Düsseldorfer Entscheidungsnummer: 2578
Landgericht Düsseldorf
Urteil vom 14. Oktober 2016, Az. 4c O 46/16
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Verfügungsklägerin.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Vollstreckungsklägerin darf die Voll-streckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 Prozent des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Verfügungsbeklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Der Streitwert wird auf 3.000.000,00 EUR festgesetzt.
Tatbestand
Die Verfügungsklägerin ist Inhaberin des deutschen Schutzzertifikats DE 12 2005 000 XXX für ein als
„Abacavir oder ein physiologisch funktionales Derivat davon in Kombination mit Lamivudin oder einem physiologisch funktionalen Derivat davon“
bezeichnetes Erzeugnis (vgl. Anlage AST 8, im Folgenden: Verfügungszertifikat). Das Verfügungszertifikat wurde am 27. April 2006 erteilt im Hinblick auf die Marktzulassun-gen EU/1/04/XXX/XXX und EU/1/04/XXX/XXX vom 17. Dezember 2004, die wiederum erteilt wurden für das Arzneimittel A® der Verfügungsklägerin, welches eine Wirkstoff-kombination des Sulfatsalzes von Abacavir und Lamivudin aufweist. Technisch beruht das Verfügungszertifikat auf dem europäischen Patent EP 0 817 XXX B1 (Anlage AST 10a, als deutsche Übersetzung unter der Registernummer DE 696 22 XXX T2 als Anlage AST 10b, im Folgenden: Grundpatent), das unter Inanspruchnahme zweier britischer Prioritäten vom 30. März 1995 (GB 9506XXX und GB 9506XXX) am 28. März 1996 angemeldet, das am 3. Oktober 1996 offengelegt und für das die Erteilung am 17. Juli 2002 veröffentlicht wurde. Das Grundpatent betrifft synergistische Kombinationen von Zidovudin, 1592U89 und 3TC.
Mit Schriftsatz vom 9. September 2016 (Anlage AR 3a) hat die Verfügungsbeklagte das Verfügungszertifikat angegriffen durch Erhebung einer Nichtigkeitsklage, über die noch nicht entschieden ist. Ebenso hat die im parallelen Rechtsstreit 4c O 49/16 auf Unterlassung in Anspruch genommene dortige Verfügungsbeklagte B GmbH (im Folgenden: B) das Verfügungszertifikat durch Erhebung einer Nichtigkeitsklage angegriffen, über die ebenfalls noch nicht entschieden ist. Auf eine durch die C GmbH erhobene Nichtigkeitsklage, Az. 3 Ni 2/14, hat das Bundespatentgericht (im Folgenden: BPatG) mit Verfügung vom 24. Februar 2015 (Anlage AR 1) einen qualifizierten Hinweis gemäß § 83 Abs. 1 Satz 1 PatG erteilt, in welchem es zu der Einschätzung gelangte, die technische Lehre des Grundpatents sei nicht neu. Die dort verfahrensgegenständliche Nichtigkeitsklage wurde aber zu einem späteren Zeitpunkt zurückgenommen, ohne dass es zu einer Entscheidung des BPatG kam.
Die Ansprüche 1, 2, 3, 9 und 10 des Grundpatents lauten in der englischen Verfahrenssprache der Patenterteilung:
„1. A combination comprising (1S‚4R)-cis-4-[2-amino-6-(cyclopropylamino)-9H-purin-9-yI]-2-cyclopentene-1-methanol or a physiologically functional derivative thereof and (2R,cis)-4-amino-(2-hydroxymethyl-1,3-oxathiolan-5-yl)-(1H)-pyrimidin-2-one or a physiologically functional derivative thereof.
2. A combination as claimed in claim 1 wherein the physiologically functional de-rivative of (1S‚4R)-cis-4-[2-amino-6-(cyclopropylamino)-9H-purin-9-yI]-2-cyclopentene-1-methanol or (2R,cis)-4-amino-(2-hydroxymethyl-1,3-oxathiolan-5-yl)-(1H)-pyrimidin-2-one is a physiologically acceptable salt, ether, ester, salt of such ester, or solvate thereof.
3. A combination according to claim 1 comprising (1S‚4R)-cis-4-[2-amino-6-(cyclopropylamino)-9H-purin-9-yI]-2-cyclopentene-1-methanol or a physiologically functional derivative thereof, zidovudine or a physiologically functional derivative thereof and (2R,cis)-4-amino-(2-hydroxymethyl-1,3-oxathiolan-5-yl)-(1H)-pyrimidin-2-one or a physiologically functional derivative thereof
9. Use of (1S‚4R)-cis-4-[2-amino-6-(cyclopropylamino)-9H-purin-9-yI]-2-cyclopentene-1-methanol and (2R,cis)-4-amino-(2-hydroxymethyl-1,3-oxathiolan-5-yl)-(1H)-pyrimidin-2-one in the manufacture of a medicament for the treatment and/or prophylaxis of an HIV infection.
10. Use of (1S‚4R)-cis-4-[2-amino-6-(cyclopropylamino)-9H-purin-9-yI]-2-cyclopentene-1-methanol, zidovudine and (2R,cis)-4-amino-(2-hydroxymethyl-1,3-oxathiolan-5-yl)-(1H)-pyrimidin-2-one in the manufacture of a medicament for the treatment and/or prophylaxis of an HIV infection.“
In deutscher Übersetzung:
„1. Kombination, umfassend (1S,4R)-cis-4-[2-Amino-6-(cyclopropylamino)-9H-purin-9-yl]-2-cyclopenten-1-methanol oder ein physiologisch funktionales Derivat davon und (2Rcis)-4-Amino-(2-hydroxymethyl-1‚3-oxathiolan-5-yl)-(1H)-pyrimidin-2-on oder ein physiologisch funktionales Derivat davon.
2. Kombination gemäß Anspruch 1, worin das physiologisch funktionale Derivat von (1S,4R)-cis-4-[2-Amino-6-(cyclopropylamino)-9H-purin-9-yl]-2-cyclopenten-1-methanol oder (2Rcis)-4-Amino-(2-hydroxymethyl-1‚3-oxathiolan-5-yl)-(1H)-pyrimidin-2-on ein physiologisch akzeptable(s/r) Salz, Ether, Ester, Salz eines solchen Esters oder Solvat davon ist.
3. Kombination gemäß Anspruch 1, umfassend (1S,4R)-cis-4-[2-Amino-6-(cyclopropylamino)-9H-purin-9-yl]-2-cyclopenten-1-methanol oder ein physiologisch funktionales Derivat davon, Zidovudin oder ein physiologisch funktionales Derivat davon und (2Rcis)-4-Amino-(2-hydroxymethyl-1‚3-oxathiolan-5-yl)-(1H)-pyrimidin-2-on oder ein physiologisch funktionales Derivat davon.
