Verbindungsräume (40) der Antriebskette (10) und eine zweite Zahngruppe (60) zum Eingreifen in zweite Verbindungsräume (42) der Antriebskette (10) umfasst, die alternierend zwischen der ersten Zahngruppe (58) angeordnet ist;“
- genannte Antriebskette ist nicht Teil des vom Verfügungsgebrauchsmuster beanspruchten Gegenstands; ihre Beschreibung (in Merkmalsgruppe a) ist Teil der Zweckangabe und definiert den Gegenstand, mit dem der anspruchsgemäße Kettenring zusammenwirken können muss.
- Merkmal b2 präzisiert das anspruchsgemäße Zusammenspiel zwischen der Antriebskette (näher definiert in Merkmalsgruppe a) und dem Kettenring, indem es vorschreibt, dass sich auf dem Kettenring breitere und schmalere Zähne abwechseln und diese in die korrespondierenden breiteren bzw. schmaleren Verbindungsräume der Kette eingreifen können sollen. Denn nach Merkmal b2 sollen die Zähne der ersten Gruppe in die ersten Verbindungsräume und die Zähne der zweiten Gruppe in die zweiten Verbindungsräume eingreifen können. Die ersten Verbindungsräume der Antriebskette sind breiter als die zweiten Verbindungsräume (Merkmal a2). Dies liegt darin, dass die ersten Verbindungsräume von den äußeren Verbindungselementen der Kette gebildet werden (Merkmal a1). Damit sind die zweiten Verbindungsräume schmaler, was auch für die zweiten Zähne gilt, da gemäß Merkmal b5 an diesen entlang eine Ausnehmung ausgebildet ist.
- Da Merkmal b2 nur den Kettenring selbst betrifft, reicht es für dessen Verwirklichung aus, wenn der anspruchsgemäße Kettenring so ausgestaltet ist, dass er mit einer konstruierbaren Antriebskette in der beschriebenen Weise zusammenwirken kann. Unschädlich ist, ob eine solche Antriebskette mit dem Kettenring tatsächlich verwendet wird oder überhaupt existiert – sie muss nur ohne größeren Aufwand konstruierbar sein.
- c)Zu Merkmal b5,
- „b5 wobei jede Außenseite (54) und jede Innenseite (56) jeder zweiten Zahngruppe eine in dem Kettenring entlang jeder zweiten Zahngruppe ausgebildete Ausnehmung definiert“,
- entnimmt der Fachmann dem Verfügungsgebrauchsmuster im Gesamtzusammenhang, dass Zweck der Ausnehmung die Aufnahme eines Teils der Antriebskette ist. Denn nur so kann die Ausnehmung zur Lösung des Problems beitragen, einen sicheren Sitz der Kette zu gewährleisten. Entsprechend der unterschiedlich breiten Verbindungsräume einer Kette soll die Ausnehmung unterschiedlich breite Zähne schaffen. Um zu einem sicheren Kettensitz beitragen zu können, muss der durch die Ausnehmung geschaffene (Frei-) Raum von der Kette ausgefüllt werden. Da die inneren Verbindungselemente die (schmaleren) zweiten Verbindungsräume ausbilden, greifen die (schmaleren) Zähne der zweiten Zahngruppe hierin ein (so Merkmal b2). Da aber die Kette selbst nicht Teil der anspruchsgemäßen Vorrichtung ist, reicht es aus, wenn eine Kette konstruierbar ist, die in diese Ausnehmungen eingreift.
- Um einen solchen Sitz der Kette erreichen zu können, darf die Ausnehmung nicht durchgängig sein, sondern nur entlang der Zähne der zweiten Zahngruppe definiert sein. Andernfalls wären alle Zähne gleich schmal und der Sitz der Kette würde jedenfalls nicht mit Hilfe der Ausnehmung verbessert.
- Entgegen der Auffassung der Verfügungsklägerin folgt aus dem Begriff „Einzelkettenring“ nicht, dass dieser aus einem Bauteil hergestellt sein muss. „Einzel“ bezieht sich nur darauf, dass für die Kette nur ein Ritzel vorhanden ist. Zu dem (inneren) Aufbau oder der Herstellung des Einzelkettenrings finden sich weder im Anspruch noch in der Beschreibung oder in den Zeichnungen des Verfügungsgebrauchsmusters irgendwelche Vorgaben.
- aa)Abs. [0089] f. des Verfügungsgebrauchsmusters entnimmt der Fachmann, dass die Ausnehmung „zum Aufnehmen der Länge LP einer inneren Verbindungsplatte 22 der Kette ausgebildet“ ist. Zwar darf der Anspruch nicht auf die in den Abs. [0089] konkret beschriebene Ausnehmung reduziert werden; die Funktion der Ausnehmung, Teile der Antriebskette aufnehmen zu können, ist aber für das Verfügungsgebrauchsmuster allgemein gültig und nicht auf das Ausführungsbeispiel beschränkt. Denn die Einbeziehung von Beschreibung und Zeichnungen des betreffenden Schutzrechts darf zwar nicht zu einer sachlichen Einengung oder inhaltlichen Erweiterung des durch seinen Wortlaut festgelegten Gegenstands führen (BGH GRUR 2007, 778 – Ziehmaschinenzugeinheit). Andererseits spricht nichts dagegen, Anhaltspunkte dafür, welche technische Funktion einem Merkmal im Rahmen der Erfindung zukommen soll, solchen Beschreibungsstellen zu entnehmen, die sich auf ein konkretes bevorzugtes Ausführungsbeispiel beziehen (OLG Düsseldorf, Urteil vom 30.10.2014 – Az. I-15 U 30/14 – Rn. 92 bei Juris).
- Da Abs. [0089] die allgemeine Funktion der Ausnehmung wiederspiegelt, wird der Begriff der „Ausnehmung 72“ hierin konsequenterweise synonym mit der „Verbindungsaufnahmeausnehmung 72“ verwendet, wobei dieselbe Ausnehmung gemeint ist. Dies zeigt, dass das Präfix „Verbindungsaufnahme-“ letztlich nur den Zweck ausdrücklich nennt, der vom Verfügungsgebrauchsmuster mit der Ausnehmung allgemein verbunden ist.
- bb)Zu Merkmal b5 hat die Löschungsabteilung ausgeführt (Ziff. 3.3.1 in Anlage EVK2), dass eine Ausnehmung eine „geometrisch klar umgrenzte Vertiefung“ sei, „die sich an der Form der inneren Verbindungsplatte 22 der Kette orientiert“. Dies hat sie wie folgt begründet:
- „Als Ausnehmung wird der Fachmann beim vorliegenden Gegenstand eine geometrisch klar umgrenzte Vertiefung vermuten. Eine solche kann er besonders gut in Figur 7 der Gebrauchsmusterschrift erkennen. Er wird jedoch auch die Beschreibung zur Auslegung heranziehen. ln Absatz 0089 findet er hierzu die „Verbindungsaufnahmeausnehmung 72“. In Absatz 0090 ist auch eine „Ausnehmung 72“ genannt. Der Begriff „Verbindungsaufnahmeausnehmung 72“ ist nicht fakultativ angegeben und daher als Klarstellung zu verstehen, zumal in Absatz 0089 auch, erneut nicht fakultativ, dargelegt ist, dass die Verbindungsaufnahmeausnehmung 72 „zum Aufnehmen der Länge LP einer inneren Verbindungsplatte 22 der Kette ausgebildet“ ist. Vor diesem Hintergrund ist nach Ansicht der Gebrauchsmusterabteilung mit „Ausnehmung“ eine Vertiefung gemeint, die sich an der Form der inneren Verbindungsplatte 22 der Kette orientiert. Dies deckt sich mit den Darstellungen in den Figuren 5 bis 7 und ist so in der gesamten Anmeldung widerspruchsfrei offenbart.“
- Soweit die Löschungsabteilung ausführt, anspruchsgemäß orientiere sich die Ausnehmung „an der Form der inneren Verbindungsplatte 22 der Kette“, ist dies Ausdruck der Funktion dieser Ausnehmung. Allerdings ist die Form der Kette nur insoweit maßgeblich, dass eine solche Ausgestaltung denk- und konstruierbar sein muss (vgl. die Ausführungen oben). Damit wird von Merkmal b5 eine konkrete Formgestaltung nicht allgemein vorgegeben.
- Dass eine Ausnehmung eine Vertiefung darstellt, geht ebenfalls bereits aus dem Anspruchswortlaut „Ausnehmung“ hervor. Nicht verlangt werden kann dabei aber, dass die Vertiefung durch das Wegschneiden von Material geschaffen wird. Das Verfügungsgebrauchsmuster verhält sich nicht dazu, wie die Ausnehmung hergestellt wird. Der von der Löschungsabteilung verwendete Begriff „Vertiefung“ darf jedenfalls nicht in einem solchen Sinne verstanden werden.
- III.Die Verfügungsklägerin hat hinsichtlich der angegriffenen Ausführungsformen I und II einen Verfügungsanspruch auf Unterlassung aus § 24 Abs. 1 GebrMG glaubhaft gemacht (hierzu unter 1.). Hinsichtlich der angegriffenen Ausführungsform III (Fahrradkurbelarme) besteht dagegen kein Verfügungsanspruch aus §§ 24 Abs. 1, 11 Abs. 2 GebrMG, da es sich bei den angegriffenen Kurbelarmen nicht um Mittel handelt, die sich auf ein wesentliches Element des Gegenstands des Gebrauchsmusters beziehen (hierzu unter 2.), so dass die erlassene einstweilige Verfügung insoweit aufzuheben war.
- 1.Soweit die einstweilige Verfügung bestätigt wurde, folgt der Unterlassungsanspruch der Verfügungsklägerin aus § 24 Abs. 1 GebrMG. Durch den Vertrieb der angegriffenen Ausführungsform I (Kettenring) und der angegriffenen Ausführungsform II (komplette Kurbelanordnung) verstößt die Verfügungsbeklagte gegen § 11 Abs. 1 S. 2 GebrMG. Die geltend gemachte, unmittelbare Verletzung des Verfügungsgebrauchsmusters durch die angegriffene Ausführungsformen I und II ist zwischen den Parteien zu recht unstreitig, so dass hierzu keine weiteren Ausführungen mehr erforderlich sind.