9. Verwendung von (1S,4R)-cis-4-[2-Amino-6-(cyclopropylamino)-9H-purin-9-yl]-2-cyclopenten-1-methanol und (2Rcis)-4-Amino-(2-hydroxymethyl-1‚3-oxathiolan-5-yl)-(1H)-pyrimidin-2-on in der Herstellung eines Medikaments zur Behandlung und/oder Prophylaxe einer HIV-Infektion.
10. Verwendung von (1S,4R)-cis-4-[2-Amino-6-(cyclopropylamino)-9H-purin-9-yl]-2-cyclopenten-1-methanol, Zidovudin und (2Rcis)-4-Amino-(2-hydroxymethyl-1‚3-oxathiolan-5-yl)-(1 H)-pyrimidin-2-on in der Herstellung eines Medikaments zur Behandlung und/oder Prophylaxe einer HIV-Infektion.“
Der Verfügungsklägerin wurde am 2. Januar 2001 eine Genehmigung zum Inver-kehrbringen des Arzneimittels mit den Handelsnamen D® erteilt, welches die drei Wirkstoffe Abacavir, Lamivudin und Zidovudin hat. Ferner wurde der Verfügungsklägerin am 17. Dezember 2004 eine Genehmigung des Arzneimittels mit dem Handelsnamen A® erteilt, welches die zwei Wirkstoffe Abacavir (diesen in Form des Sulfatzsalzes) und Lamivudin hat. Aufbauend auf diese Genehmigung hat die Verfügungsklägerin das Verfügungszertifikat am 13. Mai 2005 beantragt, das im Dezember 2019 ablaufen wird.
Bereits jetzt gibt es zum verfügungszertifikatgemäßen Originalprodukt A® ein Ge-nerikum auf dem Markt, nämlich ein von der Firma E angebotenes. Dies beruht auf einer im Rahmen eines Vergleichs im Mai 2015 geschlossenen Vereinbarung der Verfügungsklägerin mit der Konzernmutter der Firma E, nämlich der Firma C. Das Generikum der Firma E ist im Abgabepreis für Patienten circa 15 Prozent billiger als das Originalprodukt A®. In Deutschland ist die deutsche Tochtergesellschaft der Verfügungsklägerin, die F GmbH, sowie die Firma E für verfügungszertifikatgemäße Fertigarzneimittel sogenannten Open-House-Verträgen mit deutschen gesetzlichen Krankenkassen beigetreten, durch welche die Krankenkassen mit allen interessierten pharmazeutischen Unternehmen eine Lieferbeziehung nach vordefinierten Konditionen eingehen, und im Rahmen derer üblicherweise Rabatte auf die Preise ausgehandelt werden.
Mit anwaltlichem Schreiben vom 26. Juli 2016 (enthalten in Anlagenkonvolut AST 7) kündigte die Verfügungsbeklagte an, bis Ende September 2016 ein generisches Kombinationspräparat auf den Markt zu bringen, das Abacavir und Lamivudin enthält und das die Bezeichnung Abacavir/Lamivudin G® 600mg/300mg Filmtabletten tragen soll (im Folgenden: angegriffene Ausführungsform).
Den parallelen Verfügungsantrag gegen B, der Gegenstand des Rechtsstreits 4c O 49/16 ist, hat die Verfügungsklägerin am 11. Oktober 2016 durch Schriftsatz zu-rückgenommen.
Die Verfügungsklägerin meint, ihre Interessen an der Durchsetzung der Ansprüche aus dem Verfügungszertifikat überwögen ungeachtet dessen, dass bereits ein generischer Konkurrent auf dem Markt sei in Gestalt von E. Von einem Auftreten der Verfügungsbeklagten auf dem relevanten Markt, der aufgrund des beschränkten Kreises von Patienten beschränkt bleibe, drohe eine erhebliche Signalwirkung auszugehen.
Die Verfügungsklägerin ist der Auffassung, das Verfügungszertifikat werde sich im Zuge der beiden parallelen Nichtigkeitsverfahren als rechtsbeständig erweisen. Insoweit hat die Verfügungsklägerin erklärt, sie werde das Verfügungszertifikat wenigstens hilfsweise im Umfang des hiesigen Verfügungsantrags, also mit einem Disclaimer des Sinngehalts verteidigen, dass kein Schutz beansprucht wird für das Succinat-Salz von Abacavir und für die Solvate dieses Succinat-Salzes. Jedenfalls in diesem Umfange sei das Verfügungszertifikat zu Recht erteilt. Der genannte Disclaimer sei wirksam. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Patentamts (im Folgenden: EPA) könne durch einen Disclaimer eine im Grundpatent genannte bevorzugte Ausführungsform wirksam und ohne Verstoß gegen das Verbot der unzulässigen Erweiterung gemäß Art. 123 Abs. 2 EPÜ vom Schutzbereich des Verfügungszertifikats ausgenommen werden. Auch im Hinblick auf die Anknüpfung an die arzneimittelrechtlichen Genehmigungen sei das Verfügungszertifikat zu Recht erteilt worden. Die frühere Genehmigung für D®, also des Fertigarzneimittels, welches neben Abacavir und Lamivudin als weiteren Wirkstoff auch Zidovudin enthielt, sei nicht die erste Genehmigung im Sinne von Art. 3 lit. d) der VO (EG) 469/2009 (im Folgenden: ESZ-VO ) gewesen. Aus der auf der Entscheidung Medeva aufbauenden Rechtsprechung in der Sache Medeva des Europäischen Gerichtshofs (im Folgenden: EuGH) folge vielmehr, dass als erste maßgebliche arzneimittelrechtliche Genehmigung erst die für A® zu verstehen sei. Ferner ist die Verfügungsklägerin der Auffassung, die technische Lehre des Verfügungszertifikats und des Grundpatents sei – zumal unter Berücksichtigung des Disclaimers – neu und beruhe auf erfinderischer Tätigkeit, letzteres zumal weil die Priorität des Grundpatents wirksam in Anspruch genommen worden sei.