- 2.Durch Anbieten und/oder Liefern der angegriffenen Ausführungsform III (Kurbelarm) verletzt die Verfügungsbeklagte Anspruch 15 des Verfügungsgebrauchsmusters dagegen nicht mittelbar im Sinne von § 11 Abs. 2 GebrMG.
- a)Nach dieser Vorschrift ist es jedem Dritten verboten, ohne Zustimmung des Inhaberseines Gebrauchsmusters im Inland unberechtigten Personen Mittel, die sich auf ein wesentliches Element des Gegenstands des Gebrauchsmusters beziehen, zu dessen Benutzung im Inland anzubieten oder zu liefern, wenn es auf Grund der Umstände zumindest offensichtlich ist, dass diese Mittel dazu geeignet und bestimmt sind, für die Benutzung des Gegenstands des Gebrauchsmusters verwendet zu werden.
- Ein Mittel, das sich auf ein wesentliches Element des Gegenstands des Gebrauchsmusters bezieht liegt vor, wenn das angebotene oder gelieferte Mittel geeignet ist, mit einem solchen Element bei der Verwirklichung des geschützten Erfindungsgedankens funktional zusammenzuwirken. Mittel, die zwar bei der Benutzung der Erfindung verwendet werden können, zur Verwirklichung der Lehre der Erfindung jedoch nichts beitragen, werden von diesem Kriterium nicht erfasst. Leistet ein Mittel dagegen einen solchen Beitrag, kommt es grundsätzlich nicht darauf an, mit welchem Merkmal oder welchen Merkmalen des Patentanspruchs das Mittel zusammenwirkt (BGH, GRUR 2004, 758 – Flügelradzähler; BGH, GRUR 2007, 769 – Pipettensystem; jeweils zu § 10 Abs. 1 PatG, für den die gleichen Maßstäbe wie für § 11 Abs. 2 GebrMG gelten; vgl. Mes, PatG/GebrMG, 4. Aufl. 2015, § 11 GebrMG Rn. 3). Da der Anspruch maßgeblich dafür ist, welcher Gegenstand durch das Schutzrecht geschützt ist, sind regelmäßig alle im Anspruch benannten Merkmale wesentliche Elemente der Erfindung (vgl. BGH, GRUR 2004, 758 – Flügelradzähler), soweit sie nicht ausnahmsweise zum Leistungsergebnis nichts beitragen (vgl. BGH, GRUR 2007, 769 – Pipettensystem).
- b)Hiernach kann nicht festgestellt werden, dass es sich bei der angegriffenen Ausführungsform III um ein solches Mittel handelt, das sich auf ein wesentliches Element von Anspruch 15,
- „Fahrradkurbelanordnung, aufweisend einen Fahrradkurbelarm; und einen Einzelkettenring nach einem der Ansprüche 1 bis 14.“
- bezieht.
- Zwar wird der Fahrradkurbelarm in Anspruch 15 als eines von zwei Elementen der geschützten Fahrradkurbelanordnung genannt. Der Kurbelarm trägt jedoch zum Leistungsergebnis der Erfindung nichts bei. Die Erfindung ist vollständig in dem mit den Ansprüchen 1 – 14 beanspruchten Einzelkettenring realisiert und entfaltet sich im Zusammenspiel des Kettenrings mit einer Antriebskette (wobei die Ansprüche 2 – 14 Verfeinerungen dieser Lehre aufzeigen, die dieses Zusammenspiel weiter verbessern bzw. variieren). Der Kurbelarm überträgt dagegen nur die Rotationskraft auf den Kettenring, die dann weiter an die Antriebskette übertragen wird (vgl. Abs. [0077]). An der Verbindung zwischen Kurbelarm und Einzelkettenring wirkt sich die Erfindung gar nicht aus, sondern erst auf einer nachgelagerten Stufe des Kraftwegs – namentlich der Verbindung zwischen Einzelkettenring und der Antriebskette.
- Zur Lösung der Aufgabe der Erfindung trägt der Kurbelarm dagegen nichts bei. Weder vertieft der Kurbelarm den Gedanken der Erfindung, noch bringt das Hinzufügen des Kurbelarms andere erfindungsgemäße Vorteile mit sich. Der Fahrradkurbelarm ist vielmehr ein weiteres Element eines Fahrrads, das im Anspruch mit dem Kettenring kombiniert wird, ohne aber einen erkennbaren Einfluss auf das hier interessierende Zusammenspiel von Kette und Kettenring zu haben.
- IV.Die Verfügungsklägerin hat auch einen Verfügungsgrund für die Durchsetzung ihrer Ansprüche im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes glaubhaft gemacht. Der Rechtsbestand ist ausreichend gesichert (hierzu unter 1.) und die Sache ist dringlich (hierzu unter 2.).