Die Verfügungsklägerin beantragt,
es der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Verfügung aufzugeben,
1. es bei Meidung eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu EUR 250.000,00 EUR – ersatzweise Ordnungshaft – oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, im Wiederholungsfalle Ordnungshaft bis zu zwei Jahren, wobei die Ordnungshaft an den jeweiligen Mitgliedern des Vorstandes der Antragsgegnerin zu vollziehen ist, zu unterlassen,
eine Kombination umfassend (1S,4R)-cis-4-[2-Amino-6-(cyclopropylamino)-9H-purin-9-yl]-2-cyclopenten-1-methanol (Abacavir) oder ein physiologisch funktionales Derivat davon, mit Ausnahme des Succinat-Salzes von Abacavir und von Solvaten dieses Succinat-Salzes,
und (2R,cis)-4-Amino-1-(2-hydroxymethyl-1‚3-oxathiolan-5-yl)-(1H)-pyrimidin-2-on (Lamivudin) oder einem physiologisch funktionalen Derivat davon
ohne Zustimmung der Antragstellerin in der Bundesrepublik Deutschland als Arzneimittel zur Behandlung und/oder Prophylaxe von HIV herzustellen, anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauche oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen;
2. die im Besitz oder Eigentum der Antragsgegnerin befindlichen, unter Ziffer 1. bezeichneten Erzeugnisse an einen von der Antragstellerin zu beauftragen-den, örtlich zuständigen Gerichtsvollzieher zum Zwecke der vorläufigen Ver-wahrung herauszugeben, und zwar bis zu einer außergerichtlichen Einigung der Parteien oder bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den mit der angeordneten Verwahrung gesicherten Vernichtungsanspruch der Antragstellerin.
Die Verfügungsbeklagte beantragt,
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung abzuweisen;
hilfsweise: den Vollzug einer einstweiligen Verfügung von einer Sicherheitsleistung nicht unter 3.000.000,00 EUR abhängig zu machen.
Die Verfügungsbeklagte wendet gegen die Sicherung des Vernichtungsanspruchs ein, sie habe noch gar keinen Besitz und kein Eigentum an Exemplaren der angegriffenen Ausführungsform im Inland.
Die Verfügungsbeklagte ist der Auffassung, die Verfügungsklägerin habe kein überwiegendes Interesse an der Sicherung eines Unterlassungsanspruchs aus dem Verfügungszertifikat, da E bereits mit einem Generikum auf dem Markt ist und der Markteintritt von B, nachdem gegen diese ein paralleler Verfügungsantrag zu-rückgenommen wurde, unmittelbar bevorstehe. Hierzu bringt die Verfügungsbeklagte vor, dass E mit seinem generischen Konkurrenzprodukt einen Marktanteil von 25 Prozent erreicht habe und dass dieser Marktanteil noch weiter wachsen werde. Ferner bestreitet die Verfügungsbeklagte, dass sich ihr Markteintritt mit einem generischen Konkurrenzprodukt überhaupt wirtschaftlich auf die Verfügungsklägerin auswirken könne, diese also wirtschaftlich überhaupt betroffen sei.
Die Verfügungsbeklagte meint ferner, das Verfügungszertifikat werde sich im Zuge des parallelen Nichtigkeitsverfahrens als nicht rechtsbeständig erweisen. Das Verfügungszertifikat sei zu Unrecht erteilt worden, weil nicht die arzneimittelrechtliche Genehmigung für das Inverkehrbringen von A® die erste Genehmigung für ein Medikament nach der Lehre des Grundpatents gemäß der ESZ-VO gewesen sei, sondern diejenige für D®. Der angekündigte Disclaimer, mit dem Succinat-Salze von Abacavir sowie Solvate davon aus dem Schutzbereich des Verfügungszertifikats ausgenommen werden sollen, sei, gemessen an der einschlägigen Entscheidungspraxis der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts (im Folgenden: EPA) nicht zulässig und werde somit zu einem Verstoß gegen Art. 123 EPÜ führen. Ohne den Disclaimer seien die technische Lehre des Grundpatents und damit des Verfügungszertifikats nicht neu, jedenfalls beruhten sie aber, zumal weil das Grundpatent seine Priorität nicht wirksam habe in Anspruch nehmen können, nicht auf erfinderischer Tätigkeit.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die zur Gerichtsakte gereichten Schriftsätze nebst Anlagen ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ist unbegründet. Der Verfügungsklägerin steht zwar der geltend gemachte Anspruch auf Unterlassung ge-mäß Art. 64 EPÜ, §§ 139 Abs. 1 PatG, Art. 5 der ESZ-VO zu. Die Durchsetzung dieses Anspruchs ist indes für die Verfügungsklägerin nicht dringlich im Sinne von § 935 ZPO. Das Interesse der Verfügungsklägerin an der Durchsetzung ihres Unterlassungsanspruchs aus dem Verfügungszertifikat überwiegt nicht in einem Maße, das die Rechtsdurchsetzung dringlich erscheinen lässt. Zudem erscheint der Rechtsbestand des geltend gemachten Verfügungszertifikats nicht hinreichend gesichert, um auf dieser Grundlage eine einstweilige Verfügung zu erlassen.
I.
Das dem Verfügungszertifikat zugrunde liegende Grundpatent betrifft synergistische Kombinationen von Zidovudin, 1592U89 (Abcavir) und 3TC (Lamivudin).
Wie das Grundpatent einleitend ausführt, ist der Wirkstoff Zidovudin (auch 3‘-Azido-3‘-desoxythymidin genannt, in voller Nomenklatur: 1-[(2R,4S,5S)-4-Azido-5-hydroxymethyl-oxolan-2-yl]-5-methyl-pyrimidin-2,4-dion) bekannt als wichtiges und nützliches Chemotherapeutikum zur Behandlung und/oder Prophylaxe von HIV-Infektionen und der daraus entstehenden klinischen Krankheitszustände wie AIDS, AIDS-bezogenem Komplex und AIDS-Demenz-Komplex sowie zur Behandlung von Patienten mit asymptomatischer HIV-Infektion oder mit positivem Anti-HIV-Antikörper-Befund. Dabei verlängert Zidovudin das erkrankungsfreie Intervall bei asymptomatischen, mit HIV infizierten Patienten und verzögert den Tod symptomatischer Patienten.
Allerdings hat sich als nachteilig herausgestellt, dass das Virus in der klinischen Ver-wendung von Zidovudin im genannten Zusammenhang in bestimmten Fällen nach einer verlängerten Behandlung eine gewisse Resistenz gegenüber Zidovudin entwickeln kann und der Patient weniger empfindlicher gegenüber diesem Wirkstoff wird.
Hiervon ausgehend würdigt das Grundpatent den in der EP 0 434 450 als vielverspre-chenden Kandidaten für ein Anti-HIV-Chemotherapeutikum offenbarten Wirkstoff 1592U89 (Abacavir; in voller Nomenklatur: (1S,4R)-cis-4-[2-Amino-6-(cyclopropylamino)-9H-purin-9-yl]-2-cyclopenten-1-methanol). Gemäß dieser Offenba-rung weist Abacavir eine hochwirksame Aktivität gegen HIV, geringe Zytotoxizität und ein ausgezeichnetes Eindringen in das Gehirn auf, wobei letzteres wichtig für die Be-handlung von AIDS- und HIV-verbundenen Erkrankungen wie AIDS-bezogener Demenz ist.