- 1.Die Schutzfähigkeit der geltend gemachten Ansprüche des Verfügungsgebrauchsmusters ist ausreichend gesichert.
- Der Erlass einer einstweiligen Verfügung aus einem Gebrauchsmuster, insbesondere wenn sie auf Unterlassung gerichtet ist, kommt nur in Betracht, wenn der Bestand des Antragsschutzrechtes im Ergebnis so eindeutig zugunsten des Verfügungsklägers zu beantworten ist, dass eine fehlerhafte, in einem etwa nachfolgenden Hauptsacheverfahren zu revidierende Entscheidung nicht ernstlich zu erwarten ist (OLG Düsseldorf, InstGE 12, 114 – Harnkatheterset; OLG, Düsseldorf, InstGE 9, 140 – Olanzapin; ebenso OLG Karlsruhe, InstGE 11, 143 – VA-LVG-Fernseher). Zweifel an der Schutzfähigkeit des Verfügungsschutzrechtes können das Vorliegen eines Verfügungsgrundes ausschließen. Die Rechtsbeständigkeit muss das Verletzungsgericht in eigener Verantwortung einschätzen (OLG Düsseldorf, InstGE 12, 114 – Harnkatheterset; InstGE 9, 140, 146 – Olanzapin). Es hat selbstständig zu klären, ob der Sachvortrag des Verfügungsbeklagten ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür bietet, dass das Verfügungsschutzrecht ggf. keinen Bestand haben wird. Um einen Verfügungsantrag den Erfolg versagen zu können, muss die mangelnde Schutzfähigkeit als Folge der Einwendungen des Verfügungsbeklagten aus Sicht des Verletzungsgerichts weder zwingend noch überwiegend wahrscheinlich sein; es reicht schon aus, wenn der fehlende Rechtsbestand aufgrund einer in sich schlüssigen, vertretbaren und letztlich nicht von der Hand zu weisenden Argumentation der Verfügungsbeklagten möglich ist.
- Um ein Gebrauchsmuster für ein einstweiliges Verfügungsverfahren tauglich zu machen, bedarf es grundsätzlich einer positiven Entscheidung der dafür zuständigen und mit technischer Sachkunde ausgestatteten Instanzen im Löschungsverfahren (OLG Düsseldorf, Urteil vom 08.12.2011 – I-2 U 79/11 = BeckRS 2012, 07678). Eine (nicht notwendig rechtskräftige) Entscheidung der Löschungsabteilung ist damit grundsätzlich notwendig, um einen gesicherten Rechtsbestand feststellen zu können. Sie ist aber nur dann hinreichend, wenn das Gericht auch aus eigener Anschauung zum Ergebnis kommt, dass der gewürdigte Stand der Technik die Schutzfähigkeit nicht in Frage stellen kann. Dabei stellt die Entscheidung der Löschungsabteilung eine gewichtige fachkundige Äußerung dar, die es zu berücksichtigen gilt.
- Sofern Entgegenhaltungen – wie hier die US‘XXX – nicht Gegenstand des Löschungsverfahrens waren, muss für das Vorliegen eines Verfügungsgrundes das Verletzungsgericht davon überzeugt sein, dass das Verfügungsgebrauchsmuster auch angesichts dieser Entgegenhaltung in zweiter Instanz im Löschungsverfahren oder in einem weiteren Löschungsverfahren aufrecht erhalten wird. Dies gilt insbesondere, da es sich bei einem Gebrauchsmuster um ein ungeprüftes Schutzrecht handelt.
- Dies vorausgeschickt kann die Schutzfähigkeit des geltend gemachten Anspruchs 1 im Sinne eines gesicherten Rechtsbestands hier festgestellt werden. Gleiches gilt für Anspruch 15. Dieser unterscheidet sich von Anspruch 1 nur durch das Hinzufügen eines Fahrradkurbelarms zu einem Kettenring nach Maßgabe von Anspruch 1 (- 14). Mit der für Anspruch 1 hinreichend festgestellten Schutzfähigkeit geht daher die Schutzfähigkeit auch von Anspruch 15 einher.
- a)Die Entgegenhaltung US 2002/0098XXX (nachfolgend: US‘XXX; vorgelegt als Anlage 7 zum Anlagenkonvolut AG2 und in Übersetzung als Anlage EVK33) steht einem gesicherten Rechtsbestand nicht entgegen. Diese Entgegenhaltung nimmt den Gegenstand von Anspruch 1 nicht neuheitsschädlich vorweg (hierzu unter bb)) und begründet keine relevanten Zweifel an dessen Erfindungshöhe (hierzu unter cc)).
- aa)Die Entgegenhaltung US‘XXX betrifft nach Abs. [0001] US‘XXX das Fachgebiet der Kraftübertragungssysteme mit endlosen Ketten, insbesondere solche mit nach innen gerichtet öffnenden Zähnen. Dabei beschreibt die US‘XXX das Problem des Kettenspringens, welches im Zusammenhang mit dem Kettenspiel und der Größe der Kettenteilung steht. Da das Überspringen eines Zahns bei Ketten mit kleinerer Teilung steigt, können solche Ketten oftmals für bestimmte Anwendungsbereiche nicht eingesetzt werden (Abs. [0007], [0008] US‘XXX). Die US‘XXX nennt in diesem Zusammenhang motorgetriebene Nocken- oder Kurbelwellen.