Ebenso würdigt das Grundpatent die Offenbarung der EP 0 382 526, gemäß der be-stimmte Nukleosid-Analoga, die einen Oxathiolan-Rest anstelle des Zuckerrestes auf-weisen, eine Anti-HIV-Aktivität besitzen, namentlich die Verbindung 4-Amino-1-(2-hydrymethly-1,3-oxathiolan-5-yl)-(1H)-pyrimidin-2-on, welche auch als BCH-189 be-zeichnet wird und als razemische Mischung bekannt ist. Ferner ist bekannt, dass aus dieser razemischen Mischung zwar beide Enantiomere gleich wirksam gegen HIV sind, das aber das (-)-Enantiomer von BCH-189 (das ist: (2R-cis)-4-Amino-1-(2-hydroxymethyl-1,3-oxathiolan-5-yl)-(1H)-pyrimidin-2-on, auch als 3TC oder Lamivudin bezeichnet) eine niedrigere Cytotoxizität zeigt als das (+)-Enantiomer.
Ferner gibt das Grundpatent an, dass zum Prioritätszeitpunkt die Behandlung einer HIV-Infektion auf der Einzeltherapie mit nukleosidischen reversen Transkriptase-Inhibitoren beruht, namentlich Zidovudin, Didanosin (auch als ddI bezeichnet), Zalcitabin (auch als ddC bezeichnet) und Stavudin (auch als D4T bezeichnet). Weil diese Wirkstoffe aber gegen auftretende Mutanten von HIV resistent oder toxisch sein können, sind sie weniger effektiv und es wird insoweit durch das Grundpatent als technische Aufgabe formuliert, neue Therapien bereit zu stellen.
Schließlich würdigt das Grundpatent es als vorbekannt, dass Kombinationstherapien aus Zidovudin mit entweder ddC oder ddI erfolgversprechende Ergebnisse gezeigt ha-ben, ebenso die Kombination von Zidovudin und Lamivudin (= 3TC). Allerdings weist das Grundpatent auf die Problematik hin, dass Arnzeistoffe mit der gleichen Wirkungs-stelle womöglich antagonistisch oder additiv wirken.
Zur Lösung dieser Aufgabe schlägt das Grundpatent in seinem Anspruch 1 eine Wirk-stoffkombination mit folgenden Merkmalen vor:
1. Kombination, umfassend
2. (1S,4R)-cis-4-[2-Amino-6-(cyclopropylamino)-9H-purin-9-yl]-2-cyclopenten-1-methanol
2.1. oder ein physiologisch funktionales Derivat davon
und
3. (2R,cis)-4-Amino-(2-hydroxymethyl-1,3-oxathiolan-5-yl)-(1H)-pyrimidin-2-on
3.1. oder ein physiologisch funktionales Derivat davon.
In der von der Verfügungsklägerin vorliegend mit dem Verfügungsantrag geltend ge-machten Fassung, welche die Verfügungsklägerin im parallelen Nichtigkeitsverfahren jedenfalls hilfsweise eingeschränkt verteidigen will, weist das Grundpatent demgegen-über einen Disclaimer auf und damit die folgenden Merkmale:
1. Kombination, umfassend
2. (1S,4R)-cis-4-[2-Amino-6-(cyclopropylamino)-9H-purin-9-yl]-2-cyclopenten-1-methanol
2.1. oder ein physiologisch funktionales Derivat davon
2.2. mit Ausnahme des Succinat-Salzes und von Solvaten dieses Succinat-Salzes
und
3. (2R,cis)-4-Amino-(2-hydroxymethyl-1,3-oxathiolan-5-yl)-(1H)-pyrimidin-2-on
3.1. oder ein physiologisch funktionales Derivat davon.
II.
Zwischen den Parteien steht – zu Recht – außer Streit, dass die angegriffene Ausfüh-rungsform in den Schutzbereich des Verfügungszertifikats fällt und daher deren Vertrieb grundsätzlich geeignet ist, das Verfügungszertifikat zu verletzen.
III.
Ein Verfügungsanspruch besteht demnach insoweit, wie die Verfügungsklägerin Unterlassung geltend macht. Der Unterlassungsanspruch der Verfügungsklägerin folgt aus Art. 64 EPÜ, § 139 PatG, Art. 5 der ESZ-VO. Die konkrete Ankündigung der Verfügungsbeklagten, die angegriffene Ausführungsform bis Ende September 2016 auf den Markt bringen zu wollen, begründet wenigstens eine Erstbegehungsgefahr für Verletzungshandlungen.
Nicht dargelegt sind die Voraussetzungen für einen Verfügungsanspruch mit Blick auf die geltend gemachte Sequestrierung zum Zwecke der Sicherung eines Vernichtungs-anspruchs gemäß Art. 64 EPÜ, § 143a Abs. 3 PatG. Die Verfügungsklägerin mutmaßt lediglich, die Verfügungsbeklagte habe (bereits) im Inland Besitz oder Eigentum an Exemplaren der angegriffenen Ausführungsform. Diese Mutmaßung stützt die Verfü-gungsklägerin auf allgemeine Darstellungen zum öffentlich verlautbarten Geschäftsgebaren der Verfügungsbeklagte, die von sich behauptet, Arzneimittel an Standorten in Deutschland zu produzieren (etwa mit Verweis auf die als Anlagenkonvolut AST 5 zur Gerichtsakte gereichten Ausdrucke des Internetauftritts der Verfügungsbeklagten). Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Verfügungsbeklagte Exemplare der angegriffenen Ausführungsform im Inland hergestellt oder auf andere Weise an solchen Besitz oder Eigentum erlangt hat, hat die Verfügungsklägerin nicht dargetan. Es obliegt der Verfügungsbeklagten auch nicht, ihrerseits die Mutmaßungen der Verfügungsklägerin durch konkreten Sachvortrag zu widerlegen, weil dies auf eine Umkehrung der Darlegungslast hinaus liefe, für die es keine rechtliche Grundlage gibt.
IV.
Es fehlt indes vorliegend an einem Verfügungsgrund. Die Durchsetzung der Ansprüche aus dem Verfügungszertifikat ist nicht dringlich.
1.
Zur Bejahung der Dringlichkeit und damit des Verfügungsgrundes bedarf es, über den vorliegend nicht im Streit stehenden Aspekt der zeitlichen Dringlichkeit hinaus, der Ab-wägung der wechselseitigen Parteiinteressen.
a)
Insoweit ist es in der obergerichtlichen Rechtsprechung des OLG Düsseldorf – welcher die Kammer sich anschließt – anerkannt (zuletzt OLG Düsseldorf, Urt. v. 19. Februar 2015, I-2 U 55/16 – Östrogen-Entzug / Fulvestrant), dass zwar grundsätzlich eine Verfügung auf Grundlage eines im Rechtsbestand angegriffenen technischen Schutzrechts nur in Betracht kommt, wenn das Schutzrecht ein erstinstanzliches Rechtsbestandsverfahren überstanden hat. Unter dieser Voraussetzung droht eine fehlerhafte, im nachfolgenden Hauptsacheverfahren zu revidierende Entscheidung nicht mehr konkret. Andererseits soll von diesem Erfordernis mit Rücksicht auf die wechselseitigen Parteiinteressen in Sonderfällen abgewichen werden können. Insoweit ist anerkannt, dass der drohende Markteintritt eines pharmazeutischen Generikums einen Sonderfall grundsätzlich begründen kann.
Dies kann grundsätzlich daraus folgen, dass das Generikaunternehmen seinerseits keine oder nur geringfügige wirtschaftliche Risiken eingeht, wenn es den Markteintritt trotz eines womöglich rechtsbeständigen entgegenstehenden Schutzrechts wagt, während umgekehrt der das Schutzrecht innehabende Originator befürchten muss, einen enormen Schaden durch den Preisverfall zu erleiden, den der Eintritt eines Generika-Herstellers auf den Markt verursacht. Für dieses Ergebnis soll außerdem sprechen, dass der Originator es auf sich genommen hat, das fragliche Fertigarzneimittel medizinisch hinreichend zu erproben und auf dem Markt zu etablieren, während das Generika-Unternehmen insoweit keine wirtschaftlichen Risiken auf sich nimmt.
b)
Im vorliegenden Fall kann indes nicht von Umständen ausgegangen werden, die es nach der genannten obergerichtlichen Rechtsprechung rechtfertigen, einen Sonderfall anzunehmen, in dem ein angefochtenes technisches Schutzrecht nicht erstinstanzlich bestätigt sein muss, um als Grundlage einer einstweiligen Verfügung zu dienen. Anders als in anderen Konstellationen, in denen ein Originator gestützt auf ein noch laufendes Schutzrecht den Markteintritt eines Generika-Herstellers zu verhindern sucht, besteht vorliegend die Besonderheit, dass die Verfügungsklägerin die Vermarktung eines Generikums durch ein ihr nicht konzernverbundenes Unternehmen, nämlich durch die Firma E, zugelassen hat.
Die Verfügungsklägerin bringt nichts dazu vor, in welcher rechtlichen Form sie die un-mittelbar konkurrierende Marktaktivität von E zulässt, ob als Lizenz (entgeltlich oder unentgeltlich) oder als bloße Duldung, und ebenso wenig dazu, was sie unter-nehmerisch dazu veranlasst hat, generischen Wettbewerb zuzulassen. Unstreitig be-steht aber ein enger zeitlicher Zusammenhang mit demjenigen Vergleichsschluss, der zur Rücknahme der Nichtigkeitsklage der C GmbH i.d.S. 3 Ni 2/14 (EP) des BPatG geführt hat (qualifizierter Hinweis des BPatG aus diesem Verfahren als Anlage AR 1). Somit verzichtet die Verfügungsklägerin aus freien Stücken darauf, ihr Ausschließlich-keitsrecht aus dem Verfügungszertifikat vollständig durchzusetzen. Ebenso ist es un-streitig, dass die Wettbewerberin E den Preis des Original-Produkts A® um etwa 15 Prozent und damit nicht nur marginal unterbietet. Damit haben sich bereits jetzt alle negativen Konsequenzen eines generischen Markteintritts realisiert: Das Origi-nalprodukt kann nur noch eingeschränkt vertrieben werden, sofern es sich dem ent-standenen Preisdruck nicht beugt. Hierfür spricht auch der gleichfalls unstreitige Um-stand, dass die Verfügungsklägerin ebenso wie die Firma E für das fragliche Medikament einen Open-House-Vertrag eingegangen ist. Die Verfügungsklägerin lässt es zu, dass ein ihr nicht konzernverbundenes Unternehmen, auf das sie also keinen Einfluss nehmen kann und an dessen wirtschaftlichen Erfolg sie keinen Anteil hat, ohne eigenes größeres wirtschaftliches Risiko an dem durch das Originalpräparat A® geschaffenen und erschlossenen Markt partizipieren kann.
Soweit die Verfügungsklägerin sich darauf beruft, das Landgericht Düsseldorf habe (Urt. v. 19. Oktober 2012 – Riluzol) die Dringlichkeit eines Verfügungsantrags eines Originators trotz bereits bestehenden generischen Wettbewerbs bejaht, stehen die in dieser Entscheidung angestellten Erwägungen der Verneinung einer Dringlichkeit im vorliegenden Fall nicht entgegen. Im dortigen Fall hatte der patentinhabende Originator ein konkurrierendes Generikum durch eine konzernangehörige Gesellschaft vertreiben lassen. Hierzu hat das Landgericht Düsseldorf entschieden (a.a.O., Rdn. 47 bei juris), ein solches Verhalten des Originators stehe dem Erlass einer einstweiligen Verfügung zu seinen Gunsten deshalb nicht entgegen, weil es in der anerkennenswerten Entscheidungsfreiheit eines Patentinhabers stehe, Lizenzen gegen Zahlung einer Lizenzgebühr zu vergeben mit dem Ziel, bereits kurz vor Ablauf des Schutzes ein Generikum auf dem Markt zu etablieren und damit ein first entry auf dem Markt für Generika abzusichern.
Anders als in dem dort entschiedenen Fall hat die hiesige Verfügungsklägerin nicht etwa einem konzernverbundenen Unternehmen gegen Zahlung einer Lizenzgebühr eine Lizenz erteilt, damit im selben Konzern bereits der Vertrieb eines Generikums etabliert wird, ehe die Schutzdauer des entsprechenden Schutzrechts endet und der unkontrollierte Marktzutritt beliebiger Generika-Unternehmen eröffnet ist. Vielmehr hat die hiesige Verfügungsklägerin mit einem konkurrierenden, nicht konzernangehörigen Unternehmen, zunächst um die Validität des Schutzrechts gestritten, also Maßnahmen gegen dessen Marktzutritt ergriffen, und erst später, aus nicht dargelegten Motiven, dessen Marktzutritt schließlich doch gestattet. Soweit es E gelingt, das entsprechende Generikum erfolgreich auf dem Markt zu etablieren, hat die Verfügungsklägerin keinen Anteil daran und könnte darauf auch keinen Einfluss nehmen.