- Die Lehre der US‘XXX wird in deren Abs. [0015] wie folgt zusammengefasst:
- „In dem System gemäß der Erfindung ist das Ritzel derart gestaltet, dass alternierende Zähne des Ritzels eine vergrößerte Breite aufweisen, sodass dann, wenn das Ritzel passend orientiert ist, diese sich zwischen den äußeren Führungsverbindungsgliedern nach außen erstrecken, die derart geformt sind, dass sie es zulassen, dass die Zähne in den Zwischenraum zwischen den Verbindungsgliedern eindringen. Wenn die Kette dazu tendiert, einen Zahn zu überspringen, sodass das Ritzel mit den breiten Zähnen in Ausrichtung zu den äußeren Führungsverbindungsgliedern gelangt, kontaktieren die breiten Zähnen die Führungsverbindungsglieder und verhindern, dass sich die Kette in das Ritzel hinein setzt.“
- Zur Veranschaulichung der Lehre dieser Entgegenhaltung werden nachfolgend Fig. 5 und 7 der US‘XXX verkleinert eingeblendet:
- Diese Ausgestaltung gemäß der US‘XXX hat den Effekt, dass die Kette nicht (nur) einen Zahn des Ritzels weit springen kann, sondern mindestens zwei Zähne springen muss, um wieder aufliegen zu können. Dies erläutert die Entgegenhaltung US‘XXX beispielshaft an einem Ausführungsbeispiel (Abs. [0025]):
- „Damit die Kette auf dem Ritzel gemäß der vorliegenden Erfindung Zähne überspringen kann, muss die Kette aufsteigen, sodass sie die Verbindungslieder von den Zähnen völlig außer Eingriff bringt, dann sich um die Länge von zwei Kettenteilungen versetzt, statt einer Bewegung um die Strecke von lediglich einem Zahn, wie sie bei herkömmlichen Kettenanordnungen möglich ist“
- Dies wiederum erlaubt die gewünschte „Verwendung kleinerer Zähne und kleinerer Kettenteilung und reduziert möglicherweise den Bedarf für aufwändige Spanner.“ (Abs. [0025] a.E. US‘XXX).
- bb)Der geltend gemachte Anspruch 1 des Verfügungsgebrauchsmusters ist neu gegenüber der US‘XXX, da diese Entgegenhaltung Merkmalsgruppe a nicht unmittelbar und eindeutig offenbart. In der US‘XXX ist zumindest die Eignung für die Verwendung in einer Fahrradvorderkurbelanordnung zum Eingreifen in eine Antriebskette nach Merkmalsgruppe a nicht ausreichend gezeigt.
- In der US‘XXX findet sich keine ausdrückliche Beschreibung der Verwendung des gezeigten Kettenrings für „eine Fahrradvorderkurbelanordnung“. Das dortige Ritzel ist vielmehr für eine Nocken- oder Kurbelwelle eines Verbrennungsmotors eines Kraftfahrzeuges bestimmt (vgl. Abs. [0002] US‘XXX).
- Der Fachmann kann eine Eignung gemäß der Merkmalsgruppe a aus der US‘XXX auch nicht mitlesen. Er kann bei Betrachtung des offenbarten Gegenstands nicht eindeutig erkennen, dass das gezeigte Ritzel für Fahrräder geeignet wäre. Eine solche Eignung besteht auch tatsächlich nicht, insbesondere da das in der US‘XXX gezeigte Ritzel mit einer invertierten Kette verwendet werden soll, die sich von den bei Fahrrädern üblichen Rollenketten unterscheidet. Abs. [0012] US‘XXX weist den Fachmann explizit darauf hin, dass sich eine Rollenkette – die den Merkmalen a1 / a2 entspricht – von der in der Entgegenhaltung US‘XXX gezeigten Kette insofern unterscheidet, dass dort das Ritzel die Rollen antreibt, anstatt dass die Zähne an den Verbindungsgliedern anliegen.
- In der US‘XXX verhindern die äußeren Führungsverbindungsglieder der invertierten Kette, dass sich die Kette in das Ritzel hineinsetzt, sofern dort ein breiterer Zahn vorhanden ist. Anders als beim Verfügungsgebrauchsmuster sollen die schmalen Zähne also gerade nicht in die schmalen Verbindungsräume der Kette eingreifen. Damit ist eine Verwendbarkeit mit einer Antriebskette gemäß Merkmalsgruppe a in der US‘XXX gerade nicht offenbart, da deren Verwendung ein genau gegenläufiges Zusammenspiel von Kette und Ritzel voraussetzen würde.