Entsprechendes gilt für den weiteren generischen Konkurrenten B: Dessen Markteintritt hat die Verfügungsklägerin ebenfalls zu verhindern versucht mit dem einstweiligen Verfügungsantrag im parallelen Rechtsstreit 4c O 49/16, den sie aber zurückgenommen hat. Dies geschah im Rahmen eines Vergleichsschlusses, zu dessen konkretem Inhalt sich die Verfügungsklägerin jedoch nicht erklärt hat. Damit kann auch B ein generisches Produkt, das bereits in der Lauer-Taxe der lieferbaren Fertigarzneimittel aufgeführt ist, ungeachtet des Verfügungszertifikats auf den Markt bringen.
Das Argument der Verfügungsklägerin, der Eintritt eines oder mehrerer weiterer generischer Konkurrenten schaffe auf dem Markt eine Situation, die – verglichen mit dem bereits jetzt bestehenden Wettbewerb mit einem generischen Konkurrenzprodukt – das Risiko eines enormen und nachträglich auch im Wege der Liquidation von Schadensersatz nicht wiedergutzumachenden Schadens begründet, greift nicht durch. Hätte dieses Argument Gültigkeit, dürfte es grundsätzlich keine einstweilige Verfügung in Fällen geben, in denen es bislang noch überhaupt keine generische Konkurrenz gibt. Denn dann müsste sich der das Schutzrecht innehabende Originator jeweils darauf verweisen lassen, dass nicht schon der Markteintritt des ersten Generika-Herstellers das Risiko eines erheblichen Schadens bedeutet, sondern dieses Risiko erst ab dem Markteintritt weiterer Generika-Unternehmer begründet würde.
2.
Dem Rechtsbestand des Verfügungszertifikats stehen erhebliche Zweifel entgegen, so dass es als Grundlage einer Untersagung im einstweiligen Rechtsschutz nicht ge-eignet erscheint.
a)
Es bestehen Zweifel daran, ob das Verfügungszertifikat wirksam, nämlich in Überein-stimmung mit Art. 3 lit. d) der ESZ-VO erteilt worden ist.
aa)
Gemäß Art. 3 der ESZ-VO erfordert die wirksame Erteilung eines ergänzenden Schutz-zertifikats unter anderem zweierlei, nämlich erstens die Beantragung für ein Erzeugnis, das durch ein (im Zeitpunkt der Antragstellung) in Kraft befindliches Grundpatent geschützt ist (Art. 3 lit. a) der ESZ-VO) und zweitens die Anknüpfung an eine arzneimittelrechtliche Genehmigung, die die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses als Arzneimittel ist (Art. 3 lit. d) der ESZ-VO).
Zur Auslegung dieser Vorschriften betreffend die Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats wurden dem EuGH Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt für Fälle, in denen ergänzende Schutzzertifikate beantragt wurden für Impfstoffe, die neben den im Anspruch des Grundpatents genannten Wirkstoffen weitere Wirkstoffe enthielten. Hierzu hat der EuGH entschieden, dass einerseits ein ergänzendes Schutzzertifikat nicht erteilt werden kann für eine Kombination von Wirkstoffen, deren Bestandteile nicht allesamt durch das Grundpatent geschützt sind, während andererseits ein Schutzzertifikat erteilt werden kann, wenn sich der Schutz des Zertifikats auf eine Kombination von im Grundpatent genannten Wirkstoffen beschränkt, das fragliche Arzneimittel indes darüber hinaus weitere Wirkstoffe enthält (EuGH GRUR 2012, 257 – Medeva, Leitsätze). Die insoweit entschiedene Konstellation unterscheidet sich von der vorliegenden, weil erstens das Verfügungszertifikat nur zwei Wirkstoffe schützt, nämlich Abacavir und Lamivudin, die in Anspruch 1 (und ebenso im nebengeordneten Verwendungs-Anspruch 9) des Grundpatents ausdrücklich genannt sind, zweitens das vom Verfügungszertifikat geschützte Erzeugnis auch nur diese beiden Wirkstoffe enthält und drittens die frühere Genehmigung für das Präparat D neben diesen beiden Wirkstoffen noch einen dritten Wirkstoff betraf, nämlich Zidovudin, der allerdings in Anspruch 3 (sowie im nebengeordneten Verwendungs-Anspruch 10) des Grundpatents neben Abacavir und Lamivudin ausdrücklich genannt ist. Somit erwachsen aus der genannten Rechtsprechung des EuGH Zweifel an der wirksamen Erteilung des Verfügungszertifikats.
Denn aus dieser Rechtsprechung dürften sich zwei rechtliche Aspekte mit Bedeutung für den vorliegenden Fall ergeben: Zum einen, dass es für die Erteilung eines Schutz-zertifikats für ein Kombinationspräparat mit mehreren Wirkstoffen darauf ankommt, ob das zugrundeliegende Patent alle in der Kombination enthaltenen Wirkstoffe nicht nur schützt, sondern diese Wirkstoffe auch nennt. Dies hat der EuGH damit begründet, dass das ergänzende Schutzzertifikat mit einheitlicher Wirkung für die gesamte Euro-päische Union erteilt wird, es auf dieser rechtlichen Ebene jedoch kein harmonisiertes Patentrecht gibt, so dass es nicht auf die Schutzbereichsbestimmung nach – nicht har-monisiertem – nationalen Patentrecht ankommt, sondern, enger am Wortlaut der ESZ-VO bleibend, auf die Nennung des Wirkstoffs in den Ansprüchen (EuGH GRUR 2012, 257 – Medeva Tz. 24ff.). Zum anderen folgt aus der genannten Rechtsprechung, dass es auch für Kombinationspräparate für die Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifi-kats immer darauf ankommt, wann für dieses Präparat als „Erzeugnis“ im Sinne der ESZ-VO erstmals eine arzneimittelrechtliche Genehmigung erteilt worden ist.
Vorliegend ist die Dreifachkombination aus Abacavir, Lamivudin und Zidovudin des Medikaments D®, das vor A® mit seiner Zweifachkombination aus Abacavir und Lamivudin genehmigt worden ist, im Grundpatent ausdrücklich erwähnt. Demnach be-stehen erhebliche Zweifel daran, ob die spätere Genehmigung für A® die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen eines grundpatentgemäßen Medikaments war.
Auch aus der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Actavis gegen Sanofi (Rs. C-443/12, Urt. v. 12. Dezember 2013) ergibt sich kein rechtlicher Gesichtspunkt, unter dem sich die Erteilung des Verfügungszertifikats in Anknüpfung an die arzneimittel-rechtlichen Genehmigungen für das Inverkehrbringen von A® als zweifelsfrei rechtmäßig darstellt. Im dort maßgeblichen Fall lag es im Vergleich zum hier streitge-genständlichen umgekehrt: Zu entscheiden war über die Rechtmäßigkeit eines ergän-zenden Schutzzertifikats für ein Kombinationspräparat, nachdem dessen Genehmigung nach derjenigen für ein Monopräparat erteilt worden war und nachdem bereits zuvor ein ergänzendes Schutzzertifikat für eben dieses Monopräparat erteilt worden war. Die Erteilung eines weiteren Schutzzertifikats hat der EuGH als unrechtmäßig beurteilt. Für die vorliegende Fallkonstellation, in der es um das Verfügungszertifikat für ein Medikament mit weniger Wirkstoffen als in der früheren Genehmigung gegenständlich geht (und in der für die früher genehmigte Kombination von mehr Wirkstoffen auch noch kein ergänzendes Schutzzertifikat erteilt worden ist), hat der EuGH gleichwohl bedeutsame Ausführungen gemacht, indem er festgehalten hat (a.a.O., Tz. 42), die Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats ziele nach dem legislativen Zweck der ESZ-VO darauf, den Rückstand eines Patentinhabers in der wirtschaftlichen Verwertung dessen auszugleichen, was den im Grundpatent manifestierten Kern der erfinderischen Tätigkeit ausmacht. Demgegenüber soll die Erteilung von womöglich mehreren Schutzzertifikaten für variierende Kombinationen von grundpatentgemäßen Wirkstoffen durch die ESZ-VO gerade nicht ermöglicht werden, weil dies zu einer vielfach neu einsetzenden Verlängerung eines Ausschließlichkeitsschutzes führen könnte.
Offensichtlich droht diese Gefahr auch in einer Konstellation wie der vorliegenden: Könnte der Inhaber eines Patents, das sowohl eine Dreifach- (Ansprüche 3 und 10 des Grundpatents) als auch eine Zweifach-Kombination (Ansprüche 1 und 9 des Grundpatents ausdrücklich beansprucht, beliebig wählen, ob er ein Schutzzertifikat entweder für die – frühere – arzneimittelrechtliche Genehmigung der Dreifach-Kombination oder für die – spätere – Genehmigung der Zweifach-Kombination anstrebt, wäre die Schutzdauer erstens ersichtlich verlängert und zweitens in bedenklicher Weise in das Belieben des Patentinhabers gestellt.
Ferner hat das Landgericht Düsseldorf in seinen beiden Entscheidungen „Desogestrel“ (Urteile v. 15. November 2012, Az. 4b O 123/12 und 4b O 139/12) keinen Rechtssatz entwickelt, der für den vorliegenden Fall die Bejahung des Rechtsbestands des Verfügungszertifikats so sichert, dass die Bedenken gegen den Rechtsbestand dem Erlass einer einstweiligen Verfügung im Ergebnis nicht entgegenstünden. Erstens hat das Landgericht Düsseldorf insoweit selbstverständlich nicht für sich in Anspruch genommen, über die Auslegung der ESZ-VO verbindlich entscheiden zu können. Zweitens unterschied sich der dort maßgebliche Fall vom vorliegenden in entscheidender Weise dadurch, dass dort der Schutzbereich des Grundpatents auf einen einzigen Wirkstoff beschränkt und nicht für die Kombination dieses einen Wirkstoffs mit anderen offen war. Aus diesem Grunde kam das Landgericht Düsseldorf zum Ergebnis, dass eine frühere Genehmigung, die eine Wirkstoffkombination betraf, keine durchgreifenden Bedenken gegen den Rechts-bestand eines ergänzenden Schutzzertifikats begründen konnte, welches an eine spätere Genehmigung für den Wirkstoff alleine anknüpfte und seinerseits nur das Monopräparat unter Schutz stellte. Vorliegend beansprucht das Grundpatent sowohl die früher genehmigte Dreierkombination wie in D® (Ansprüche 3 und 10 des Grundpatents) als auch die später genehmigte und durch das Verfügungszertifikat unter Schutz gestellte Zweierkombination wie in A® (Ansprüche 1 und 9 des Grundpatents).
bb)
Somit ist nicht gesichert, ob das Verfügungszertifikat, das an die spätere Genehmigung von A® anknüpft und die Zweierkombination von Abacavir und Lamivudin unter Schutz stellt, sich im parallelen Nichtigkeitsverfahren als rechtsbeständig erweisen wird. Mit Blick auf den vorliegenden Verfügungsantrag bestehen immerhin erhebliche Zweifel daran, ob sich auf Grundlage der genannten „Medeva“-Rechtsprechung des EuGH die Frage bejahen lässt, ob das Verfügungszertifikat zu Recht erteilt worden ist. Dass dies immerhin vernünftiger Weise als wahrscheinlich betrachtet werden kann, reicht im Zusammenhang des Eilrechtsschutzes nicht aus. Weil es darum gehen muss, einander widersprechende Entscheidungen zu verhindern, müsste die Kammer zu dem Ergebnis kommen, dass eine den Rechtsbestand des Verfügungszertifikats berührende Entscheidung nicht zu erwarten ist. Hiervon kann die Kammer aber aus den dargelegten Gründen nicht ausgehen.
b)
Es erscheint ferner zweifelhaft, ob der Disclaimer, den die Verfügungsklägerin aufzu-nehmen beabsichtigt, nämlich des Inhalts „mit Ausnahme des Succinat-Salzes von Abacavir und von Solvaten dieses Succinat-Salzes“, überhaupt wirksam und namentlich ohne Verstoß gegen Art. 123 Abs. 2 EPÜ aufgenommen werden kann.
aa)
Nach der Rechtsprechung des EPA, welche durch dessen Große Beschwerdekammer begründet und fortgeführt worden ist, muss die Zulässigkeit von Disclaimern, also der Aufnahme von neuen zusätzlichen, negativ formulierten und damit den Schutzbereich durch Ausnahmen begrenzenden Merkmalen vor dem Hintergrund der Problematik beurteilt werden, dass einerseits Doppelpatentierungen vermieden werden müssen, andererseits der Anmelder schützenswert erscheint, wenn seiner Anmeldung in zufälliger, dem Anmelder nicht zum Vorwurf gereichender Weise neuheitsschädlicher Stand der Technik entgegensteht (EPA Große Beschwerdekammer G 1/03, GRUR Int. 2004, 959, 960f.). Daher sind als Fallgruppen zu unterscheiden einerseits Stand der Technik nach Art. 54 Abs. 2 EPÜ, also prioritätsälterem und vor der Anmeldung öffentlich gewordenem Stand der Technik und andererseits Stand der Technik nach Art. 54 Abs. 3 EPÜ, also älteren Rechten, die auf zwar prioritätsälteren, zum Zeitpunkt der Anmeldung aber noch nicht veröffentlichten Anmeldungen beruhen.