- Die fehlende Neuheitsschädlichkeit der US‘XXX wird indirekt bestätigt durch den EPA-Prüfer im Erteilungsverfahren zum EP 2 602 XXX A1 (Anmeldenummer: 12 008 132; auch „paralleles Erteilungsverfahren“ genannt). Dieser hat im Bescheid vom 21.09.2015 (Anlage AG5) unter Ziff. 4.1 ausgeführt, dass in der US‘XXX eine Verwendung in einem Fahrrad nicht gezeigt sei. Demzufolge hat er diese Entgegenhaltung für den Gegenstand der Anmeldung nicht als neuheitsschädlich angesehen, sondern die US‘XXX unter dem Gesichtspunkt der mangelnden Erfindungshöhe diskutiert (hierzu sogleich).
- cc)Der geltend gemachte Anspruch 1 ist auch erfinderisch gegenüber der US‘XXX.
- (1)Es kann allerdings nicht hinreichend ausgeschlossen werden, dass der Fachmann die US‘XXX für die Lösung des dem Verfügungsgebrauchsmuster zugrundliegenden Problems grundsätzlich heranziehen würde. Hiervon ist bei der Prüfung des gesicherten Rechtsbestands auszugehen, denn wenn in einem Punkt Zweifel bestehen, kann insoweit von einem gesicherten Rechtsbestand nicht ausgegangen werden.
- Das EPA hat im parallelen Erteilungsverfahren im Prüfungsbescheid vom 21.09.2015 unter Ziff. 4.1 (Anlage AG5; vgl. auch die ähnlichen Ausführungen im Prüfbescheid vom 09.05.2016 Anlage AG7 unter Ziff. 3.2 – 3.4) ausgeführt, dass es keines erfinderischen Schrittes bedürfe, um die Lehre der US‘XXX auf Fahrräder zu übertragen, da auch die US‘XXX den Zweck verfolgt, dass sich Kette und Kettenring gut mit einander verbinden, um die Gefahr von Schäden beim Fahren über unebenes Gelände zu vermeiden.
- Demgegenüber hat die Löschungsabteilung in Bezug auf die US‘XXX (siehe unten) ausgeführt hat, der Fachmann werde diese nicht heranziehen, da das dortige Ritzel – wie bei der US‘XXX – gar nicht für die Verwendung an einem Fahrrad ausgebildet sei.
- Wenn zwei sich widersprechende fachkundige Äußerungen vorliegen, ist es nicht die Aufgabe des Verletzungsgerichts, diesen Streit zu entscheiden. Im Falle eines einstweiligen Verfügungsverfahrens führt ein solcher Streit dazu, dass ein gesicherter Rechtsbestand des Verfügungsschutzrechts nicht angenommen werden kann (OLG Düsseldorf, Urteil vom 31.08.2017 – I-2 U 11/17), wenngleich hier die Auffassung der Löschungsabteilung mit drei Mitgliedern in einem kontradiktorischen Verfahren gegen die Meinung nur eines Prüfers im Erteilungsverfahren steht.
- Allerdings kann dies Zweifel am Rechtsbestand nur soweit hervorrufen, wie die gegenläufigen Äußerungen reichen. Im parallelen Erteilungsverfahren lagen den Bescheiden vom 21.09.2015 und vom 09.05.2016 (Analgen AG5 bzw. AG7) jeweils Ansprüche zugrunde, in denen der Kettenring als solcher beansprucht wird, ohne dass die hiermit zusammenwirkende Antriebskette näher beschrieben ist – d.h. anders als in den Merkmalen a1/a2 des Verfügungsgebrauchsmusters. Damit kann aus den EPA-Bescheiden nur abgeleitet werden, dass unklar ist, ob der Fachmann die US‘XXX für eine Anwendung am Fahrrad grundsätzlich heranziehen würde. Ob er dann auch zum Gegenstand des Verfügungsgebrauchsmusters käme, wurde von den sachverständigen Prüfern bzw. Mitglieder der Löschungsabteilung für die US‘XXX noch nicht erörtert.
- (2)Auch wenn der Fachmann die US‘XXX für Fahrräder grundsätzlich heranziehen würde, käme er nicht ohne erfinderischen Schritt (§ 1 Abs. 1 GebrMG) zur Lösung des Verfügungsgebrauchsmusters.
- Wie bereits oben ausgeführt, ist das Ritzel der US‘XXX für ein Zusammenwirken mit einer invertierten Kette ausgestaltet, welche sich grundsätzlich von der in den Merkmalen a1/a2 beschriebenen Kette unterscheidet. Die Lehre der US‘XXX ist nicht primär darauf ausgerichtet, dass die intervierte Kette mit dem Kettenring im Eingriff bleibt. Die hierin offenbarte Ausgestaltung der Zähne soll das Überspringen auf den nächsten Zahn verhindern, wobei das Springen um zwei Zähne weiter möglich ist.
- Dies unterscheidet sich von der Lehre des Verfügungsgebrauchsmusters, die auf einen sicheren Eingriff der Zähne in dazu passende Verbindungsräume der Kette ausgerichtet ist. Das Verfügungsgebrauchsmuster schlägt Zähne vor, die zu der in Merkmalsgruppe a vorgegebenen Rollenkette besser passen, da die unterschiedliche Querstreckung der Verbindungsräume bezüglich Kettenlängsrichtung von den Zähnen des anspruchsgemäßen Kettenrings wiedergespiegelt wird. Das Verfügungsgebrauchsmuster bewirkt einen besseren Kettensitz über ein besser passendes Eingreifen, wohingegen die US‘XXX ein falsches Aufsetzen der invertierten Kette auf den jeweils nächsten Zahn verhindert.