In der letzteren Fallgruppe ist der Anmelder augenscheinlich besonders schützens-wert, weil er den älteren, aber noch nicht veröffentlichten Stand der Technik nicht ken-nen kann; deswegen soll insoweit ein Disclaimer grundsätzlich zulässig sein. In der anderen Fallgruppe, also dem generell prioritätsälteren und zum Zeitpunkt der Anmeldung auch schon veröffentlichten Stand der Technik, muss hingegen dieser Stand der Technik eine zufällige Vorwegnahme in dem Sinne begründen, dass sie unerheblich für die beanspruchte Anmeldung erscheint und der Fachmann als Anmelder sie deswegen nicht berücksichtigt hätte.
In beiden Fallgruppen kommt indes als weiteres Zulässigkeits-Kriterium eines Disclai-mers hinzu, dass seine Aufnahme für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit oder der ausreichenden Offenbarung nicht relevant sein oder werden darf (EPA a.a.O. unter 2.6.1.; vgl. auch Fitzner / Lutz / Bodewig / Müller, Patentrechtskommentar, 4. Aufl., Art. 123 EPÜ Rdn. 171). Dies findet seine Rechtfertigung darin, dass Disclaimer nur insoweit für zulässig gehalten werden, wie sie notwendig sind, sie nämlich ein „zufällig“ im genannten Sinne aufgetretenes Patentierungshindernis der mangelnden Neuheit beseitigen. Soweit sie darüber hinaus die Frage der Erfindungshöhe oder der hinreichenden Offenbarung betreffen, gehen sie über diesen Zweck hinaus und sind dementsprechend unzulässig. Angewandt auf den Sonderfall, dass der Disclaimer zu einer Ausnahme gerade einer in der ursprünglichen Fassung offenbarten Ausführungsform führt, ergeben die so entwickelten Grundsätze, dass es sodann darauf ankommt, ob der nach Aufnahme des Disclaimers verbleibende Gegenstand in der ursprünglichen Anmeldung unmittelbar und eindeutig offenbart ist (EPA Große Beschwerdekammer 2/10, GRUR Int. 2012, 797, 798f.).
Insoweit hat sich in der Rechtsprechung des EPA als wesentliches Merkmal für die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines Disclaimers im Hinblick auf Art. 123 Abs. 2 EPÜ die Frage herausgebildet, in welchem Umfang der Disclaimer ursprünglich als erfindungsgemäß offenbarte Ausführungsbeispiele nachträglich aus dem Schutzbereich herausnimmt. Das erscheint deshalb zustimmungswürdig, weil sich die durch den Disclaimer beschränkte Lehre offensichtlich umso stärker von der ursprünglich offenbarten entfernt, je mehr von dem ursprünglich als erfindungsgemäß Offenbarten durch den Disclaimer nachträglich als nicht erfindungsgemäß vom Schutzbereich ausgenommen wird. Je mehr also die ursprünglich als erfindungsgemäß offenbarten Ausführungsformen durch den Disclaimer vom Schutzbereich ausgenommen werden, desto mehr spricht gegen die Zulässigkeit des Disclaimers. Dies hat das EPA in der Entscheidung G 2/10 klargestellt (GRUR Int 2012, 797, 798 unter 2.3., 3. Absatz):
„Das Hauptproblem der Vereinbarkeit offenbarter Disclaimer mit Art. 123 (2) EPÜ liegt nicht in dem Fall, dass eine einzige spezifische „Ausführungsform” einer Er-findung aus einem breiteren allgemeinen Anspruch ausgeklammert wird. Es ent-steht vielmehr in den Fällen, in denen ein ganzer Bereich oder eine ganze Unter-klasse ausgeklammert wird. Gerade diese Fälle haben Zweifel daran aufkommen lassen, ob der nach Aufnahme eines solchen breiten Disclaimers im Anspruch verbleibende Gegenstand noch derselbe ist wie vormals beansprucht, und so entstand der Gedanke, dass bei der Prüfung, ob die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ erfüllt sind, die Art der im Anspruch verbleibenden Gegenstände beurteilt werden muss. Es liegt auf der Hand, dass die Frage ganz unterschiedlich ausfällt, je nachdem, ob nur eine spezifische Ausführungsform aus einem allgemein abgefassten Anspruch ausgeklammert wird oder eine ganze Untergruppe bzw. ein ganzer Bereich.“
Demnach erscheint auf Grundlage dieser Entscheidungspraxis des EPA ein Disclaimer dann besonders bedenklich, wenn er eine ganze Gruppe von Ausführungsbeispielen oder gar das einzige Ausführungsbeispiel nachträglich vom Schutzbereich ausnimmt.
bb)
Angewandt auf den vorliegenden Fall ergeben sich aus diesen rechtlichen Maßstäben für die Beurteilung eines Disclaimers erhebliche Zweifel an der Rechtsbeständigkeit des Verfügungspatents.
Der Disclaimer, der das Succinat-Salz von Abacavir sowie Solvate dieses Succinat-Salzes vom Schutzbereich ausnehmen soll, entfernt das einzige im Grundpatent genannte Ausführungsbeispiel eines Salzes von Abacavir aus dem Schutzbereich. Der Fachmann, der zum Prioritätszeitpunkt nicht nur die Nennung geeigneter Wirkstoffe an sich, sondern darüber hinaus insbesondere auch die konkrete Verabreichung der Wirkstoffe als bestimmtes Salz oder anderweitiges physiologisch funktionales Derivat sehr ernst genommen haben dürfte, wird in Ansehung der Nennung eines einzigen Ausführungsbeispiels im Grundpatent für eine – pharmakologisch offensichtlich besonders wichtige – Salzform eine andere Vorstellung von der Stoßrichtung und vom Schwerpunkt der technischen Lehre des Grundpatents erhalten haben als von einer technischen Lehre, die genau dieses physiologisch funktionale Derivat ausklammert. Es spricht also einiges dafür, dass der Fachmann aufgrund des Disclaimers dem Grundpatent eine deutlich veränderte technische Lehre entnehmen dürfte, die in dieser Weise gerade nicht ursprünglich offenbart wurde. Damit gibt es konkrete und bedeutsame Anhaltspunkte dafür, dass in der Entscheidung über den Rechtsbestand des Verfügungszertifikats die Aufnahme dieses Disclaimers zur Bejahung eines Verstoßes gegen Art. 123 Abs. 2 EPÜ unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Erweiterung und damit einer Vernichtung oder wenigstens einer Einschränkung des Schutzbereichs in einer für den vorliegenden Rechtsstreit erheblichen Weise führen wird.
c)
Darauf, ob auch die weiteren von der Verfügungsbeklagten geführten Angriffe gegen den Rechtsbestand des Verfügungszertifikats diesen in wesentlicher Weise zweifelhaft erscheinen lassen, kommt es demnach nicht an.
V.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 6, 711 ZPO.