- Dass eine Ausgestaltung, wie sie etwa in Fig. 5 US‘XXX (s.o.) gezeigt ist, bei einer Rollenkette nach den Merkmalen a1/a2 zu einem Eingreifen nach Merkmal b2 führen wird und so ein besserer Kettensitz erreicht wird, kann der Fachmann ausgehend von der US‘XXX unter Berücksichtigung von deren Gesamtoffenbarung nicht ohne erfinderische Tätigkeit ersehen. Vielmehr bedarf es der erfinderischen Erkenntnis, dass ein solches Ritzel, sofern man es für die Verwendung bei einem Fahrrad anpasst, besser in die Verbindungsräume einer Rollenkette eingreift und so den Kettensitz bei einer Rollenkette verbessert. Dieser Ansatz kann der US‘XXX aber nicht entnommen werden.
- b)Der geltend gemachte Anspruch ist gegenüber der Entgegenhaltung US 4,174,XXX (nachfolgend: US‘XXX; Anlage D2) ebenfalls neu. Die US‘XXX ist als Entgegenhaltung D2 bereits von der Löschungsabteilung gewürdigt worden (S. 7 Abs. 1 Anlage EVK2), die davon ausging, dass die US‘XXX weder Neuheit noch Erfindungshöhe des Verfügungsgebrauchsmusters in Frage stellt.
- aa)Zur Veranschaulichung der Lehre der US‘XXX werden die Fig. 1 und 2 der US’XXX nachfolgend verkleinert eingeblendet:
- bb)Die Löschungsabteilung hat entschieden, dass der Fachmann die US‘XXX nicht berücksichtigt hätte, da eine Verwendung am Fahrrad nicht offenbart sei „und auch die Größe und Art der Montage erkennbar wenig Übereinstimmung mit einem Einzelkettenring aufweisen“ (S. 7 Abs. 1 a.E. Anlage EVK2).
- Die US‘XXX offenbart auch nach Ansicht der Kammer keine Verwendbarkeit „für eine Fahrradkurbelanordnung“ gemäß Merkmalsgruppe a. Nach ihrer einleitenden Beschreibung betrifft die US‘XXX allgemein Kettenantriebe einschließlich Ritzeln (Sp. 1 Z. 7 ff. US‘XXX). Der in der US‘XXX erörterte Stand der Technik betrifft landwirtschaftlichen Geräte (Sp. 1 Z. 12 u. Z. 37 US‘XXX). Eine Verwendung „für eine Fahrradkurbelvorderanordnung“ ist dagegen weder ausdrücklich noch implizit ersichtlich. Gegen einen solchen Einsatz spräche auch die Anzahl der Zähne von nur 8 Zähnen (Sp. 3 Z. 14 US‘XXX), was einem Einsatz in einem (üblichen) Fahrrad entgegensteht. Zwar ist die Erwähnung von acht Zähnen nur ein Beispiel; allerdings findet sich auch keine Offenbarung von einem Ritzel mit mehr Zähnen in dieser Entgegenhaltung. Gestützt wird dies durch die Entscheidung der Löschungsabteilung, die in diesem Zusammenhang keinen Fehler erkennen lässt.
- cc)Vor diesem Hintergrund kann die Frage der Offenbarung von Merkmal b5 in der US‘XXX letztlich dahingestellt bleiben. Zwar erscheint die Begründung der Löschungsabteilung für eine fehlende Offenbarung von Ausnehmungen auf einem zu engen Verständnis des Begriffs der Ausnehmung zu beruhen. Gleichwohl lassen sich auch aus Sicht der Kammer Ausnehmungen in der US‘XXX nicht hinreichend erblicken. Zwar sind die Zähne 18A und 18B in den oben eingeblendeten Figuren unterschiedlich breit; jedoch beruht dies nicht auf einer „in dem Kettenring entlang jeder zweiten Zahngruppe ausgebildeten Ausnehmung“, welcher einen Teil der Zähne schmaler macht. Vielmehr besteht eine durchgängige Ausnehmung am Kettenring, in die die Verbreiterung der breiteren Zähne 18b hineinragen. Diese würden beim Einsatz mit einer Antriebskette gemäß den Merkmalen a1/a2 keinen sicheren Sitz auf dem Ritzel bewirken.
- (3)Dass die US‘XXX die Lehre des Verfügungsgebrauchsmusters nahelegt, ist nicht ersichtlich und wird von der Verfügungsbeklagten auch nicht vorgetragen. Gegen ein Heranziehen der US‘XXX sprechen bereits die oben zur fehlenden Offenbarung der Eignung für die Verwendung in einer Fahrradvorderkurbelanordnung dargelegten Gründe.
- c)Die Entgegenhaltung JP S56-42XXX U (nachfolgend: JP‘XXX; vorgelegt mit Übersetzung als Anlage 5/5a zum Anlagenkonvolut AG2) steht der Annahme eines gesicherten Rechtsbestands ebenfalls nicht entgegen. Zur Veranschaulichung der Lehre der JP‘XXX wird nachfolgend deren Fig. 1 eingeblendet:
- Die JP‘XXX war als Entgegenhaltung D5 bereits Gegenstand des Löschungsverfahrens und wurde von der Löschungsabteilung als nächstliegender Stand der Technik eingestuft (Vgl. S. 7 Abs. 4 Anlage EVK2). Nach Ansicht der Löschungsabteilung fehlt in der JP‘XXX die Offenbarung von Ausnehmungen im Sinne von Merkmal b5.
- Diese Einschätzung der fachkundigen Löschungsabteilung ist im Ergebnis zutreffend, selbst wenn man Merkmal b5 – wie oben dargestellt – etwas anders als die Löschungsabteilung auslegt. Eine Offenbarung von Ausnehmungen im Sinne von Merkmal b5 ist in der JP‘XXX nicht ersichtlich, vielmehr sind nur einzelne Zähne punktuell durch Vorsprünge verbreitert.
- Dem stehen auch nicht Äußerungen des Prüfers im parallelen Erteilungsverfahren entgegen. In Ziff. 3.1 des Bescheides des EPA vom 21.09.2015 (Anlage AG5) wird zwar die JP‘XXX (dort D4) diskutiert; es werden jedoch keine Ausnehmungen erwähnt, sondern nur das Fehlen von Vorsprüngen (protrusions) an den Zähen der zweiten Zahngruppe. Die vom EPA im Prüfungsbescheid vom 21.09.2015 angenommene Neuheitsschädlichkeit bezieht sich – anders als die Verfügungsbeklagte vorträgt – auch nicht auf das Verfügungsgebrauchsmuster, sondern auf die EP-Anmeldung in der Fassung der Ansprüche vom 12.03.2015, die eine Ausnehmung nicht vorsehen.
- 2.Der Erlass einer einstweiligen Verfügung ist dringlich. Die Verfügungsklägerin hat ihre Rechte nicht zögerlich durchgesetzt. Es ist anerkannt, dass ein Patentinhaber eine erstinstanzliche Entscheidung im Rechtsbestandsverfahren abwarten darf, ohne die Dringlichkeit zu gefährden. Denn erst mit der erstinstanzlichen Bestätigung des Rechtsbestands in einem kontradiktorischen Verfahren ist dieser hinreichend gesichert – erst dann sind die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegeben (vgl. Kühnen, a.a.O., Kap. G. Rn. 128). Dies gilt gleichermaßen im Gebrauchsmusterrecht, wo ohne eine solche Bestätigung des Rechtsbestands der Erlass einer einstweiligen Verfügung regelmäßig scheitern wird.
- Damit ist die Dringlichkeit nur aufgrund des Verhaltens der Verfügungsklägerin nach der Aufrechterhaltung des Verfügungsgebrauchsmusters durch die Löschungsabteilung am 14.07.2017 zu beurteilen, da vor dieser Entscheidung die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Antrag noch nicht gegeben waren. Ab diesem Zeitpunkt hat sich die Verfügungsklägerin nicht zögerlich verhalten. Vielmehr hat sie innerhalb von weniger als einem Monat nach dieser Entscheidung (namentlich am 07.08.2017) den hier streitgegenständlichen Verfügungsantrag eingereicht.
- V.Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 ZPO.
- Im Rahmen des durch § 938 Abs. 1 ZPO eröffneten Ermessens wird die Vollziehung der einstweiligen Verfügung, soweit diese bestätigt wurde (d.h. in den Ziff. I.1, I.2 und II.), von der Leistung einer Sicherheit seitens der Verfügungsklägerin in Höhe von EUR 170.000,00 abhängig gemacht. Eine solche Anordnung erscheint geboten, da ein Hauptsacheurteil nur gegen Sicherheitsleistung für vorläufig vollstreckbar erklärt werden würde und die Verfügungsklägerin in einem einstweiligen Verfügungsverfahren demgegenüber nicht besser gestellt werden sollte (vgl. Kühnen, a.a.O., Kap. G. Rn. 69). Bei der Höhe der Sicherheitsleistung war der von der Kammer festgesetzte Streitwert maßgeblich. Soweit die Verfügungsbeklagte eine Sicherheitsleistung in Höhe von mindestens EUR 750.000,00 hilfsweise beantragt hat, fehlt es an substantiierten Vortrag zur Begründung dieses Betrags.
- Für die Verfügungsbeklagte folgt die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kosten (mit Abwendungsbefugnis der Verfügungsklägerin) aus §§ 708 Nr. 6, 711 ZPO.
- Im Übrigen – also hinsichtlich der von der Verfügungsklägerin zu vollstreckenden Kosten – ist das Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar, ohne dass es hierzu eines gesonderten Ausspruchs im Tenor bedurfte (vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, 31. Aufl. 2016, § 929 Rn. 1).
- VI.Der Streitwert wird auf EUR 200.000,00 festgesetzt.